Enja Records

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    gypsy-tail-wind
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    John Stubblefield – Countin‘ On the Blues | Auch das nächste Album liegt erst seit zwei Wochen hier und lief die letzten Tage schon vier oder fünf mal. Und auch es stammt von einem starken Tenoraxophonisten, bei dessen Alben das „würd ich gerne mehr mögen“-Phänomen viel stärker ausgeprägt ist als bei Pepper. Und auch hier: das neu angeschaffte Album verschafft da recht grosse Abhilfe. Am 27. und 28. Mai 1987 von David Baker in den A & R Studios in New York aufgenommen sieht sein zweites Album für Enja auf dem Papier vielleicht weniger konservativ aus als das sechs Jahre später eingespielte „Morning Song“, doch während dieses sich trotz der Besetzung als gar zu bunter Gemischtwarenladen entpuppt, geht es hier zur Sache. Hamiet Bluiett am Barisax sekundiert dem Leader (Sopran und Tenor sowie Yamaha DX7 Synthesizer), Mulgrew Miller, Charnett Moffett und Victor Lewis sorgen für die passende Begleitung, eher dunkel schattiert, wie bei Pepper selten einfach im walkenden 4/4, zugleich erdenschwer und dank Lewis auch sehr leicht und behende wirkend. Es gibt hier Musik aus dem Coltrane/Tyner-Kontinuum, weit ausgreifende Vamps, Bass-Ostinati, Rumpel-Drums – und darüber heben die Bläser ab, Stubblefield an beiden seinen Saxophonen. Bluiett erweist sich – wenig überraschend – als perfekter Partner, kernig, dunkel und sowohl zum singenden Sopransax und dem ebenso kernigen Tenorsax des Leaders hervorragend passend. In der Mitte ist das Album irre gut, finde ich – „Going Home“ und „Montauk“ sind jedenfalls Highlights hier. Das Album ist sehr gut programmiert: wuchtiger Opener, leichtere Nummer (mit Lewis an den Besen, sehr toll), zweimal spiritual vamp heaven, dann gibt es eine Ballade, „My Ideal“, präsentiert im Duo mit Miller und einem angedeuteten, etwas altmodischen Two-Beat-Touch – und tollem Tenorsax vom Leader, wirklich schön. Die LP endet dann mit dem stompenden Titeltrack (Bluiett! Stubblefield! Miller und die Rhythmusgruppe!), auf der CD gibt es noch das kurze „The Wanderer“ als Nachgedanke – den ich mit Synthesizer, Piano-Gefrickel, federndem E-Bass, platten Plasticdrums und Sopransax hier leider als überflüssige Störung empfinde, nachdem das bis hierhin ein wirklich geschlossenens, überzeugendes Album ist.

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    #12314863  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Gust William Tsilis – Pale Fire | Das nächste Album, das seit ca. zwei Wochen da ist und seit Tagen immer mal wieder in den Player geht – vielleicht das Album, das der quasi zugekaufte Stargast Arthur Blythe als Labeldebüt hätte machen sollen. Aber das wäre „Pale Fire“ gegenüber unfair, denn Tsilis („pronounced Chill-us“ steht in den Liner Notes) ist sein eigener Mann. Er war damals 31 Jahre alt und spielte seit sechs Jahren hauptsächlich Vibraphon (davor Percussion). Zu seiner Band gehören der Pianist Allen Farnham (auch etwas Synthesizer), Anthony Cox am Kontrabass, der Veteran Horacee Arnold (mit Jahrgang 1937 nochmal drei Jahre älter als Blythe) am Schlagzeug und Arto Tuncboyaci an Percussion. Vom Stargast stammt der OPener „Sister Daisy“, bewegt-zerklüftet mit wuchtigem Sax-Solo. Die übrigen Stücke stammen alle von Tsilis, es gibt viele Ostinato-Figuren, prominente Percussion (auch die Dumbek ist zu hören), spezielle Tonleitern (die byzantinische in „Insipid“, viel mehr als die Tonleiter in Auszügen zu spielen tut Blythe hier dann auch gar nicht, aber das passt sehr gut), ungrade Metren … dabei ist das ein tolles, in sich völlig stimmiges, total zugängliches Album, zu dem die „exotischen“ Aspekte natürlich beitragen, aber nicht dominieren. Die Band klingt super eingespielt, manövriert völlig entspannt durch das Material. Wenn Blythe sich in der ungewohnten Skala zurückhält und in „Bathsheba“ nur im Thema spielt, so ist er in „Smokey & Ruby“, dem Closer der ersten LP-Seite, nochmal sehr präsent: im Duo mit Tsilis nämlich, was sehr schön klingt.

    Die zweite Hälfte öffnet mit „La Indomable (for Susanna)“, einer träge swingenden Riff-Ballade – den Liner Notes ist zu entnehmen, dass Tsilis ca. dreissig Sekunden benötigt habe, um das Stück zu komponieren. Das Ergebnis gibt ihm allerdings recht: schöne Stimmung, tolle Beiträge von den Vibes und dem Sax, starker Auftritt von Cox auch, der sowieso beim mässig geglückten Sound der Produktion mit seinem tiefen Bass wichtig ist. Dann folgt das Opus Magnum, der viertelstündige Titeltrack, eine mehrteilige Suite, benannt nach Nabakovs Roman. Gene Kalbacher schreibt in den Liner Notes, „atmospheric-yet-dense piece in long form, the epic title track is a symphonic work with four movements and an equal number of dynamic swells and shifts.“ – Tuncboyaci trägt hier verschiedenste Sounds bei, Farnham greift im Intro nochmal zum Synthesizer, Arnold spielt auch mal einen Backbeat und überhaupt toll, Blythe kriegt ein langes Solo – es gibt hier Verdichtungen fast bis zu Clustern, Störmanöver, Unterbrüche, Neuanfänge, Sphärisches zum Handgreiflichen … vielleicht will Tsilis hier etwas zu viel, aber unterm Strich finde ich das ein echt starkes Album und – weil unerwartet – eine sehr schöne Überraschung.

    Die Aufnahme klingt allerdings ziemlich tot – das bessert sich etwas, wenn man ordentlich aufdreht und Blythes brennende Sax im Klangbild nach vorn tritt. Bruce Purse hat produziert, Gene Paul im Master Sound in Astoria, NY aufgenommen, als Daten finde ich beim Discogs-Eintrag zur LP „November 1986 and February 1987“, vielleicht November 1986 für die Aufnahme und Februar 1987 für den Mix, der im selben Studio ebenfalls von Paul erstellt wurde. Für sich genommen klingt vieles schon gut, nicht nur Blythe und ganz besonders die Vibes des Leaders sondern z.B. der Bass in „Bathsheba“, aber das Klangbild ist digital, kühl bis kalt und zu aufgeräumt – und die Drums klingen wirklich nicht schön.

    Als nächstes steht eine kleine Vertiefung in das Werk von Marty Ehrlich an – „Song“ lief neulich schon wieder, ohne dass ich drüber geschrieben hätte, „The Long View“ bleibt leider unauffindbar, aber es sind noch drei Neueingänge zu verzeichnen, die in diesen frühren Zeitraum fallen, bei dem ich gerade bin (1988-91): „Pliant Plaint“, „The Traveller’s Tale“ und „Side by Side“.

    Aus den Neunzigern sind dann drei Neueingänge von Abraham Burton da (zweimal am Altsax, dann am Tenor das anscheinend so superbe Album mit Eric McPherson als Co-Leader), das eine von Marc Cary, Ibrahims „African Suite“ und ein Orgel-Album von Alvin Queen, das als einziges der hier gerade genannten schon ein paar Male lief.

    Wiederhören möchte ich noch „Shima Shoka“ (1990) von Aki Takase (und wo ich schon dabei bin vielleicht auch noch ihr „Alice“ mit Maria João und NHOP von 1990 und „Oriental Express“ von 1996), die zwei Live-Alben von Lee Konitz und dem Trio Minsarah, ein paar späte Alben von Franco Ambrosetti (und das grad neu gekaufte „Music for Symphony and Jazz Band“, schon von 1991) und dann ist noch ein Stapel mit yellowbird bzw. post-yellowbird Enja-Alben da (hat Aldinger inzwischen alles zu Enja zurück verlegt oder läuft yellowbird noch? meine jüngsten Enja-CDs sehen aus, wie vor 5-10 Jahren die yellowbird-Alben ausgesehen haben, Verpackung in Digipacks, aber auch Design) – und dann noch die Mittelmeer-Ecke (Castel del Monte, La Banda etc.)

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    #12314915  | PERMALINK

    vorgarten

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    gypsy-tail-wind
    Jim Pepper – Dakota Song | Für mich ist das Album eine Neuentdeckung – es lief in den letzten Tagen schon ein halbes Dutzend Mal und klickte sofort.

    das freut mich sehr. da habe ich damals wohl zufällig einen guten griff gemacht. ich werde noch THE PATH nachholen. ein späteres album mit amina claudine myers fand ich sehr enttäuschend.

    bei ehrlich und burton mache ich noch mit, daneben gibt es noch ein paar verstreute alben, auch historische, die ich noch nicht kenne. das lockjaw-davis-album zum beispiel finde ich ziemlich stark.

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    #12315237  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    vorgarten

    david murray, fo deuk revue (1996)

    ich schließe jetzt mal meine enja-murray-lücken – ich war wohl ende der 90er etwas übersättigt und habe diese alben mit den comichaften malereien gezielt ignoriert. beim ersthören von FO DEUK REVUE fiel mir aber ein, dass ich murray mit diesem programm live in moers gesehen habe und das gar nicht schlecht fand.
    besser jedenfalls als dieses eigenartige album, in dem mehrere dinge aufeinandertreffen, ohne aufzugehen, finde ich. die vielen zusammenarbeiten mit robert irving III und seinen glitschigen schattenakkorden, die den comeback-miles schon efizient strukturiert hatten, gehen hier weiter, dazu kommen noch jamaladeen tacuma und ein funkdrummer, das also geht eher in richtung einer elektrischen jazzfusion, die zu diesem zeitpunkt ziemlich passé war. und wie passen die stimmen aus der afrikanischen diaspora dazu, die percussion, die den geraden beat umschmeichelt, amiri baraka, der ein gedicht vorträgt, senegalesische rapper und saitenspieler? ich finde: kaum. das ding ist im senegal aufgenommen und schließlich in new york mit overdubs verunklart worden. aber vielleicht war das einfach eine übergangsphase, denn bereits CREOLE, an dem ich schon dran bin, klingt viel selbstverständlicher.

    David Murray – Fo Deuk Revue | Da setzte ich dann mal gerne wieder an … aufgenommen in Dakar am 3. und 4. Juni 1996 mit späteren Overdubs, die beim Mix im Sound on Sound Studio in New York am 19. und 20. August beigefügt wurden. Auch das eine Justin Time-Produktion, die Enja übernommen hat. Mit Murray in den Senegal reisten Robert Irving III (p/keys), Jamaaladeen Tacuma (b) und Darryl Burgee (d) und trafen dort auf die Rapper von Positive Black Soul (Amadou Barry aka Doug E. Tee und Didier Awadi), eine lokale Band namens Dieuf Dieul (die davor noch nie ein Studio betreten hatte – Tidiane Gaye-voc, El Hadji Gniancou Sembène-keys, Abdou Karim Mané-b, Ousseynou Diop-d, Assana Diop-xalam/g, Moussa Séné-perc/backing voc), den Sänger Hamet Maal (Bruder von Baaba Maal) und den „godfather of percussion groove, the master of sabars“, Doudou N’Diaye Rose (das Zitat stammt aus Olivier Cachins Liner Notes, in denen die Murray-Band hartnäckig als „the Murray trio“ beschrieben wird). Im Line-Up steht noch der Name Oumar Mboup ohne Klammer, die ihn als Mitglied von Dieuf Dieul ausweist – er war vielleicht auch in Dakar dabei? Die Overdubs stammen dann von Hugh Ragin (t), Craig Harris (t), Amiri Barak und Amiri Baraka Jr. (voc) und vielleicht auch noch von den Mitgliedern von Murrays Combo. „Fo Deuk“ heisst „woher kommst du?“ auf Wolof, der wichtigsten Sprache im Senegal.

    Das fragliche Saiteninstrument ist die Xalam, eine traditionelle Laute, von der es unterschiedlichste Varianten mit mit 1-5 Saiten gibt, und ein paar gelegentlich auch in den Jazz übergeschwappte Verwandte (Ngoni, Rubab, Kora). Zu hören ist die Xalam in „Chant Africain“, einem Traditional, das Doudou N’Diaye Rose arrangiert hat und einer der besseren Tracks hier, zumindest in der ersten Hälfte; Irvings Keyboard-Kleister hätte ich nicht gebraucht (in NYC overdubbed?), aber der Groove von Xalam, Bass, Trommeln und Chants ist schon toll – ein Kinderchor aus Dakar wirkt hier gemäss den Liner Notes auch noch mit … und der Groove verliert sich in der Masse irgendwann und Murrays Solo klingt auch irgendwie overdubbed, als spiele er von hinterm Vorhang mit.

    Ob das passt? Ich finde auch eher nicht, höre hier aber auch einiges an Sounds, wie sie in den Neunzigern da und dort zu hören waren … ein bunter Eklektizismus aus der Zeit, in der „World Music“ ein grosses Ding war halt. Ein völliges one-off ist das Ding nicht, wie den Liner Notes zu entnehmen ist: Murray war schon früher in die Region gereist und auf Gorée aufgetreten („Dakar Darkness“ ist ein Souvenir dieser ersten Reise, es wurde 1994 sogar mit dem Andrew Cyrille Quintet bzw. auf den Japanischen Ausgaben der Combo „African Love Supreme“ in Dakar eingespielt, später noch für Murrays Bleu Regard-Album „Flowers Around Cleveland“ und das WSQ-Album „With African Drums – Four Now“ auf Justin Time, bei dem Chief Bey, Mar Gueye und Mor Thiam mitwirkten).

    Ein Stück wie „One World Family“ trägt nicht nur einen Titel, wie ihn damals alles von Michael Jackson bis Johnny Clegg hätten aufnehmen können, und manches in dem Potpourri hier erinnert mich auch an andere Dinge, die ich damals hörte: MC Solaar (obwohl die Rapper auch auf Englisch und – ich vermute – Wolof rappen), Buckshot LeFonque. Das wirkt aus heutiger Sicht tatsächlich ziemlich antiquiert … mein Favorit aus der Enja/Justin Time Murray-Trias ist jedenfalls ganz klar „Creole“, wo die verschiedenen Zutaten nicht nur nebeneinander stehen sondern wirklich gemeinsam musiziert wird. Ich hab ein bisschen den Verdacht, als würde mir ein Album von Dieuf Dieul – vielleicht mit ein paar zusätzlich ins Studio gebrachten Bläsern und ein paar Solo-Spots vom US-Gastproduzenten Murray – sehr viel besser gefallen. Der Track „Abdoul Aziz Sy“ kommt da wohl nah ran (keine Ahnung, ob Irving, Tacuma und Burgee hier spielen oder ihre senegalesischen Kollegen … deren Gitarrist ist jedenfalls dabei) – und ist vielleicht mein liebster hier.

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    #12315245  | PERMALINK

    vorgarten

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    live in moers (mit zwei rappern und einem percussionisten aus dem senegal) war das auf jeden fall toll, da brannte zwischendurch das zelt. hatte davon auch einen radiomitschnitt aufgenommen und ziemlich oft gehört. sie haben sich da auf bestimmte grooves geeinigt, wie z.b. in dem baraka-stück.

    weitere david-murray-lücken füllen wird auf jeden fall eins meiner nächsten ‚projekte‘.

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    #12315321  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    26. Mai 1996

    David Murray „New York – Paris – Dakar“ (USA/SEN)


    David Murray (ts, ld), Doudou N’Diaye Rosé (tam-tam), Amadou Barry (voc), Didier Sourou Awada (voc), Daryl Quincy Burgee (dr), Jamaaladeen Tacuma (b), Robert Irving III (Hammond B3, keyb)

    Infos von hier:
    https://archiv.moers-festival.de/de/archiv/programm/1990er

    Glaube ich sofort, dass das live- ohne den ganzen Overdub- und Studio-Klimbim toll sein konnte!

    Murray war ja wirklich Dauergast in Moers, 1999 auch mit Creole.

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    #12315365  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Marty Ehrlich – Pliant Plaint | Marty Ehrlich ist wohl so etwas wie der perennial sideman – in der Blue Note-Welt würde ich ihn mit James Spaulding vergleichen, mit dem er sich zwei seiner Instrumente teilt, das Altsaxophon und die Querflöte. Bei Ehrlich kommen hier noch Klarinette und Bassklarinette sowie Altflöte dazu. Mit Stan Strickland (hier an Sopran- und Tenorsax sowie Flöte) aus Boston, einem Kollegen seit den frühen Siebzigern, hat er einen zweiten Multiinstrumentalisten in der Band. Dazu kommen auf diesem ersten Enja-Album Anthony Cox am Bass und Bobby Previte am Schlagzeug. Cox war neben Drummer Pheeroan akLaff schon auf Ehrlichs Debut „The Welcome“ (Sound Aspects, rec. 1984) dabei. Die Aufnahme hier ist im April 1987 im Westrax Recording Studio in New York entstanden. Sieben Stücke hat Ehrlich zusammengestellt, allesamt Originals – und original ist die Musik auf jeden Fall auch. Greifen kann ich sie bisher noch nicht recht, aber das ist alles neu für mich (wie ich das tippe, sind noch „The Traveller’s Tale“ und „Side by Side“ aus den frühen Jahren sowie das spätere „Song“ da, mehr trifft hoffentlich bald ein … ein altes Projekt, endlich mal mehr von Marty Ehrlich zu hören).

    Los geht es mit „Celebration in Capetown (Strangers No More)“, inspiriert von einer Rede, die ein ANC-Mitglied nach der Befreiung Südafrikas hielt. Der Leader an der Bassklarinette und Strickland an der Querflöte sowie Cox spielen unisono die Melodiekürzel des Themas über einen nervösen Beat von Previte. Es folgt ein längeres Bassklarinettensolo, in dem sich der Eindruck des Themas bestätigt: Rhythmus ist hier ebenso zentral wie Melodik. Das wird durch ein unbegleitetes Flöten/Bassklarinetten-Duo in der Mitte des Stückes bestätigt: Ehrlichs Musik braucht keine Rhythmusgruppe, um im Takt zu bleiben. Cox steigt dazu ein, die beiden Bläser verweben Linien und Riffs, Kürzel und freifliegende Melodien, über den sehr frei agierenden Bass. Erst nach geraumer Weile steigt Previte wieder ein, es entwickelt sich eine freie Kollektivimprovisation (mit durchlaufendem Groove, auch wenn den keiner ausspielt), aus der die vier am Ende in einen tighten Groove zurückfinden. Das mag verkopft wirken, etwas kühl, kalkuliert – aber es ist auch für den Bauch, es ist warm und sehr spontan.

    Ehrlichs ganzes Schaffen durchblicke ich noch überhaupt nicht – nicht einmal die Enja-Auftritte bis hierhin, aber Julius Hemphill, Anthony Braxton, Muhal Richard Abrams, das Oktett von John Carter und Anthony Davis sind wichtige Bezugspunkte, aber auch das Human Arts Ensemble u.a. mit Lester Bowie und Charles „Bobo“ Shaw. Später kam auch noch Andrew Hill dazu und in einem Quartett von Braxton, in dem dieser Klavier spielte, übernahm Ehrlich den einzigen Bläser-Posten. Mit diesen Namen öffnen sich unterschiedlichste musikalische Welten: von der durchkomponierten Musik (hier mit dem kurzen „After After All“ präsent, einer Auftragsarbeit für New Winds in der Ehrlich via Overdub Flöte, Klarinette und Bassklarinette spielt), freie Musik, Free Funk und die grosse afro-amerikanische Tradition (inklusive Blues) nicht zu vergessen, die auf späteren Alben via Stücke von Strayhorn, Mingus oder Coltrane vorbeiguckt. Aber auch Bob Dylan oder Robin Holcomb gehören zum musikalischen Rahmen von Ehrlich. Und eine Band mit dem Labelkollegen Ray Anderson leitete er auch mal noch (auf Intuition ist das Konzert aus Willisau von 2009 erschienen – eine der CDs, die ich zur Enja-Nachbereitung schon mal herausgelegt habe).

    Nach dem Klassik-Ausflug folgt der Titeltrack. Gestrichener Bass, darüber die klagenden Saxophone (Alt und Tenor) von Ehrlich und Strickland. Erst nach fast drei Minuten steigt Previte mit einem Roll ein, dann geht das Stück in rascher Abfolge durch eine Reihe von kurzen Phrasen/Themen mit wechselnden Beats, auch mal einem altmodischen Two-Beat, bevor Ehrlich zu einem äusserst stringenden Solo ansetzt – in der Logik seines Aufbaus erinnert das an Oliver Nelson, in der Gestaltung auch mal an Braxton oder an John Zorn. Verschiedene Wechsel in der Begleitung führen via kurze Kollektivimprovisation über zum kurzen Solo von Strickland. Auf dieses folgt eine weitere Kollektivimprovisation bzw. eine Art Schlagzeugsolo mit riffenden Bläsern.

    Im atmosphärischen „After All“, mit über 10 Minuten das längste Stück des Albums, kriegen die drei Solisten – Strickland am Altsax, der Leader am Sopransax und Cox – einen jeweils anderen Rahmen für ihre Soli, während ein wiederkehrender Vamp das Geschehen verbindet. „You have to play a piece like this several times to get the right balance of elements“, zitiert Bob Blumenthal in seinen Liner Notes den Komponisten. Es sind quasi Freiräume mit Spielregeln, die in Ehrlichs Musik immer wieder auftauchen. Es ist nicht weit hergeholt, an Stücke aus der Neuen Musik zu denken, in denen es gewisse Regeln gibt, die jeweilige Umsetzung aber den Interpret*innen überlassen ist und damit kaum eine Aufführung der anderen gleicht, das Werk dennoch stets klar identifizierbar bleibt.

    Nach „The All Told Blues“, dem kurzen zweiten Stück, in dem Strickland am Tenor das erste, bemerkenswert strukturierte und umgesetzte Solo spielt, ist mit „Willie Whipporwill’s Back Slidin‘ Heart Throb Two-Step“ auch im zweiten Teil ein Blues zu hören. Dieser ist ziemlich funky, wirkt ein wenig wie eine aufgeräumte Version von etwas, was Julius Hemphill zehn Jahre zuvor gemacht haben könnte. Ein Bass-Vamp, recht trockene funky Beats von Previte – und darüber ein fortlaufender Dialog von Alt- und Tenorsaxophon. Und nach dem Funk noch Flötenduett: in „What I Know Now“ spielt Ehrlich im Thema die Altflöte hinter dem Lead von Strickland, die Soli spielen sie beide an der regulären Querflöte, Strickland zuerst.

    Ein Effekt, der diese Musik ist auf mich hat, ist die Dehnung der Zeit: diese 7:50 Minuten oder auch die 7:26 vom Opener wirken sehr viel länger, weil so viel Musik in ihnen steckt. Dabei ist das keine nervöse Postmoderne-Geschichte (wie sie Zorn damals gar nicht fremd war) sondern eine wirklich eigene Art der Verdichtung, die stets sehr musikalisch ist. Eine gewisse Reserviertheit bleibt allerdings, auch bei diesem dritten Anlauf, bei dem ich jetzt was zu schreiben beschlossen habe. Reserviertheit bei grosser Bewunderung und wachsender Wertschätzung.

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    Marty Ehrlich – Traveller’s Tale | Das zweite Album wurde am 30. und 31. Mai sowie 1. Juni 1989 in den Trixi Studios in München aufgenommen. Es gibt hier acht Stücke und nach der LP-Länge des Vorgängers etwas mehr Musik (55 Minuten). Ehrlich spielt Sopran- und Altsax, Klarinette und Bassklarinette, Strickland bis auf zwei Ausnahmen nur Tenorsax. Bobby Previte spielt wieder das Schlagzeug, am Bass ist neu Lindsey Horner dabei. „Short Cirle in the Long Line“ heisst der Opener, ein Groove-Stück mit unterschiedlichen Beats und einem tollen Solo vom Leader an der Bassklarinette (Strickland am Sopran). „The Reconsidered Blues“ ist eine Klage, ein Holler, in dem Stricklands wortloser Gesang von Ehrlichs Klarinette schattiert wird, während Previte an den Besen swingt und Horner ein tolles Fundament legt, fast so dunkel wie man es Cox gewohnt ist – das ist ziemlich ergreifend, und das Klarinettensolo sehr sehr schön (auf dem ersten Album ist die Klarinette glaub ich nur im durchkomponierten Overdub-Trio-Stück zu hören).

    Das Titelstück ist fast neun Minuten lang und damit das längste hier. Ehrlich spielt hier Altsax und seine Linien werden von einem insistierenden Bass-Rhythmus auf einer Note und kurzen Einschüben von Strickland am Tenorsax begleitet, während Previte leise dazu trommelt. Das Tempo ist nicht stabil, schnelle Läufe zwischendurch führen zu einer fortlaufenden Verlangsamung und nach drei Minuten bleibt nur noch der Kontrabass übrig. Einfach gehaltene Linien entwickeln einen fast meditativen Charakter, irgendwann lässt Horner die Saiten schnarren, im Hintergrund steigen zunächst fast unwahrnehmbar leise die Bläser ein (und wieder eine Stimme?), Previte scheppert ein wenig, der Bass setzt aus. Aus dem lauter und intensiver werdenden Dialog der Saxophone entwickelt sich gegen Ende hin eine Kollektivimprovisation, zunächst im Trio mit Previte, dann steigt auch Horner wieder ein und mit einer Beschleunigung im Unisono endet das tolle Stück.

    In Robin Holcombs „March“ präsentiert Horner am gestrichenen Bass das Thema über die Militär-Trommeln von Previte – was ist das, ein jig? Der Bass fällt irgendwann in eine schnelle Walking-Begleitung, Previte wird jazzy, Ehrlich und Strickland solieren an Sopran- bzw. Tenorsax. Das ist alles so dicht, dass ich wieder einmal auf die Zeitanzeige gucke und staune, dass noch längst nicht drei Minuten um sind, wenn Strickland übernimmt. Dann folgt noch ein Schlagzeugsolo, das den Weg zurück in den Stomp findet, doch im Outro spielen die Saxophone das Dudelsack-Thema gemeinsam und Horner bleibt beim Pizzicato.

    In Teil zwei umrahmen zwei Klassiker zwei weitere Ehrlich-Kompositionen – und diese Klassiker haben es mir beide sehr angetan. Der erste ist „Alice’s Wonderland“ von Mingus, in dem die zwei Saxophonisten (Alt und Tenor) ihr blindes Verständnis einmal mehr demonstrieren, schon in der gemeinsamen Themenpräsentation, die sicherlich sorgfältig ausgearbeit wurde und dennoch sehr spontan wirkt. Erst nach knapp drei Minuten beginnt Ehrlichs Solo – das eine perfekte Balance zwischen Fröhlichkeit und Melancholie findet, ein paar Zitate und klassische Bebop-Riffs integriert. Stricklands Einstieg ist toll: er lässt einen für mehrere Takte glauben, dass auch er Altsax spiele. Doch der Ton wird dann etwas voller, ein paar tiefe Töne, später ein paar rauhe höhere verraten eindeutig das Tenor. Auch er jubiliert und klagt zugleich, und nach zwei Minuten finden die zwei wieder zum Thema zusammen.

    Die gleiche Einheit demonstrieren Ehrlich und Strickland auch in „Melody for Madeleine“ wieder – vor den Soli (Altsax, Tenorsax) entsteht auch hier ein Dialog, eng am Thema bleibend, was auch durch die Betonung der Form durch Previte unterstrichen wird. „Plowshare People“ beginnt mit einem langsamen Bass-Riff, wieder über weite Strecken auf einem Ton gespielt. Die Bläser scheinen hier beide Klarinette zu spielen (wer wann Sopransax spielt ist das einzige, was angegeben ist) – und nicht zum ersten Mal denke ich an den ruralen Funk nicht nur von Jimmy Giuffre sondern auch von Bobby Jones – doch der zweite Teil hier geht in eine ganz andere Richtung, die Rhythmusgruppe spielt einen drängenden Puls, über den die Bläser wieder an Alt und Tenorsax in den Dialog treten. Am Ende verklingt das Stück wieder über das Bass-Ostinato vom Anfang.

    Zum Abschluss dann die dritte Fremdkomposition, der zweite Jazzklassiker, „Lonnie’s Lament“ von John Coltrane. Horner spielt eine mittelschnell Kippfigur, die nicht weit vom „A Love Supreme“-Riff entfernt ist, Previte trommelt darüber einen Latin-Beat, Ehrlich am Sopran und Strickland am Tenor stellen das Thema vor und einmal mehr ist das eine enorm dichte Band-Performance mit begleiteten Soli, die auch als eine Art Verdichtung im Ensemble gehört werden können.

    Ein Aspekt, der schon auf dem ersten Album zu beobachten ist: hier kommt nie Konkurrenz auf. Beide Saxer wissen um ihre grossen Qualitäten und können diese ausspielen, ohne dass es je zu einer Konfrontation kommen würde. Das ist doch ziemlich ungewöhnlich und führt dazu, dass die Band so integriert wirkt. Am enorm geschlossenen Gesamteindruck hier hat auch die Reduktion des Instrumentariums ihren Anteil: der Fokus auf Alt- und Tenorsax mit etwas Sopransax und Klarinette, ein wenig Bassklarinette und Stimme, führt dazu, dass das zweite Album geschlossener, vielleicht auch stimmiger wirkt – aber auch weniger abenteuerlich als das erste, das wirklich speziell ist. Ich will aber um Himmels Willen keins davon lieber mögen müssen!

    Im Booklet gibt es dieses Mal keine Liner Notes, nur ein kurzer Text von Ehrlich, der die Titel der acht Stücke verbindet, Schwarz-Weiss-Fotos aller vier Musiker – und unten auf der Seite der Credits beim Verweis auf „Pliant Plaint“ auch ein Zitat aus der New York Times, das Album präsentiere „jazz that flies beyond the pigeonholes“ (12. April 1988).

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    Marty Ehrlich – Side by Side | Nummer drei und jetzt eine konventionellere Band mit Klavier, aber immerhin mit Posaune statt Trompete, dazu spielt Ehrlich jetzt auch selbst Tenorsax, es gibt einen Rückkehrer am Bass und einen Star am Schlagzeug: Marty Ehrlich (ss, as, ts, cl), Frank Lacy (tb), Wayne Horvitz (p), Anthony Cox (b), Andrew Cyrille (d). Skyline Studios, NYC, Januar 1991. Wieder acht Stücke, bzw. neun, da die letzten beiden im Booklet nur eine Nummer aber zwei Tracks kriegen, bis auf zwei alle von Ehrlich selbst. Im Opener und Titeltrack ergibt sich eine Spannung zwischen den liegenden Phrasen der Melodie und dem nervösen Beat von Cyrille, der von Cox und Horvitz sekundiert wird. Irgendwann fallen die Bläser auch in den schnelleren Beat ein, erst in der Mitte bricht Horvitz zu einem kurzen Solo auf, später ist Cyrille dann an der Reihe und spielt ein beeindruckendes kurzes Solo, bleibt anfangs nur auf den Trommeln, sehr melodiös. Sonst ist das wieder eine Band-Performance, in der die Bläser kollektiv improvisieren, sich alles aufs Engste verzahnt – das Klavier führt dabei zu einer Verdichtung, die mir durchaus gefällt – auch wenn sich das Klangbild natürlich stark verändert und nicht mehr so transparent ist.

    Wenn Ehrlich allein über Cox‘ Bass mit „The Adding Song“ beginnt, höre ich eine Art Position zwischen Ornette Coleman und John Zorn (*1953, zwei Jahre älter als Ehrlich), ein wunderbar runder Ton, der dem Altsax Schwere und Gewicht eines Tenors gibt, doch mit diesem „Reissen“ an den Rändern, wie Zorn es auf die Spitze trieb. Das ist jedenfalls toll. Nach dem Intro steigt das Klavier ein, solo, mit nachdenklich schreitenden Akkorden, wozu sich dann die ganze Band gesellt, Lacy an der Posaune und Cyrille an den Drums improvisierend, die anderen beim Thema verharrend.

    Von Mike Nock stammt das nächste Stück, „Hadrian’s Wall“ (die Zusammenarbeit von Ehrlich und Nock kenne ich noch nicht) – hier spielt der Leader das Thema am Sopransax, mit zweiter Posaune der gedämpften Posaune, vermutlich durcharrangiertem Klavier und einem sehr beweglich agierenden Bass, der dann ein nur vom Klavier begleitetes Solo spielt, bevor dann Ehrlich am Sopransax glänzt (der Ton!). In „Sugar Water“ ist Cyrille zurück und spielt zwischendurch eine Art Second-Line-Beat mit angedeuteten Rolls auf der Snare, während die Bläser in enger Abstimmung mit Klavier und Bass das unregelmässig phrasierte Thema spielen. Nach einem Klaviersolo ist Lacy an der Reihe mit einem singenden und zugleich tanzenden Solo – eine Wirkung, die davon verstärkt wird, dass Cox im Groove des Themas bleibt und Cyrille dahinter nur wenig aber gekonnt punktiert. Das Klavier greift immer mehr ein, Ehrlich gesellt sich riffend dazu (am Tenorsax, glaub ich), es entsteht ein dichter Dialog zwischen den beiden Bläsern.

    „Stride“ ist eine kurze schnelle Nummer ohne Klavier mit abwechselnden Beiträgen von Altsax und Posaune, mit Dialog-Passagen, in die Cyrille zunehmend eingreift. Hier dauert das nicht mal drei Minuten, aber live könnte man sowas auch eine halbe Stunden dauern lassen und es wäre super. „Silent Refrain“ öffnet mit einem Klavierakkord, einer Pause, einem Kürzel vom Sopransax, verwischtes Klavier … und dann wieder Sopransax dazu, es scheint sich eine Art Thema herauszuschälen, bevor das Klavier pausiert – und ich erst realisieren, dass ja eine Klarinette ist. Ein impressionistisches Duo mit viel Luft. Perfekt, darauf Strayhorns „Johnny Come Lately“ mit seiner catchy Melodie und seinem trägen Swing zu programmieren – vom recht abstrakten Impressionismus direkt zum fast schon traditionellen Jazz mit gedämpfter Posaune und Klarinette und einem feinen Klaviersolo von Horvitz (den ich bisher übrigens überhaupt nicht greifen kann – das Sonny Clark Memorial Quartet mit Zorn, Ray Drummond und Previte liebe ich aber seit bald 30 Jahren sehr), hinter dem dann die Bläser zu riffen anfangen. Lacy und Ehrlich spielen danach ihre Soli, wieder teils von Riffs punktiert – und Cyrille spielt diesen Swing sehr toll.

    Die letzten 13 Minuten gehören dem zweiteiligen erwähnten zweiteiligen Stück: „Time’s Counsel“ geht nach neun Minuten in „The Far Wet Woman“ über. Los geht es im freien Piano/Bass-Duo, das lyrischer wird, als sich ein gemeinsames – sehr langsames – Tempo etabliert. Nach dreieinhalb Minuten ein kantiger Akkord und dazu steigt Cyrille ein, auch frei spielend, während der Bass nur noch eine Art Down-Beats liefert. Dann lösen die zwei Bläser das Klavier und den Bass ein, eine Trio-Improvisation mit Cyrille folgt, growlende Posaune, repetitive Linien vom Saxophon. Gegen Ende des ersten Teils ist dann das ganze Quintett dabei, Horvitz soliert über oder unter den klagenden Bläserlinien und gestaltet dann solo den Übergang in den zweiten Teil, in dem Ehrlich über Piano und Bass bald ein Thema präsentiert, das auch aus Strayhorns Feder stammen könnte – oder vielleicht noch eher von Mingus. Lacy übernimmt dann den Lead, wieder mit Dämpfer, es folgen kurze Soli von Sax und Posaune, während Cyrille nicht nochmal auftaucht. Ein nachdenklicher Abschluss eines weiteren tollen Albums. Auf die Fortsetzung muss ich jetzt etwas warten (kann sein, dass es Juli wird, mal schauen – zu „Song“ vorspringen möchte ich gerade nicht).

    Dass Ehrlich das Arrangieren beherrscht, ist hoffentlich aus den beiden vorhergehenden Posts klar geworden, sonst sei es hier noch einmal erwähnt, denn im so weit verbreiteten Format mit zwei Bläsern und p/b/d fällt es fast noch stärker auf, wie ungewöhnlich, wie durchdacht das alles ist. Es gibt hier schlicht keine Nummer, die einfach nur ein Blowing-Vehikel wäre. Und dennoch wirkt die Musik auf mich nur selten etwas kopflastig (auf dem Label-Debüt am ehesten) und obwohl es viel weniger ausgewachsene Solo-Improvisationen als im Jazz üblich gibt, habe ich nie den Eindruck, dass ich von einem der Beteiligten nicht genug zu hören kriege. Ehrlichs Schaffen funktioniert einfach anders, stellt die Band ebenso ins Zentrum, das Material selbst. Die oben erwähnten engen Zusammenhänge von Melodie und Rhythmus scheinen sich allerdings recht rasch abzuschwächen, das ist hier im Quintett weniger offensichtlich ein Thema, bleibt aber bestimmt innerhalb der einzelnen Stimmen eins. Denn die Soli – nicht nur von Ehrlich selbst – klingen auch hier noch sehr schlüssig und auf den Punkt, das Schlagwort des „instant composing“ hätte ich schon längst in den Ring werfen können.

    Die Cover von „Traveller’s Tale“ und „Side by Side“ hat übrigens ein Oliver Jackson beigetragen – kannte ich nicht, aber spricht mich vom ersten Eindruck her an (das „Painting 10.25.84“, sechstes von oben in der linken Spalte, ist auf der Rückseite des CD-Booklets zu sehen):
    http://www.oliverleejackson.com/oil-paintings-1970s-1990s.html

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #156 – Benny Golson (1929–2024) – 29.10.2024 – 22:00 / #157 – 12.11.2024 – 22:00 / #158 – 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
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    Aki Takase – Shima Shoka | Aki Takase nahm ihr zweites Solo-Album für Enja („Perdido“ ist noch unterwegs) am 19. und 11. Juli 1990 in der Bechstein Concert Hall in Berlin auf. Es geht sehr monk-ish los, mit „Meraviglioso“, ihrem Produzenten Horst Weber gewidmet. Die linke Hand walkt an der Schwelle zum Stride, während die rechte leicht dissonant klingende, kantige Linien gestaltet. Ein starker Einstieg, auf den mit einer langen Version von Carla Bleys „Ida Lupino“ – das sich allerdings erst allmählich aus einem über zwei Minuten langen improvisierten Intro herausschält – ein Stimmungswechsel folgt. Takase entfernt sich dann improvisierend recht weit vom Thema, findet aber sehr gekonnt zu ihm zurück. Achteinhalb Minuten Slow-Motion-Drama mit sehr knackigem Ansatz und natürlich einigen Verdichtungen. Der Widmungsträger des schnellen kurzen Originals „A.V.S.“ ist leicht zu erraten – ein kurzer Romp mit abruptem Ende, auf das Schlippenbachs impressionistisches „Point“ folgt, in dem Takase zunächst im Innern des Instruments spielt. Darauf folgt Takases „Presto V.H.“ (wer ist V.H.?), ein schneller Romp, fast minimalistisch, irgendwo zwischen Stride und Waldron. Mit Reduktion aber im Zeitlupentempo geht es im Titeltrack weiter. Völlig folgerichtig dann Ellingtons „Rockin‘ in Rhythm“, in dem das Tempo wieder hoch geht, die Grooves aber bleiben – nicht mehr so reduktionistisch, aber mit Stride-Figuren, Vamps, Riffs auch in der linken Hand. „Timebends“ , „Dr. Beat (dedicated to Otosan)“ und „Hanabi“ sind dann wieder Originals von unterschiedlichem Charakter: eine zart-melancholische Ballade, eine Montuno-Romp und eine freie Miniatur. Drei Klassiker machen den Abschluss: „Giant Steps“ von John Coltrane, „Goodbye Pork Pie Hat“ von Charles Mingus und die „Valse Hot“ von Sonny Rollins. Wie Takase sich das fremde Material aneignet ist auch hier wieder beeindruckend – wie sich das doch recht bunte Programm zu einem sehr stimmigen Ganzen fügt. „Giant Steps“ beginnt mit zerklüfteten Akkorden, ein Stop-And-Go, in dem schnell das Thema hörbar wird. Dann rasende Linien im Diskant zu einer Begleitung in der mittleren Lage, bevor Takase zuerst nur punktuell die tiefen Töne auf dem Klavier wiederentdeckt – das ergibt einen irre flimmernden Effekt und ist nicht nur atemberaubend sondern tatsächlich eine stimmige Interpretation eines Stückes, das ja immer auch Virtuosenfutter war, dem die technische Heraus- oder Überforderung eingeschrieben ist. Mingus‘ Ballade ist eine Art Spiegelung von „Ida Lupino“: Takase verfährt mit einer allmählichen Annäherung und der auf das Thema folgenden Improvisation in diesem zweitletzten Stück ähnlich wie im zweiten. Rollins‘ Walzer kriegt auch ein Intro – und schält sich dann aus einer Art Minimal-Stride heraus, natürlich um die Spiegelung perfekt zu machen mit monk’schen Dissonanzen, sowohl in der gehämmerten Linken wie im Thema, das durch zusätzlich beigegebenen Töne immer wieder leicht zu entgleisen scheint. Takase wird leiser, verschleppt die Linien, bis sie folgerichtig mit einer kurzen Rekapitulation zum Ende kommt. Toll!

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    Franco Ambrosetti – Music for Symphony and Jazz Band | Mit der ganz grossen Kelle wird hier angerichtet. Standards spielen sei „always one of my favorite activities“ gewesen, schreibt Ambrosetti im Booklet: „The main problem one encounters in realizing such as project like performing standards on a record is that this has been one a million times by hundreds of musicians“. Was also tun, um etwas ungewöhnliches und originelles hinzukriegen? Die Antwort hier: man nehme einen Jazzcombo (Ambrosetti-t/flh, Greg Osby-as, Wladyslaw Sendecki bzw. Simon Nabatov-p, Ed Schuller-b und Alfredo Golino-d), ein Orchester (die NDR Radiophilharmonie unter der Leitung von Dieter Glawischnig) und hole einen Arrangeur an Bord, der nicht einfach ein „with Strings“-Album machen will sondern grössere Ambitionen hat: Daniel Schnyder. Anders als bei ähnlichen solchen Projekte, so Ambrosetti, „the symphony orchestra plays as an independent unit, that means it does not merely accompany the soloists but fully integrates with the jazz group“. Schnyder setzt tatsächlich die ganze Orchesterpalette ein, die Instrumente und ihre Klangfarben, Techniken und Stilmittel „from baroque to serial“, wie Ambrosetti schreibt. Aufgenomen wurde vom 1. bis 6. Oktober im NDR Studio in Hannover, Wolfgang Kunert hat die Session produziert, Winckelmann hat sie wie es scheint noch im gleichen Jahr herausgebracht.

    Los geht es mit dem „C-Jam Blues“ von Ellington: ein guter Move, dann hier kriegen wir gleich einen Mix aus dem total simplen, für viele vertrauten Thema und der eigenwilligen Klangwelt, die Schnyder schafft. Traditioneller Blues und halbwegs zeitgenössische Orchestermusik finden zusammen, Ambrosetti bläst ein glattes Trompetensolo – und das setzt den Ton für das ganze Programm. „Night and Day“ mit seinem reduzierten A-Teil und dem chromatisch absteigenden Changes im B-Teil ist für so ein Programm eine nahezu logische Wahl – und Osby steuert ein schönes Solo bei (Nabatov spielt Klavier, mit seinen üblichen Verdichtungen – eigentlich passt er ganz gut neben Takase, oder?). „Grave“ ist as erste von zwei Schnyder-Originals, eine Widmung an Johann Sebastian Bach und Chet Baker mit einem langen Orchesterteil, komponiert in c-Moll und in 13/4. Ambrosetti schält sich hier heraus, sein Flügelhorn (nehm‘ ich an) wird von den Holzbläsern umgarnt. Osby spielt das erste Solo, gefolgt von einem recht nervös aufspielenden Ambrosetti. Der Grave-Groove ist ziemlich toll, der Flow ist gut und das klingt schon ziemlich toll … auch ein wenig nach den modalen Sachen von Herbie Hancock aus den Sechzigern. „Well You Needn’t“ wird zunächst vom Orchester vorgestellt, dann übernehmen Klavier und Marimba, bevor Schnyder am Sopran- und Osby am Altsax gemeinsam zu hören sind. Nabatov streut ein paar Cluster ein, ein paar Monk-Akkorde hinter dem charmanten aber vielleicht wieder einmal etwas zu aufgeräumten Trompetensolo, hinter dem das Orchester länger pausiert – um umso effektiver wieder einzusteigen. Osby scheint sich im Solo mehr auf die Umgebung einzulassen. Nach einem Orchesterintermezzo steigt Nabatovs Klavier aus der tiefen Lage empor – unbegleitet zunächst, bevor die Saxophone dann zum Ausklang wieder das Thema präsentieren (die Trompete kriegt die Bridge).

    Horace Silvers „Peace“ beschreibt Schnyder (der hier Track-für-Track-Kommentare beisteuert) als eine seiner Lieblingsballaden, was mit der zehntaktigen Form und den Tristan-Akkorden zu tun hat. Totale Reduktion bei grösster Offenheit, ein einfaches Motiv und seine Inversion. Ambrosetti stellt aber das Thema vor und schwebt dann über der Rhythmusgruppe im ersten Solo weiter, bevor Sendecki ein wunderbares Klaviersolo spielt – Schnyder nennt es „kristallin“ und das passt. „The Night Has a Thousand Eyes“ ist wieder gross angerichtet: aufsteigende Quinten und Fanfaren vom Orchester, nach etwas über einer Minute das Thema mit Ambrosetti und der Jazz-Rhythmusgruppe (wieder Sendecki), der mir nicht bekannte Drummer macht seine Sache recht gut. Ambrosetti präsentiert das Thema schnörkellos, es gibt den üblichen Latin-Vamp zwischendurch. Zum Auftakt von Osbys Solo macht sich auch das Orchester wieder bemerkbar – und es bleibt kontrastreich bis hin zum dramatischen, filmischen Schluss.

    „Close Encounter“ ist das einzige Original von Ambrosetti hier – ein sphärischer Einstieg, dann ein zupackendes Solo von Osby, dann Ambrosetti, von Nabatov und Golino angetrieben aber nicht wirklich willens, auf ihre vielen Einwürfe zu reagieren. Dann eine zerklüftete Passage mit Rubato von der Jazzband zu Einwürfen des Orchesters, darüber immer noch Ambrosetti – das wird geräuschhaft und verklingt nach einem grossen Bläser-Akkord mit einem kurzen Jazz-Riff. „Inside the Dome“ ist Schnyders zweiter Beitrag als Komponist, eine Art polyphonische Impression eines riesigen Kuppelraumes im 5/4 mit lydischen und dorischen Skalen – und nicht zum ersten Mal klingt Ambrosettis Trompete ein wenig nach Miles Davis. Eine Solo-Violine mit Vibrato taucht aus dem Orchester auf, dann eine Bratsche (nehme ich an), das bleibt nah am thematischen Material und ist erneut stimmig – und mir drängt sich die Frage auf, ob weniger Standards und mehr Schnyder (er ist hier auch selbst nochmal am Sopransax zu hören) dem Album nicht gut getan hätten? Mit „Manteca“ folgt dann aber noch ein krachendes Finale, in dem Schnyder klassische Big Band-Sounds (ich fühle mich da und dort an Kenton erinnert) mit dem Orchester verweben. Osby spielt Lead-Alt mit den Streichern statt einer Sax-Section und Ambrosetti präsentiert mit zartem Ton das Thema. Osby steuert dann nochmal ein flüssiges Solo bei, schön gestaltet und vom Orchester wie der Rhythmusgruppe gut begleitet. Ambrosetti ist dann auch ziemlich stark hier (ist da nochmal kurz ein Sopransax hinter ihm zu hören? jedenfalls Sendecki am Klavierr) – aber der Eindruck ist schon, dass der Leader das schwächste Glied der mächtigen Kette ist, die hier geschmiedet wird. Ein durchaus ansprechendes Album mit vielen ungewöhnlichen Klängen, aber ob der Anspruch der völligen Integration eingelöst wird, mögen andere entscheiden. Ich höre das ingesamt als ein gelungenes Update von Third-Stream-Aufnahmen aus früheren Jahrzehnten, inklusive ansprechender Einverleibung von Orchesterklängen aus der ersten Jahrhunderthälfte. Die Wahl des Bassisten ist dabei natürlich passend, denn der Vater von Ed Schuller, Gunther Schuller, war bei einigen der wichtigen Third-Stream-Projekte massgeblich beteiligt, vom grossen Columbia-Album mit Miles Davis und Dimiti Mitropoulos bis zur Rekonstruktion von Mingus‘ „Epitaph“.

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    Maria João / Aki Takase / Niels Pedersen – Alice | Das dritte Album der „First Years in Europe“-Box von Takase ist ein Live-Mitschnitt vom Jazz Ost-West Festival in Nürnberg am 28. Oktober 1990 – und eigentlich eher ein Maria João-Album. Diese öffnet das zehnminütige Medley, mit dem das Set öffnet, unbegleitet. Eine eindrückliche Sängerin zweifellos, aber ihr virtuoser High-Speed-Gesang ermüdet mich auch schnell … beim Vorhören die Tage nahm ich die CD nach einer Viertelstunde aus dem Player und beschloss, sie einmal halbwegs in Ruhe zu hören und dann direkt ein paar Eindrücke zu notieren.

    In den Liner Notes aus dem Booklet der Box (vermutlich originale Liner Notes) erzählen sowohl Yosuhke Yamashita (für „Shima Shoka“) wie Horst Weber (für „Alice“) die Geschichte, wie sie Takase nach Europa holten. 1981 bittete George Gruntz, damals Leiter des Jazzfest Berlin, Weber um Hilfe beim Aufspüren einer japanischen Pianistin – mehr Frauen sollten auftreten und Yamashita schlug Ichiko Hashimoto und Aki Takase vor. Weber hörte Takase zum ersten Mal bei einem Auftritt mit dem Quartett des Saxophonisten Akira Miyazawa im Junk Jazzclub in Ginza, Tokyo. Auch ein Freund namens Dr. Uchida und der Kritiker Hideki Sato hatten Weber schon gedrängt, Takase anzuhören. Am Abend drauf nahm er Gruntz mit, um dieselbe Band im Taro Club in Shinjuku, Tokyo erneut zu hören. Da wurde die Einladung nach Berlin beschlossen (Takase durfte eine Rhythmusgruppe ihrer Wahlt mitbringen), aus der dann auch „Song for Hope“ resultierte. Im Jahr darauf organisierte Weber eine Solo-Tour, die bei Enja auf dem Album „Perdido“ dokumentiert ist (auch vom Jazz Ost-West in Nürnberg). Weber buchte im Anschluss verschiedene Tourneen für Takase, und 1986 in Leipzig, als sie im Duo mit Nobuyoshi Ino tourte, hörte sie zum ersten Mal Maria João und war begeistert. Bald tourten João und Takase im Duo, und 1988 brachte Weber „Looking for Love“ heraus, den Auftritt der beiden beim Jazzfestival Leverkusen Ende Oktober 1987. Für den Auftritt in Nürnberg drei Jahre später schlug Takase vor, den Bassisten Niels-Henning Ørsted Pedersen dazuzunehmen. Nach einer vierwöchigen Tour durch Norwegen folgte der Auftritt in Nürnberg – es gab standing ovations und ein Enja-Album.

    Ich kann diese Begeisterung durchaus nachvollziehen – der virtuose Einsatz ihrer Stimme ist durchaus beeindruckend, auch in Solo-Nummern verliert João nichts von ihrem Drive. Die Sängerin sprüht vor Charme – und scheint auch eine starke Bühnenpräsenz zu haben (ich hab sie nie live erlebt). Es stehen mehrere Stücke von Takase und gemeinsam komponiertes auf dem Programm – neben viel virtuosem Scat-Gesang sind auch mal japanischen Texte hören, wenn ich mich täusche. Mir wird das einfach immer wieder zu viel mit diesen drei Hypervirtuos*innen, z.B. in „Yoridori Midori“ (Andreas Schmidt und Takase), wo das Klavier so virtuos wie der Gesang ist und NHOP dazu am Bass rast. Direkt darauf folgt der erste von nur zwei Standards, „Old Folks“, zunächst ein Feature für den Bass, der auch ziemlich virtuos wird, noch bevor Takase einsteigt und dann, nach über zwei Minuten, das Thema erklingt. Erst danach wechseln die Rollen, der Bass sinkt in die Tiefe, Takase setzt in der Bridge kurz zum Solo an und nach dem Ende des Themas übernimmt sie dann erneut, recht zurückhaltend, bevor NHOP das Stück wieder beendet (inkl. Faux-Bach-Passage) – und einen Moment lang wünsche ich mir, dass die zwei einfach ein Duo-Album gemacht hätten (ein Duo mit Ino gibt es übrigens, „Teni Muho“ von 1085, nicht bei Enja erschienen). Danach geht’s wieder rasant weiter mit Takases „Presto V.H.“, bei dem die Sängerin bald mit wortlosem Gesang das Thema verdoppelt – der Bass hat hier Pause. „Primaccini“ (João/Takase) ist dann der lang ersehnte Ruhepunkt. Klaviersolo zum Einstieg, und auch beim Einstieg von Stimme und Bass bleibt das eine Ballade, João singt nur mit Worten, es gibt ein feines Klaviersolo – schön! „Es ist schon Zeit, zu Bett zu gehen“, singt João im Titelstück (João/Takase) auf Deutsch, mit charmantem Akzent und völlig unstimmig zur Melodie – doch das gibt sich gleich, wenn sie ins Portugiesische wechselt und das Trio in einen raschen Latin-Groove fällt – und auch das finde ich super. Mehr Text und weniger Scatgesang hilft echt. Als Closer gibt es dann die Hymne „What a Wonderful World“, eine charmante Zugabe im Diseusenstil, irgendwo zwischen Blossom Dearie und Björk.

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    Aki Takase Septet – Oriental Express | Zeit für eine letzte Runde vor dem Kinobesuch – und ich bleibe mal bei Takase, zumal als nächstes ein Dreier- oder Viererpaket ansteht (Burton/Cary). Hier verliert mich die Programmierung der Box „The First Years in Europe“, denn zwischen „Alice“ und diesem Album liegen diverse weitere (Lücken gab es ja schon vorher, am allenfalls fehlenden Europa-Bezug liegt es nicht: Leverkusen, A-Trane, Trixi Studios, Meistersingerhalle): ein Duo mit David Murray, „Clapping Music“ mit Reggie Workman und Sunny Murray, ein Album mit Ino und Streichquartett … v.a. das Trio mit Workman/Murray möchte ich auch noch hören – kennt es hier jemand, vielleicht @vorgarten oder @atom?

    „Oriental Express“ wurde am 10. Oktober 1994 beim Deutschland Radio in Berlin aufgenommen – einmal mehr live (im Studio mit Publikum, wie es scheint). Mit dabei waren Issei Igarashi (t), Hiroshi Itaya (tb), Eiithi Hayashi (as, ss), Hiroaki Katayama (ts, bari), Takase (p), Nobuyshi Ino (d) und Shota Koyama (d). Es gibt sehr lange, recht euphorische Liner Note von Makoto Aoki. Ein Jahr lang habe er nach der Premiere der Band (fürs allererste Konzert sass in Berlin sass Motohiko Hino am Schlagzeug, danach übernahm Koyama) waren müssen, um sie endlich doch noch selbst zu hören. Im September und Oktober 1994 tourten, so ist dem Text auch zu entnehmen, sechs Jazz-Combos aus Japan unter dem Banner „Japanische Jazztage“ durch Deutschland, geleitet von Yosuke Yamashita, Takeo Moriyama, Eiithi Hayashi, Sachi Hayasaka und Aki Takase. Anfang Oktober spielten sie alle direkt nacheinander in München.

    Mit einem Mingus-Medley („So Long Eric“, „Duke’s Choice“ und „Goodbye Pork Pie Hat“) geht’s los, fast 24 Minuten, die recht kurzweilig sind, aber mich doch nicht so recht zu fesseln vermögen. Später gibt es Filmisches, charmanten Stride, in Schlippenbachs „Point“, einer Solo-Performance (das Geschepper zwischendurch stammt ev. nicht von Takase, schwer zu sagen) zitiert Takase lange ein altes Evergreen (ich komme nicht drauf, was es ist, so zwischen Minute 4 und 5 – Fats Waller, oder was aus dem Repertoire von Louis Armstrong?). Im Gegensatz zu den Aufnahmen davor tue ich mich hier auch mit einer Einordnung recht schwer: das vermessene musikalische Territorium reicht von Neo-Traditionalismus bis zur Avantgarde – aber manche freie Passage klingt mehr nach Show-Musik, ich denke da auch an Willem Breuker oder so, eine Prise Circus ist jedenfalls immer wieder dabei, nicht zuletzt im Closer, dem Titelstück, das als eine Art Polka-Marsch beginnt (das Italian Instabile Orchestra ist hier auch nicht weit). Dazwischen brechen die Stücke immer wieder für längere Soli auf, vor allem die Saxophonisten sind schon ziemlich stark – und natürlich Takase selbst. Aber zwingend wirkt das für mich alles nicht, auch wenn es durchaus Spass macht. Die Sensation, als die Aoki diese Gruppe beschreibt, höre ich also auch heute nicht.

    Und das letzte Album der 5-CD-Box, „Duet for Eric Dolphy“ mit Rudi Mahall (von 1997 und damit von den „first years“ meilenweit entfernt), hätte ich dann echt gar nicht mehr gebraucht … drum hatte ich auch lange gezögert mit dem Kauf, bin aber für „Song for Hope“ und „Shima Shoka“ echt froh, und dann gibt’s halt noch zwei freundliche und eine unfreundliche Beigabe). Noch eine Irritation zur Box-Auswahl: dieses Album hier erschien in Japan zeitgleich bei Omgatoki, das in den Liner Notes im Gegensatz zu Enja auch erwähnt wird – Enja hat es vermutlich einfach übernommen, weil Weber ja eh beste Beziehungen zu Takase hatte.

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    vorgarten

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    gypsy-tail-wind< v.a. das Trio mit Workman/Murray möchte ich auch noch hören – kennt es hier jemand?

    ich nicht – ich erwarte mir auch nicht so viel davon, glaube ich.

    bin gerade ziemlich beeindruckt von abraham burtons CLOSEST TO THE SUN, möchte aber nicht vorgreifen.

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    #12315913  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Abraham Burton – Closest to the Sun | Aufgenommen wurde das Debutalbum von Abraham Burton am 11. und 12. März 1994 im Systems Two in Brooklyn (Mike Marciano) – aber es hat die geballte Energie eines Live-Sets. Das Quartett mit Marc Cary (p), Billy Johnson (b) und Eric McPherson (d) hatte davor zwar gerade zwei Abende live gespielt (Ende Februar, zwei Wochen vor den Studio-Sessions, im Visiones im Greenwich Village, wo Gust William Tsilis damals das Programm gestaltet hat und „who experienced the event as a cross between a revival meeting and a Coltrane concert circa ’64“ (Liner Notes von Gene Kalbacher). Die Energie im Opener, „Minor March“ vom Mentor Jackie McLean, ist atemberaubend. Und das Zusammenspiel des Quartetts ebenso. Wenn im Altsax das grosse Vorbild mal durchschimmert, finde ich das sehr verschmerzbar bei dem, was hier geboten wird. Und schon in „Laura“, der Ballade, die als zweites zu hören ist, klingt Burton eh anders, tiefer, noch schwerer als McLean – und tatsächlich fast wie ein Tenorsax, was Kalbacher zur Prophezeiung bringt, „which Burton may take up in the future“ (okay, vielleicht hat er das ja auch im Gespräch erfahren). Cary setzt in „Laura“ bis auf ein blumiges Schlussbouquet aus, McPherson schabt an den Besen auf der Snare, erst in er der zweiten Hälfte deutet er eine Art Shuffle an und es gibt ein paar Schläge mehr – und so wird das hier quasi zum Duett mit dem souveränen Bass von Billy Johnson. Dieser ist Mark Johnsons Bruder und bei Discogs ist sein erster Credit auf „Talking to the Sun“ (wo Mark auch mitspielt, der aber schon ein paar frühere Credits hat). Repeat.

    Nach der Verneigung und dem Standard sind die Eigenkompositionen dran: „E=MC“ von McPherson, „Romancing You“ von Burton, „So Gracefully“ von Cary und „Corrida de toros“ wieder von Burton. Im ersten glänzt Cary mit einem wahnsinnig tollen Solo, Burton klingt hier schon deutlich nach McLean. Das zweite ist ziemlich catchy und wird über eine Art Samba-Beat gespielt – und wieder ist Cary zuerst dran und konstruiert erneut ein tolles Solo über den tänzelnden Groove von Johnson/McPherson. Auch Burton phrasiert hier unregelmässig, kehrt zwischendurch zum Thema zurück, rauht mal den Ton auf, kommt aber nicht ganz ohne Klischees aus. Carys Stück dauert fast 13 Minuten und ist neben „Laura“ wohl mein Highlight hier. Ein paar Klavier-Tupfer, dann ein Bass-Lick und schliesslich steigt Burton mit dem eingängigen Thema ein. Das ist hymnisch, es brennt an allen Enden und ist doch total geerdet. Burton spielt ein irre gutes Solo, das auch auf einer Impulse-Platte von 1970 oder so gut gepasst hätte. Wenn er nach sechs Minuten wieder das Thema spielt, könnte das auch zu Ende sein, doch natürlich kommt jetzt auch noch Cary zum Zug (und ganz zum Schluss deutlich kürzer dann auch noch McPherson) und ist einmal mehr toll. Irgendwie habe ich ihn trotz Betty Carter und Abbey Lincoln bisher nie so wirklich auf dem Schirm gehabt, sein eigenes Enja-Debüt ist auch nicht so beeindruckend, aber die zwei Alben dieses Burton-Quartetts sind wirklich beeindruckend, auch dank ihm. In „Corrida de Toros“ gibt nach einem Bass-Intro einmal mehr einen mitreissenden Beat und ein superbes Schlagzeugsolo, auf das ein langes, packendes Duo mit Burton folgt, der hier ähnlich brennt wie McLean – aber er erinnert hier nur im vokalen Gestus an seinen Lehrer.

    Dann folgt mit „Left Alone“ eine weitere Verneigung vor McLean – und damit als zweitletztes* Stück eine weitere tolle Ballade – wieder mit Besen und einem dialogischen Bass, aber dieses Mal mit Klavier, das nicht in die Quere kommt, die Pausen von Burton füllt, da und dort etwas punktiert. Als eigentlichen Closer hören wir das Titelstück, einen Romp über einen kreisenden Beat mit toller einem Klaviersolo bevor Burton am Altsax einsteigt. Hier finde ich McPherson wieder sehr toll – und überhaut das ganze Quartett, wie Verzahnung, das Playing mit unglaublichem Biss und doch völliger Lockerheit. Dazu passt, wie Burton die Situation im Studio beschreibt (die Zitate stammen alle aus den ausführlichen Liner Notes): „I like studio experimentation […] It’s more like life that way. I like a burnin‘ rhythm section … and we like to let it happen I don’t tell the guys, ‚You have to play it this way.‘ And they don’t way that to me on their tunes. These guys are like a big pillow for me.“ – Was für einn Debutalbum!

    Die Vernetzung (die es ja bestimmt auch früher bei Enja schon gab, aber nie so offensichtlich) wird in den Liner Notes hier für einmal offengelegt: Tsilis hatte schon die Arthur Taylor’s Wailers zu Enja gebracht („Mr. A.T.“, ich kenne es noch nicht), zu der Burton und Cary damals gehörten. Und nachdem er den Auftritt im Visiones hörte, hat er gemäss Kalbacher beschlossen, die Combo sofort aufzunehmen. Tsilis hat das Album gemeinsam mit Burton und McPherson produziert. Die beiden waren Kindheitsfreunde in New York, verbrachten lange Nachmittage damit, Duos à la John Coltrane und Elvin Jones zu spielen – Burton über seinen grossen, schweren Sound und die langen Jams mit McPherson: „he’d play so fat and full that I had to project in order to hear myself. It also comes from my extensive listening to tenor players“ – und wenig überraschend gehörte so einer auch zu den Lehrern von Burton: Bill Saxton. Michael Carvin wurde auf sie aufmerksam, wurde zu ihrem Lehrer und vermittelte später den Kontakt zu McLean.

    Burton und McPherson studierten mit Stipendium an der Hartt School of Music der Hartford Universität, wo McLean das Programm für Afro-Amerikanische Musik leitete, das er selbst 1968 dort etabliert hatte. McPherson hat schon 1992 mit McLean aufgenommen („Rhythm of the Earth“) und später erneut auf „Fire & Love“ (das liegt hier noch ungehört auf einem Stapel). Burton: „It’s almost like J-Mac broke me down and started me all over again. At that time, the only music I really knew was ‚Antiquity‘, a SteepleChase duo recording by McLean and Carvin, and late-period John Coltrane musc. Jackie took me back to Charlie Parker, Lester Young, Coleman Hawkins, Sidney Bechet, Louis Armstrong.“

    Cary ist drei Jahre älter und hatte davor schon mit der Band von Betty Carter gespielt – wie die von Art Taylor eine Talentschmiede für junge Jazzmusiker. Johnson ist über eine halbe Generation älter (Burton und McPherson waren 23, Cary 26, Johnson 38) und hatte u.a. mit er Big Band von Illinois Jacquet gespielt – er wirkt hier jedenfalls manchmal als Fels in der Brandung, als Ruhepunkt im oft sehr intensiven geschehen, aber sein dunkler Bass wirkt doch immer sehr beweglich.


    *) Auf der CD gibt es nach dem Titeltrack noch einen Radio-Edit von „So Gracefully“, für den knapp nicht ganz die Hälfte weggekürzt wurde – was für eine Idiotie!

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