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Interessante Frage … so weit vom Thema weg führt das vielleicht nicht einmal, da der „Bruch“ in der Jazzgeschichte, der Wechsel von der Tanzfläche hinüber zum sitzenden, lauschenden Publikum, ja irgendwie auch einher fällt mit dem Rückgang (noch nicht gleich dem Verschwinden) der „Standards“.
Dass die Melodie wichtig ist … nunja, bei gewissen Jazz-Spielweisen mehr als bei anderen, bei allem, was im weitesten Sinne in die „grosse Tradition“ gehört, auf jeden Fall. Aber ist die Melodie bei Songs wichtig? Bei Standards gewiss, deren Besonderheit ist doch gerade die kongeniale Verflechtung von Text und Musik, die musikalische Umsetzung von Sprache, die den Text im ihm sprachlich eigenen Rhythmus dahinfliessen lässt. Aber in der Rock-Musik der sechziger änderte sich das Verhältnis völlig, die Sprache wird misshandelt, es werden Silben zerdehnt oder verschluckt … die Expression übernimmt eine zentrale Rolle, Sophistication ist nur in eher seltenen Fällen noch gefragt – wenigstens im grossen Ganzen, in der Tendenz.
Im Jazz spielt das alles im engeren Sinn keine grosse Rolle – man hört zwar immer wieder, dass man die „lyrics“ kennen soll … davon bin ich auch ein Verfechter, wenn es darum geht, Standards zu spielen (ich habe mir als Teenager zu zahlreichen Standards die Texte ins Real Book gekritzelt … nicht dass das in meinem Fall besonders viel genutzt hätte). Aber im instrumentalen Jazz … was ist ein gutes Stück? Es geht da ja doch meist eher um „Tunes“ denn um „Songs“ … und klar, Wiki gibt als ersten Link zum Schlagwort „Tune“ auch „A melody“ an (das Wort kommt natürlich von „ton“, „tonus“, „tonos“).
Was nun eine gute Melodie Ausmacht, ein gutes „tune“? Die Kombination von Tönen und Rhythmus, die in der Wahrnehmung zu einer Einheit verschmilzt … aber solche Beschreibungen können ja nicht ansatzweise erfassen, wie das erlebt wird, was beim Hören abgeht. Da geht die Wahrnehmung natürlich auch weit auseinander … einer findet die „tunes“ von Monk genial, der andere hält sich für sperrig und findet keinen Zugang. Was dem einen sein grösstes Glück, hält der andere für gar süffig oder gar für Kitsch oder billige Ranschmeisse … im Jazz lässt sich bekanntlich viel über das „Wie“ (im Gegensatz zum „Was“) erreichen. Billie Holiday machte in den Dreissigerjahren aus manchem drittklassigen Song (die wirklich erstklassigen durfte sie lange nicht singen) ein kleines Juwel … Michael Moore und seinem Trio Jewels and Binocchulars gelingt das Kunststück, aus Dylan-Songs gute Jazz-Tunes zu machen – obwohl die Vorlagen doch melodisch oft wenig hergeben (ein gescheitertest Beispiel ist für mich Stanley Turrentines „Blowin‘ the Wind“, das ist einfach nur langweilig und rhythmisch steif … das ist übrigens auch der Vorwurf, den ich „As Time Goes By“ mache, dem drittklassigen Song, der nur durch „Casablanca“ zum Klassiker wurde).
Was den „roten Faden“ betrifft … der wird ja in den allermeisten Fällen durch die Struktur (die „Changes“) vorgegeben, die dem Musiker einen Rahmen stecken, nachdem er gemäss seiner Kenntnis der Regeln vorgehen kann. In einem C-Dur-Akkord kann ich ein fis spielen, wenn ich danach direkt aufs G rutsche, aber wenn ich auf dem fis hockenbleibe, wird sich manch einer bald die Ohren reiben. Freiheiten, „licenses“ sagt man dazu manchmal, soweit ich weiss, kann man sich nehmen … man kann das fis am Ende des C-Dur-Akkordes spielen und im folgende F-Dur-Akkord auf ein F wechseln und die Spannung auflösen oder sowas … man kann auch chromatische Läufe spielen, wenn der Anfangston oder v.a. der Endton irgendwie in den Akkord passen (wenn der Bassist oder der Pianist sich aber zugleich auch eine Freiheit herausnimmt, kann das auch mal zu Reibungen führen … so gibt es auch Pianisten, die quasi als einengend empfunden werden … oder welche, die tolle Anstösse geben, die quasi neue Räume öffnen). Dass einer die Melodie als zentrales Element der Improvisation verwendet, quasi motivisch vorgeht, ist vergleichsweise viel seltener. Sonny Rollins war und ist einer der allergrössten Meister darin (wie heisst dieses eine Stück auf „Saxophone Colossus“, da macht er das exemplarisch – und natürlich auch so, dass es sich mit den ebenfalls laufenden „changes“ nicht beisst: „Blue 7“ oder „Blue Seven“, der lange Closer … ein Blues, da sind die „changes“ auch reduzierter). Im modalen Jazz wird die Melodie ebenfalls sehr viel bedeutsamer, da die „changes“ entfallen oder stark reduziert werden und die Vorgaben eine grosse Freiheit erlauben – die aber umgekehrt auch zu grosser Leistung auffordern, denn der Freiraum muss kreativ gefüllt werden, Autopilot durch die „changes“ geht, aber Autopilot in einem modalen Stück führt rasch zu Langweile. In diesem Sinne ist das Einfache eben auch das Schwierige, die Freiheit eine Verantwortung.
Dann gibt es natürlich auch die Musiker, die in ihren Soli Linien von solcher Prägnanz finden, dass man von „instant composing“ spricht. Stan Getz ist einer, dem das immer wieder gelingt, es gibt da auch Musiker aus der Swing-Ära, die diese Kunst beherrschten – bzw. die manchmal die Gabe oder Eingebung hatten. Und schliesslich gibt es jene Musiker, die eigentlich gar nicht zu solieren brauchen, denen die Präsentation eines Themas mit – oftmals minimalen – Verzierungen oder Veränderungen … und unmissverständlich ist das Jazz. Da geht es dann um die Kunst der Phrasierung … man nehme Louis Armstrong oder Jack Teagarden, die konnten Abend für Abend dieselben Stücke spielen und doch ist ihre Meisterschaft stets zu spüren (klar, manch einer findet das reicht nicht, langweilt sich … aber mich schmerzt es, sowas zu hören).
Und zuletzt, am Ende dieser doch sehr losen Überlegungen und Abschweifungen, möchte ich noch eine Lanze brechen für einen der grössten Songwriter, einen der ersten richtigen Singer/Songwriter und zugleich einen grossartigen „tune-smith“: Howard Hoagland „Hoagy“ Carmichael, den Mitstreiter und Freund von Bix Beiderbecke, der mit zahlreichen grossen Jazzern gespielt und phantastische Songs geschrieben hat: „Rockin‘ Chair“, „Two Sleepy People“, „Skylark“, „Baltimore Oriole“, „Stardust“, „Lazy River“, „Lazy Bones“, „The Nearness of You“, „I Get Along Without You Very Well“, „Georgia on My Mind“ …
Hoagy begleitet am Klavier Lauren Bacall, die sein „How Little We Know“ singt (aus Howard Hawks‘ „To Have and Have Not“ von 1946, einer Adaption von Hemingways gleichnamiger Erzählung)
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #163: Neuentdeckungen aus dem Katalog von CTI Records (Teil 2), 13.5., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba