Jazz zwischen Kunst und Kommerz

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  • #9118371  | PERMALINK

    nail75

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    gypsy tail wind Wie rentabel das ist, ist eine andere Frage, grosse Sprünge macht wohl keiner (ausser vielleicht Eicher – ECM ist ja schon eine einzigartige Erfolgsgeschichte), bei den meisten Labeln dürfte die Liebe zur Musik zentral sein, das Anliegen, diesen Musikern einen Outlet zu bieten, und das halt durchzuziehen, solange man finanziell über die Runden kommt.

    Hatology wurde jahrelang von UBS, der Credit Suisse und anderen Schweizer Unternehmen gesponsert. Nach der Finanzkrise wurde das sicher nicht leichter.

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    #9118373  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    nail75Hatology wurde jahrelang von UBS, der Credit Suisse und anderen Schweizer Unternehmen gesponsert. Nach der Finanzkrise wurde das sicher nicht leichter.

    Die Banken und Versicherungen haben sich zu weiten Teilen vom Kultur- ins Sport-Sponsoring abgesetzt* … bei Hat kommt noch dazu, dass es in den 90ern noch regelmässig machbar war, Ko-Produktionen mit WDR, NDR etc. herauszubringen – das scheint seit inzwischen wohl zehn Jahren kaum noch machbar zu sein, weil die verlangten Summen und die ganzen rechtlichen Probleme viel zu gross sind … es kommt noch vor, aber immer seltener (Enja arbeitete ja um 2000 auch regelmässig v.a. mit dem WDR zusammen, ich glaube auch da nahm das ab). Ich weiss nicht mehr genau, was Uehlinger als Ursache dafür nannte, ob es zu ein paar sehr teuren Fällen kam, jedenfalls scheinen die Radio-Stationen da sehr viel widerwilliger mitzumachen. (Bei den Archiv-Aufnahmen sieht das ja anders aus, da bewegt man sich wohl in einem Graubereich, ob Radio-Material PD ist, wenn es vor über 50 Jahren mal gesendet wurde, weiss ich nicht … aber ein Deal mit den Erben reicht da wohl, um alles abzusichern, zudem natürlich die GEMA/SUISA/whatever-Gebühren … das scheint ja, wie man am Beispiel von TCB sieht – auch ein Indie-Label, das ein Musiker gegründet hat übrigens, im Mainstream-Bereich, aber wie es scheint auch recht erfolgreich – machbar zu sein, da tauchen sogar Namen wie Miles und Getz auf und die CDs werden auch ganz regulär auf dem US-Markt verkauft …)

    *) Edit: die lobenswerte Ausnahme ist die ZKB (Zürcher Kantonalbank), die den Club Moods unterstützt

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #163: Neuentdeckungen aus dem Katalog von CTI Records (Teil 2), 13.5., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #9118375  | PERMALINK

    ferry

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    gypsy tail wind Im Pop kommen Dinge hinzu, die im Jazz weniger wichtig sind, denke ich: Songwriting etwa … ich wäre sehr froh, wenn mehr Mainstream-Jazzer der letzten zwei Jahrzehnte Standards gespielt hätte und spielen würden, oder ältere Jazz-Originals – es gibt viel gutes, nie „gecovertes“ Material! – statt dass sie jede CD mit ihren eigenen, oft nichtssagenden Stücken füllen würden ….

    gypsy tail wind
    … denn gerade Standards sind zwar sowas wie eine gemeinsame Sprache im Mainstream-Jazz, aber sie sind eben auch IMMER Cover, es gibt natürlich manche Vorlagen, die sich verfestigt haben (diverse Ahmad Jamal-Arrangements aus den Fünfzigern … Jamal hat auch diverse Standards überhaupt erst etabliert) …. z.B. „Star Eyes“ (damit hat Jamal aber nichts zu tun, da braucht es Bläser) wird seit den 50ern immer gleich gespielt – und ist längst tot (aber nicht alle haben das rechtzeitig gemerkt … und wenn einer es wiederbeleben will, gerne doch, aber MIT EINEM NEUEN ARRANGEMENT!) … oder das klassische „Round Midnight“, das fast immer nach der Columbia-Version von Miles gespielt wird … zudem ist das Fundament im Jazz auch bei Standards viel freier, gerade was die Beats und die Basslinien angeht – man spielt natürlich nach gewissen Regeln (die man auch mal etwas freier interpretieren kann, wenn man es hinkriegt, dass es dennch gut klingt … da gab’s ja kürzlich auch diese Story von Herbie Hancock, der sich erinnerte, wie er mit Miles mal einen völlig falschen Ton spielte und innerlich erstarrte – und wie Miles mühelos etwas anschliessen konnte, das den falscen Ton perfekt auffing und nachträglich „richtig“ machte).

    Hatte Jamal aber von Beginn an ein kommerzielles Interesse? Er hatte ein Interesse daran, die hippsten Arrangements zu kreieren, die nach Tatum oder Garner kamen, er holte sich zwei Musiker (Israel Crosby und Vernell Fournier), von denen er hoffte, dass sie ihm halfen, in die ihm vorschwebende Richtung zu gehen … das ging auf, das Trio hatte unheimlichen Erfolg und war auch musikalische von allererster Güte – Jamal spielte überdies fast nur Standards … und – das ist wohl eins der Rezepte zum Erfolg – bei aller Hipness und Ausgespaartheit seines Spiels: er spielte sie so, dass die Themen erkennbar blieben. Das ist dann auch eine gemeinsame Sprache mit dem Publikum … aber auch die wurde seit dem Bebop unterlaufen – von den Musikern selbst, von den besten der jüngeren Generation, von denen, die wiederum für unzählige andere Musiker zum Vorbild wurden …

    Ich habe mal einige Zitate von Dir rausgesucht, weil ich Deine Meinung zum Thema Standards auch interessant finde.
    Die künstlerische Leistung in der Popmusik besteht ja zu einem guten Teil auch im Songwriting, und in der Jazzmusik ist das nicht der Fall? Mir als Hörer von überwiegend Pop- und Rockmusik ist eigenes wiedererkennbares Songmaterial und Melodie schon sehr wichtig. Deshalb habe da auch manchmal beim Jazz so meine Probleme, wenn bei langen Improvisationen das Thema des Stücks irgendwann in so weite Ferne gerückt ist, dass man gar keinen roten Faden mehr hat.
    Wenn also eher das Arrangement und vor allem die Improvisation beim Jazz im Vordergrund stehen, dann kann man wohl auch künstlerische Leistungen von Popmusik und Jazzmusik nur sehr eingeschränkt vergleichen.

    Zum Thema Standards müsste hier auch mal ein eigener Thread aufgemacht werden !

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    life is a dream[/SIZE]
    #9118377  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Interessante Frage … so weit vom Thema weg führt das vielleicht nicht einmal, da der „Bruch“ in der Jazzgeschichte, der Wechsel von der Tanzfläche hinüber zum sitzenden, lauschenden Publikum, ja irgendwie auch einher fällt mit dem Rückgang (noch nicht gleich dem Verschwinden) der „Standards“.

    Dass die Melodie wichtig ist … nunja, bei gewissen Jazz-Spielweisen mehr als bei anderen, bei allem, was im weitesten Sinne in die „grosse Tradition“ gehört, auf jeden Fall. Aber ist die Melodie bei Songs wichtig? Bei Standards gewiss, deren Besonderheit ist doch gerade die kongeniale Verflechtung von Text und Musik, die musikalische Umsetzung von Sprache, die den Text im ihm sprachlich eigenen Rhythmus dahinfliessen lässt. Aber in der Rock-Musik der sechziger änderte sich das Verhältnis völlig, die Sprache wird misshandelt, es werden Silben zerdehnt oder verschluckt … die Expression übernimmt eine zentrale Rolle, Sophistication ist nur in eher seltenen Fällen noch gefragt – wenigstens im grossen Ganzen, in der Tendenz.

    Im Jazz spielt das alles im engeren Sinn keine grosse Rolle – man hört zwar immer wieder, dass man die „lyrics“ kennen soll … davon bin ich auch ein Verfechter, wenn es darum geht, Standards zu spielen (ich habe mir als Teenager zu zahlreichen Standards die Texte ins Real Book gekritzelt … nicht dass das in meinem Fall besonders viel genutzt hätte). Aber im instrumentalen Jazz … was ist ein gutes Stück? Es geht da ja doch meist eher um „Tunes“ denn um „Songs“ … und klar, Wiki gibt als ersten Link zum Schlagwort „Tune“ auch „A melody“ an (das Wort kommt natürlich von „ton“, „tonus“, „tonos“).

    Was nun eine gute Melodie Ausmacht, ein gutes „tune“? Die Kombination von Tönen und Rhythmus, die in der Wahrnehmung zu einer Einheit verschmilzt … aber solche Beschreibungen können ja nicht ansatzweise erfassen, wie das erlebt wird, was beim Hören abgeht. Da geht die Wahrnehmung natürlich auch weit auseinander … einer findet die „tunes“ von Monk genial, der andere hält sich für sperrig und findet keinen Zugang. Was dem einen sein grösstes Glück, hält der andere für gar süffig oder gar für Kitsch oder billige Ranschmeisse … im Jazz lässt sich bekanntlich viel über das „Wie“ (im Gegensatz zum „Was“) erreichen. Billie Holiday machte in den Dreissigerjahren aus manchem drittklassigen Song (die wirklich erstklassigen durfte sie lange nicht singen) ein kleines Juwel … Michael Moore und seinem Trio Jewels and Binocchulars gelingt das Kunststück, aus Dylan-Songs gute Jazz-Tunes zu machen – obwohl die Vorlagen doch melodisch oft wenig hergeben (ein gescheitertest Beispiel ist für mich Stanley Turrentines „Blowin‘ the Wind“, das ist einfach nur langweilig und rhythmisch steif … das ist übrigens auch der Vorwurf, den ich „As Time Goes By“ mache, dem drittklassigen Song, der nur durch „Casablanca“ zum Klassiker wurde).

    Was den „roten Faden“ betrifft … der wird ja in den allermeisten Fällen durch die Struktur (die „Changes“) vorgegeben, die dem Musiker einen Rahmen stecken, nachdem er gemäss seiner Kenntnis der Regeln vorgehen kann. In einem C-Dur-Akkord kann ich ein fis spielen, wenn ich danach direkt aufs G rutsche, aber wenn ich auf dem fis hockenbleibe, wird sich manch einer bald die Ohren reiben. Freiheiten, „licenses“ sagt man dazu manchmal, soweit ich weiss, kann man sich nehmen … man kann das fis am Ende des C-Dur-Akkordes spielen und im folgende F-Dur-Akkord auf ein F wechseln und die Spannung auflösen oder sowas … man kann auch chromatische Läufe spielen, wenn der Anfangston oder v.a. der Endton irgendwie in den Akkord passen (wenn der Bassist oder der Pianist sich aber zugleich auch eine Freiheit herausnimmt, kann das auch mal zu Reibungen führen … so gibt es auch Pianisten, die quasi als einengend empfunden werden … oder welche, die tolle Anstösse geben, die quasi neue Räume öffnen). Dass einer die Melodie als zentrales Element der Improvisation verwendet, quasi motivisch vorgeht, ist vergleichsweise viel seltener. Sonny Rollins war und ist einer der allergrössten Meister darin (wie heisst dieses eine Stück auf „Saxophone Colossus“, da macht er das exemplarisch – und natürlich auch so, dass es sich mit den ebenfalls laufenden „changes“ nicht beisst: „Blue 7“ oder „Blue Seven“, der lange Closer … ein Blues, da sind die „changes“ auch reduzierter). Im modalen Jazz wird die Melodie ebenfalls sehr viel bedeutsamer, da die „changes“ entfallen oder stark reduziert werden und die Vorgaben eine grosse Freiheit erlauben – die aber umgekehrt auch zu grosser Leistung auffordern, denn der Freiraum muss kreativ gefüllt werden, Autopilot durch die „changes“ geht, aber Autopilot in einem modalen Stück führt rasch zu Langweile. In diesem Sinne ist das Einfache eben auch das Schwierige, die Freiheit eine Verantwortung.

    Dann gibt es natürlich auch die Musiker, die in ihren Soli Linien von solcher Prägnanz finden, dass man von „instant composing“ spricht. Stan Getz ist einer, dem das immer wieder gelingt, es gibt da auch Musiker aus der Swing-Ära, die diese Kunst beherrschten – bzw. die manchmal die Gabe oder Eingebung hatten. Und schliesslich gibt es jene Musiker, die eigentlich gar nicht zu solieren brauchen, denen die Präsentation eines Themas mit – oftmals minimalen – Verzierungen oder Veränderungen … und unmissverständlich ist das Jazz. Da geht es dann um die Kunst der Phrasierung … man nehme Louis Armstrong oder Jack Teagarden, die konnten Abend für Abend dieselben Stücke spielen und doch ist ihre Meisterschaft stets zu spüren (klar, manch einer findet das reicht nicht, langweilt sich … aber mich schmerzt es, sowas zu hören).

    Und zuletzt, am Ende dieser doch sehr losen Überlegungen und Abschweifungen, möchte ich noch eine Lanze brechen für einen der grössten Songwriter, einen der ersten richtigen Singer/Songwriter und zugleich einen grossartigen „tune-smith“: Howard Hoagland „Hoagy“ Carmichael, den Mitstreiter und Freund von Bix Beiderbecke, der mit zahlreichen grossen Jazzern gespielt und phantastische Songs geschrieben hat: „Rockin‘ Chair“, „Two Sleepy People“, „Skylark“, „Baltimore Oriole“, „Stardust“, „Lazy River“, „Lazy Bones“, „The Nearness of You“, „I Get Along Without You Very Well“, „Georgia on My Mind“ …


    Hoagy begleitet am Klavier Lauren Bacall, die sein „How Little We Know“ singt (aus Howard Hawks‘ „To Have and Have Not“ von 1946, einer Adaption von Hemingways gleichnamiger Erzählung)

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #163: Neuentdeckungen aus dem Katalog von CTI Records (Teil 2), 13.5., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #9118379  | PERMALINK

    gruenschnabel

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    Den roten Faden suche ich auch zuweilen. Und das hängt für mich gar nicht mal so sehr davon ab, ob straffe Changes vorhanden sind oder freiere – meinetwegen modale – Strukturen. Ich mache ähnliche Erfahrungen wie Ferry, wenn es um längere Solos geht. Manchmal habe ich den Eindruck, dass es im Jazz nur wenig Bewusstsein für den inneren Aufbau solcher Solos gibt – bzw. dass es darum eigentlich kaum geht.
    Ich erlebe es recht häufig, dass ich nach 5,6,7 Minuten eines Jazztunes abschalte, mich nur noch volldüdeln lasse, aber keinerlei „Gestalten“ in der Musik mehr wahrnehme und die Musik im Nachhinein demnach auch nicht mehr erinnere.
    Und das passiert mir umso häufiger, je länger die Solos werden, da ich in ihnen keinen Bogen mehr wahrnehme, sondern – überspitzt – ein willkürlich ausgedehntes Gedudel.
    Ich nehme weiterhin an, dass mir da ein emotionales Fenster fehlt oder dass dieses einfach nicht geöffnet ist. Aber was viele Jazzhörer wohl als begeisternde musikalische Spontaneität und Freiheit empfinden, verkommt in meinen Ohren eben recht häufig zur Beliebigkeit – wenn ich den Eindruck habe, da spielt jemand z.B. einen sechsten, einen siebten, einen achten und neunten Chorus und es nur noch eine improvisierte Reihung ist statt eines gestalteten „roten Fadens“. Wenn ein Stück den Eindruck macht, es könne statt 12 Minuten ebenso gut 18 oder 6 Minuten dauern. Hängt halt gerade womöglich nur von der Laune und Willkür der Solisten ab.
    Popästhetik lebt natürlich auch grundsätzlich von Reihungen (im Wesentlichen von Str. und Refr.), die Proportionen – wenn sie denn einigermaßen gelungen sind – machen meinen Ohren aber überhaupt keine Mühe. Das ist im Jazz häufig anders.
    Trotzdem weckt Jazz momentan meine größte Begierde. Er lockt mich ganz gewaltig, weil es eben auch andere große Reize gibt, die mich dann wieder bei der Stange halten.
    Und ich mache, glaube ich, zur Zeit mehr oder weniger bewusst Versuche, meinen Sinn für Formgestaltung auf seine Veränderbarkeit hin zu testen.
    So, leider führt mein Posting jetzt wohl endgültig ins Offtopicgebiet. Tut mir begrenzt leid.

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    #9118381  | PERMALINK

    redbeansandrice

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    ganz naiv würd ich das „endlose Soli, die an gar nichts als an technischen Raffinessen zu hängen scheinen“ – Phänomen eher an zu schwachen Kompositionen (Tunes) mit möglicherweise interessanten Changes festmachen, als an mangelndem Willen zum selber Komponieren

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    #9118383  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Oder an mangelndem Konzentrationswillen des Zuhörers :-)

    Man hört solche Vorwürfe ja auch an Coltrane gerichtet … da hört bei mir das Spass dann auf. Aber dass man dafür vielleicht etwas länger braucht (und für Free Jazz noch etwas länger … und vielleicht noch länger für den Jazz der Zwanziger, in dem es kesselt und rumpelt, dass es seine Freude ist – aber auch für heutige Ohren noch ungewohnteres Erklingen mag als in der Avantgarde der Sechziger und Siebziger) – gekauft. Das sind die Dinge, die sich gewiss nicht erzwingen lassen … aber wenn die Faszination vorhanden ist, sind die Voraussetzungen sicher schon mal gut.

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    #9118385  | PERMALINK

    gruenschnabel

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    redbeansandriceganz naiv würd ich das „endlose Soli, die an gar nichts als an technischen Raffinessen zu hängen scheinen“ – Phänomen eher an zu schwachen Kompositionen (Tunes) mit möglicherweise interessanten Changes festmachen, als an mangelndem Willen zum selber Komponieren

    Könntest du das womöglich an (möglichst bekannten) Beispielen mal veranschaulichen? Ich bin mir nicht sicher, ob ich das verstanden habe.

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    #9118387  | PERMALINK

    gruenschnabel

    Registriert seit: 19.01.2013

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    gypsy tail windOder an mangelndem Konzentrationswillen des Zuhörers :-)

    Man hört solche Vorwürfe ja auch an Coltrane gerichtet … da hört bei mir das Spass dann auf. Aber dass man dafür vielleicht etwas länger braucht (und für Free Jazz noch etwas länger … und vielleicht noch länger für den Jazz der Zwanziger, in dem es kesselt und rumpelt, dass es seine Freude ist – aber auch für heutige Ohren noch ungewohnteres Erklingen mag als in der Avantgarde der Sechziger und Siebziger) – gekauft. Das sind die Dinge, die sich gewiss nicht erzwingen lassen … aber wenn die Faszination vorhanden ist, sind die Voraussetzungen sicher schon mal gut.

    Zum Stichwort „Konzentrationswillen“: Ich merke durchaus, dass Müdigkeit bei mir da ein Thema ist. Ich höre mir ganz bewusst z.B. kürzere Tunes an, wenn ich eher angemüdet bin. Und wenn ich richtig kaputt oder müde bin, dann sind eh nur noch entweder mir ganz geläufige Stücke drin und dann vor allem auch grundsätzlich eher Rockmusik. Fordert mich geistig kaum und geht voll auf’s vegetative Nervensystem.
    Zu Coltrane: Ich weiß, dass mir selbst auf „A love supreme“ nicht alle Solos fesselnd genug aufgebaut sind, obwohl die ja gar nicht sooooooooo lang sind. Von daher ist da wohl in der Tat Schluss mit lustig.

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    #9118389  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Ach so … andererseits wurden ja die Formen (Changes/Chorusse) auch wegen der Beliebigkeit bzw. weil sie halt irgendwie ausgeschöpft waren, aufgebrochen … deshalb war ja „Kind of Blue“ die grosse Offenbarung. Das hat allerdings alles keine zwingende Korrelation zu der Abstraktion oder Länge oder subjektiven Sinnhaftigkeit eines Solos … vermutlich gibt es von Coltrane schon 1957 mehr, das viele Hörer verstört als von Miles 1959/60 – obwohl letztere Aufnahmen musikalisch um Welten „offener“ gestaltet sind.

    Letztlich ist auch das alles wieder eine Frage von Erwartungen und von individueller Wahrnehmung. Dem einen geht es um die möglichst raffinierte Auslegung der „changes“, dem anderen um die Sanglichkeit der Linie, die Melodie, dem dritten um die rohe Expression von Emotionen, dem vierten um die Sublimierung des Unmittelbaren …

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    #9118391  | PERMALINK

    soulpope
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    gypsy tail wind Letztlich ist auch das alles wieder eine Frage von Erwartungen und von individueller Wahrnehmung.

    JA…..und um die sich verändernden Präferenzen………..

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      "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
    #9118393  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Klar, und die hängen wiederum mit der eigenen Entwicklung zusammen … ich hörte zum Beispiel zuerst von Coltrane fast nur die Atlantic-Aufnahmen, vermehrt Prestige-Aufnahmen und nur einzelnes aus den Impulse-Jahren bis 1964 – wobei es „Live! at the Village Vanguard“ war, die mir den Zugang zum „reifen“ und „späten“ Coltrane eröffnete – gerade „Chasin‘ the Trane“ ist doch in seiner vollen Länge ein absolut bezwingendes Stück Musik! Allmählich öffneten sich mir dann auch Zugänge zum freien Coltrane (u.a. via „Sun Ship“, das weiterhin eins meiner liebsten Coltrane-Alben ist, auch via „Interstellar Space“, das wieder lange, äusserst intensive Soli enthält), zu Cecil Taylor, Albert Ayler (via die vierzigminütige „Fables of Faubus“-Version Mingus‘ auf den Enja-Alben).

    Ich glaube, es stimmt mich trauriger, wenn jemand sagt: „da ist für mich Schluss“, als wenn jemand sagt: der späte Coltrane fasert aus und hat keine Linie und packt mich nicht … denn letzteres kann sich ändern, aber wenn Schluss ist, ist eben Schluss, ob weitere Versuche erfolgen höchst fraglich. In anderen Worten, heute ist irgendwo Schluss, morgen auch, übermorgen ebenso, aber hoffentlich ist das stets an einem ganz anderen Punkt!

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    #9118395  | PERMALINK

    ferry

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    Interessante Gedanken von Dir zum Thema Standards, Melodie und Improvisation, gypsy. Und doch eigentlich gar nicht so sehr off-Topic. Denn es bestehen ja auch Zusammenhänge zwischen dem kommerziellen Potential und der Länge von Improvisationen, eingängiger Melodie etc. Der Vorwurf der Kommerzialität sollte im Jazz deshalb ja eigentlich gar kein grosses Thema sein.

    gypsy tail wind… Dass einer die Melodie als zentrales Element der Improvisation verwendet, quasi motivisch vorgeht, ist vergleichsweise viel seltener.

    gypsy tail wind
    Letztlich ist auch das alles wieder eine Frage von Erwartungen und von individueller Wahrnehmung. Dem einen geht es um die möglichst raffinierte Auslegung der „changes“, dem anderen um die Sanglichkeit der Linie, die Melodie, dem dritten um die rohe Expression von Emotionen, dem vierten um die Sublimierung des Unmittelbaren …

    grünschnabel
    Und ich mache, glaube ich, zur Zeit mehr oder weniger bewusst Versuche, meinen Sinn für Formgestaltung auf seine Veränderbarkeit hin zu testen.

    Wenn die originären Ideen des (modernen) Jazz eben das Aufbrechen von Formen und Hörgewohnheiten, Expression von Emotionen usw. ist kann das mit kommerziellen Absichten ja eigentlich gar nichts zu tun haben. Der Wunsch des Pop- Hörers nach einfachen musikalischen Formen, eingängiger Melodie wird mehr oder weniger nicht erfüllt.

    Und was mir zum Thema auch noch eingefallen ist: Viele der Jazz- Standards stammen ja aus Broadway- Musicals der Zwanziger- und Dreissiger- Jahre. Es handelt sich um Kompositionen mit klar kommerziellem Hintergrund, aber von hoher Qualität. Also eigentlich ein gutes Beispiel, dass Kommerz und künstlerische Qualität kein Widerspruch sein muss.

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    #9118397  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    ferryUnd was mir zum Thema auch noch eingefallen ist: Viele der Jazz- Standards stammen ja aus Broadway- Musicals der Zwanziger- und Dreissiger- Jahre. Es handelt sich um Kompositionen mit klar kommerziellem Hintergrund, aber von hoher Qualität. Also eigentlich ein gutes Beispiel, dass Kommerz und künstlerische Qualität kein Widerspruch sein muss.

    Auf jeden Fall! – Aber wie gesagt, mit den Wandlungen der Pop-Musik hat sich das stark verändert … a bygone era.

    Das setzt ja wohl schon in den Vierzigern ein, mit dem Aukommen des Rhythm & Blues … Dinah Washington sang nicht mehr über Napoleon und Delila sondern über den äh, ja, Fernseher ;-): „He turned my dial to channel two / That station thrilled me through and through / He moved one notch to channel three / I said oh how I love what you’re doin‘ to me / He said, wait a minute, let’s try channel four / Just about that time someone knocked on the door“

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    #9118399  | PERMALINK

    nicht_vom_forum

    Registriert seit: 18.01.2009

    Beiträge: 6,438

    ferryWenn die originären Ideen des (modernen) Jazz eben das Aufbrechen von Formen und Hörgewohnheiten, Expression von Emotionen usw. ist kann das mit kommerziellen Absichten ja eigentlich gar nichts zu tun haben. Der Wunsch des Pop- Hörers nach einfachen musikalischen Formen, eingängiger Melodie wird mehr oder weniger nicht erfüllt.

    Und was mir zum Thema auch noch eingefallen ist: Viele der Jazz- Standards stammen ja aus Broadway- Musicals der Zwanziger- und Dreissiger- Jahre. Es handelt sich um Kompositionen mit klar kommerziellem Hintergrund, aber von hoher Qualität. Also eigentlich ein gutes Beispiel, dass Kommerz und künstlerische Qualität kein Widerspruch sein muss.

    Insbesondere sind natürlich Kommerz und handwerkliche (in diesem Fall kompositorische) Qualität kein Widerspruch. Standards waren ja (auch) dafür gedacht, von möglichst vielen Orchestern und Gruppen live gespielt zu werden. Je mehr dann (m. E. ist es kein Zufall, dass diese Entwicklung zeitlich mit der steigenden Verbreitung von Tonträgern korreliert) die einzelne Aufführung in den Vordergrund rückte (sei es live oder auf Tonträger), desto mehr wurden individuelle Aspekte wichtiger, was sich in der Pop-/Rockmusik eher durch ausgefeiltere Produktion und im Jazz eher durch freiere Formen äußerte.

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    Reality is that which, when you stop believing in it, doesn't go away.  Reality denied comes back to haunt. Philip K. Dick
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