Antwort auf: Enja Records

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Gust William Tsilis – Pale Fire | Das nächste Album, das seit ca. zwei Wochen da ist und seit Tagen immer mal wieder in den Player geht – vielleicht das Album, das der quasi zugekaufte Stargast Arthur Blythe als Labeldebüt hätte machen sollen. Aber das wäre „Pale Fire“ gegenüber unfair, denn Tsilis („pronounced Chill-us“ steht in den Liner Notes) ist sein eigener Mann. Er war damals 31 Jahre alt und spielte seit sechs Jahren hauptsächlich Vibraphon (davor Percussion). Zu seiner Band gehören der Pianist Allen Farnham (auch etwas Synthesizer), Anthony Cox am Kontrabass, der Veteran Horacee Arnold (mit Jahrgang 1937 nochmal drei Jahre älter als Blythe) am Schlagzeug und Arto Tuncboyaci an Percussion. Vom Stargast stammt der OPener „Sister Daisy“, bewegt-zerklüftet mit wuchtigem Sax-Solo. Die übrigen Stücke stammen alle von Tsilis, es gibt viele Ostinato-Figuren, prominente Percussion (auch die Dumbek ist zu hören), spezielle Tonleitern (die byzantinische in „Insipid“, viel mehr als die Tonleiter in Auszügen zu spielen tut Blythe hier dann auch gar nicht, aber das passt sehr gut), ungrade Metren … dabei ist das ein tolles, in sich völlig stimmiges, total zugängliches Album, zu dem die „exotischen“ Aspekte natürlich beitragen, aber nicht dominieren. Die Band klingt super eingespielt, manövriert völlig entspannt durch das Material. Wenn Blythe sich in der ungewohnten Skala zurückhält und in „Bathsheba“ nur im Thema spielt, so ist er in „Smokey & Ruby“, dem Closer der ersten LP-Seite, nochmal sehr präsent: im Duo mit Tsilis nämlich, was sehr schön klingt.

Die zweite Hälfte öffnet mit „La Indomable (for Susanna)“, einer träge swingenden Riff-Ballade – den Liner Notes ist zu entnehmen, dass Tsilis ca. dreissig Sekunden benötigt habe, um das Stück zu komponieren. Das Ergebnis gibt ihm allerdings recht: schöne Stimmung, tolle Beiträge von den Vibes und dem Sax, starker Auftritt von Cox auch, der sowieso beim mässig geglückten Sound der Produktion mit seinem tiefen Bass wichtig ist. Dann folgt das Opus Magnum, der viertelstündige Titeltrack, eine mehrteilige Suite, benannt nach Nabakovs Roman. Gene Kalbacher schreibt in den Liner Notes, „atmospheric-yet-dense piece in long form, the epic title track is a symphonic work with four movements and an equal number of dynamic swells and shifts.“ – Tuncboyaci trägt hier verschiedenste Sounds bei, Farnham greift im Intro nochmal zum Synthesizer, Arnold spielt auch mal einen Backbeat und überhaupt toll, Blythe kriegt ein langes Solo – es gibt hier Verdichtungen fast bis zu Clustern, Störmanöver, Unterbrüche, Neuanfänge, Sphärisches zum Handgreiflichen … vielleicht will Tsilis hier etwas zu viel, aber unterm Strich finde ich das ein echt starkes Album und – weil unerwartet – eine sehr schöne Überraschung.

Die Aufnahme klingt allerdings ziemlich tot – das bessert sich etwas, wenn man ordentlich aufdreht und Blythes brennende Sax im Klangbild nach vorn tritt. Bruce Purse hat produziert, Gene Paul im Master Sound in Astoria, NY aufgenommen, als Daten finde ich beim Discogs-Eintrag zur LP „November 1986 and February 1987“, vielleicht November 1986 für die Aufnahme und Februar 1987 für den Mix, der im selben Studio ebenfalls von Paul erstellt wurde. Für sich genommen klingt vieles schon gut, nicht nur Blythe und ganz besonders die Vibes des Leaders sondern z.B. der Bass in „Bathsheba“, aber das Klangbild ist digital, kühl bis kalt und zu aufgeräumt – und die Drums klingen wirklich nicht schön.

Als nächstes steht eine kleine Vertiefung in das Werk von Marty Ehrlich an – „Song“ lief neulich schon wieder, ohne dass ich drüber geschrieben hätte, „The Long View“ bleibt leider unauffindbar, aber es sind noch drei Neueingänge zu verzeichnen, die in diesen frühren Zeitraum fallen, bei dem ich gerade bin (1988-91): „Pliant Plaint“, „The Traveller’s Tale“ und „Side by Side“.

Aus den Neunzigern sind dann drei Neueingänge von Abraham Burton da (zweimal am Altsax, dann am Tenor das anscheinend so superbe Album mit Eric McPherson als Co-Leader), das eine von Marc Cary, Ibrahims „African Suite“ und ein Orgel-Album von Alvin Queen, das als einziges der hier gerade genannten schon ein paar Male lief.

Wiederhören möchte ich noch „Shima Shoka“ (1990) von Aki Takase (und wo ich schon dabei bin vielleicht auch noch ihr „Alice“ mit Maria João und NHOP von 1990 und „Oriental Express“ von 1996), die zwei Live-Alben von Lee Konitz und dem Trio Minsarah, ein paar späte Alben von Franco Ambrosetti (und das grad neu gekaufte „Music for Symphony and Jazz Band“, schon von 1991) und dann ist noch ein Stapel mit yellowbird bzw. post-yellowbird Enja-Alben da (hat Aldinger inzwischen alles zu Enja zurück verlegt oder läuft yellowbird noch? meine jüngsten Enja-CDs sehen aus, wie vor 5-10 Jahren die yellowbird-Alben ausgesehen haben, Verpackung in Digipacks, aber auch Design) – und dann noch die Mittelmeer-Ecke (Castel del Monte, La Banda etc.)

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