Antwort auf: Enja Records

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Abraham Burton – Closest to the Sun | Aufgenommen wurde das Debutalbum von Abraham Burton am 11. und 12. März 1994 im Systems Two in Brooklyn (Mike Marciano) – aber es hat die geballte Energie eines Live-Sets. Das Quartett mit Marc Cary (p), Billy Johnson (b) und Eric McPherson (d) hatte davor zwar gerade zwei Abende live gespielt (Ende Februar, zwei Wochen vor den Studio-Sessions, im Visiones im Greenwich Village, wo Gust William Tsilis damals das Programm gestaltet hat und „who experienced the event as a cross between a revival meeting and a Coltrane concert circa ’64“ (Liner Notes von Gene Kalbacher). Die Energie im Opener, „Minor March“ vom Mentor Jackie McLean, ist atemberaubend. Und das Zusammenspiel des Quartetts ebenso. Wenn im Altsax das grosse Vorbild mal durchschimmert, finde ich das sehr verschmerzbar bei dem, was hier geboten wird. Und schon in „Laura“, der Ballade, die als zweites zu hören ist, klingt Burton eh anders, tiefer, noch schwerer als McLean – und tatsächlich fast wie ein Tenorsax, was Kalbacher zur Prophezeiung bringt, „which Burton may take up in the future“ (okay, vielleicht hat er das ja auch im Gespräch erfahren). Cary setzt in „Laura“ bis auf ein blumiges Schlussbouquet aus, McPherson schabt an den Besen auf der Snare, erst in er der zweiten Hälfte deutet er eine Art Shuffle an und es gibt ein paar Schläge mehr – und so wird das hier quasi zum Duett mit dem souveränen Bass von Billy Johnson. Dieser ist Mark Johnsons Bruder und bei Discogs ist sein erster Credit auf „Talking to the Sun“ (wo Mark auch mitspielt, der aber schon ein paar frühere Credits hat). Repeat.

Nach der Verneigung und dem Standard sind die Eigenkompositionen dran: „E=MC“ von McPherson, „Romancing You“ von Burton, „So Gracefully“ von Cary und „Corrida de toros“ wieder von Burton. Im ersten glänzt Cary mit einem wahnsinnig tollen Solo, Burton klingt hier schon deutlich nach McLean. Das zweite ist ziemlich catchy und wird über eine Art Samba-Beat gespielt – und wieder ist Cary zuerst dran und konstruiert erneut ein tolles Solo über den tänzelnden Groove von Johnson/McPherson. Auch Burton phrasiert hier unregelmässig, kehrt zwischendurch zum Thema zurück, rauht mal den Ton auf, kommt aber nicht ganz ohne Klischees aus. Carys Stück dauert fast 13 Minuten und ist neben „Laura“ wohl mein Highlight hier. Ein paar Klavier-Tupfer, dann ein Bass-Lick und schliesslich steigt Burton mit dem eingängigen Thema ein. Das ist hymnisch, es brennt an allen Enden und ist doch total geerdet. Burton spielt ein irre gutes Solo, das auch auf einer Impulse-Platte von 1970 oder so gut gepasst hätte. Wenn er nach sechs Minuten wieder das Thema spielt, könnte das auch zu Ende sein, doch natürlich kommt jetzt auch noch Cary zum Zug (und ganz zum Schluss deutlich kürzer dann auch noch McPherson) und ist einmal mehr toll. Irgendwie habe ich ihn trotz Betty Carter und Abbey Lincoln bisher nie so wirklich auf dem Schirm gehabt, sein eigenes Enja-Debüt ist auch nicht so beeindruckend, aber die zwei Alben dieses Burton-Quartetts sind wirklich beeindruckend, auch dank ihm. In „Corrida de Toros“ gibt nach einem Bass-Intro einmal mehr einen mitreissenden Beat und ein superbes Schlagzeugsolo, auf das ein langes, packendes Duo mit Burton folgt, der hier ähnlich brennt wie McLean – aber er erinnert hier nur im vokalen Gestus an seinen Lehrer.

Dann folgt mit „Left Alone“ eine weitere Verneigung vor McLean – und damit als zweitletztes* Stück eine weitere tolle Ballade – wieder mit Besen und einem dialogischen Bass, aber dieses Mal mit Klavier, das nicht in die Quere kommt, die Pausen von Burton füllt, da und dort etwas punktiert. Als eigentlichen Closer hören wir das Titelstück, einen Romp über einen kreisenden Beat mit toller einem Klaviersolo bevor Burton am Altsax einsteigt. Hier finde ich McPherson wieder sehr toll – und überhaut das ganze Quartett, wie Verzahnung, das Playing mit unglaublichem Biss und doch völliger Lockerheit. Dazu passt, wie Burton die Situation im Studio beschreibt (die Zitate stammen alle aus den ausführlichen Liner Notes): „I like studio experimentation […] It’s more like life that way. I like a burnin‘ rhythm section … and we like to let it happen I don’t tell the guys, ‚You have to play it this way.‘ And they don’t way that to me on their tunes. These guys are like a big pillow for me.“ – Was für einn Debutalbum!

Die Vernetzung (die es ja bestimmt auch früher bei Enja schon gab, aber nie so offensichtlich) wird in den Liner Notes hier für einmal offengelegt: Tsilis hatte schon die Arthur Taylor’s Wailers zu Enja gebracht („Mr. A.T.“, ich kenne es noch nicht), zu der Burton und Cary damals gehörten. Und nachdem er den Auftritt im Visiones hörte, hat er gemäss Kalbacher beschlossen, die Combo sofort aufzunehmen. Tsilis hat das Album gemeinsam mit Burton und McPherson produziert. Die beiden waren Kindheitsfreunde in New York, verbrachten lange Nachmittage damit, Duos à la John Coltrane und Elvin Jones zu spielen – Burton über seinen grossen, schweren Sound und die langen Jams mit McPherson: „he’d play so fat and full that I had to project in order to hear myself. It also comes from my extensive listening to tenor players“ – und wenig überraschend gehörte so einer auch zu den Lehrern von Burton: Bill Saxton. Michael Carvin wurde auf sie aufmerksam, wurde zu ihrem Lehrer und vermittelte später den Kontakt zu McLean.

Burton und McPherson studierten mit Stipendium an der Hartt School of Music der Hartford Universität, wo McLean das Programm für Afro-Amerikanische Musik leitete, das er selbst 1968 dort etabliert hatte. McPherson hat schon 1992 mit McLean aufgenommen („Rhythm of the Earth“) und später erneut auf „Fire & Love“ (das liegt hier noch ungehört auf einem Stapel). Burton: „It’s almost like J-Mac broke me down and started me all over again. At that time, the only music I really knew was ‚Antiquity‘, a SteepleChase duo recording by McLean and Carvin, and late-period John Coltrane musc. Jackie took me back to Charlie Parker, Lester Young, Coleman Hawkins, Sidney Bechet, Louis Armstrong.“

Cary ist drei Jahre älter und hatte davor schon mit der Band von Betty Carter gespielt – wie die von Art Taylor eine Talentschmiede für junge Jazzmusiker. Johnson ist über eine halbe Generation älter (Burton und McPherson waren 23, Cary 26, Johnson 38) und hatte u.a. mit er Big Band von Illinois Jacquet gespielt – er wirkt hier jedenfalls manchmal als Fels in der Brandung, als Ruhepunkt im oft sehr intensiven geschehen, aber sein dunkler Bass wirkt doch immer sehr beweglich.


*) Auf der CD gibt es nach dem Titeltrack noch einen Radio-Edit von „So Gracefully“, für den knapp nicht ganz die Hälfte weggekürzt wurde – was für eine Idiotie!

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