Antwort auf: Enja Records

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Marty Ehrlich – Traveller’s Tale | Das zweite Album wurde am 30. und 31. Mai sowie 1. Juni 1989 in den Trixi Studios in München aufgenommen. Es gibt hier acht Stücke und nach der LP-Länge des Vorgängers etwas mehr Musik (55 Minuten). Ehrlich spielt Sopran- und Altsax, Klarinette und Bassklarinette, Strickland bis auf zwei Ausnahmen nur Tenorsax. Bobby Previte spielt wieder das Schlagzeug, am Bass ist neu Lindsey Horner dabei. „Short Cirle in the Long Line“ heisst der Opener, ein Groove-Stück mit unterschiedlichen Beats und einem tollen Solo vom Leader an der Bassklarinette (Strickland am Sopran). „The Reconsidered Blues“ ist eine Klage, ein Holler, in dem Stricklands wortloser Gesang von Ehrlichs Klarinette schattiert wird, während Previte an den Besen swingt und Horner ein tolles Fundament legt, fast so dunkel wie man es Cox gewohnt ist – das ist ziemlich ergreifend, und das Klarinettensolo sehr sehr schön (auf dem ersten Album ist die Klarinette glaub ich nur im durchkomponierten Overdub-Trio-Stück zu hören).

Das Titelstück ist fast neun Minuten lang und damit das längste hier. Ehrlich spielt hier Altsax und seine Linien werden von einem insistierenden Bass-Rhythmus auf einer Note und kurzen Einschüben von Strickland am Tenorsax begleitet, während Previte leise dazu trommelt. Das Tempo ist nicht stabil, schnelle Läufe zwischendurch führen zu einer fortlaufenden Verlangsamung und nach drei Minuten bleibt nur noch der Kontrabass übrig. Einfach gehaltene Linien entwickeln einen fast meditativen Charakter, irgendwann lässt Horner die Saiten schnarren, im Hintergrund steigen zunächst fast unwahrnehmbar leise die Bläser ein (und wieder eine Stimme?), Previte scheppert ein wenig, der Bass setzt aus. Aus dem lauter und intensiver werdenden Dialog der Saxophone entwickelt sich gegen Ende hin eine Kollektivimprovisation, zunächst im Trio mit Previte, dann steigt auch Horner wieder ein und mit einer Beschleunigung im Unisono endet das tolle Stück.

In Robin Holcombs „March“ präsentiert Horner am gestrichenen Bass das Thema über die Militär-Trommeln von Previte – was ist das, ein jig? Der Bass fällt irgendwann in eine schnelle Walking-Begleitung, Previte wird jazzy, Ehrlich und Strickland solieren an Sopran- bzw. Tenorsax. Das ist alles so dicht, dass ich wieder einmal auf die Zeitanzeige gucke und staune, dass noch längst nicht drei Minuten um sind, wenn Strickland übernimmt. Dann folgt noch ein Schlagzeugsolo, das den Weg zurück in den Stomp findet, doch im Outro spielen die Saxophone das Dudelsack-Thema gemeinsam und Horner bleibt beim Pizzicato.

In Teil zwei umrahmen zwei Klassiker zwei weitere Ehrlich-Kompositionen – und diese Klassiker haben es mir beide sehr angetan. Der erste ist „Alice’s Wonderland“ von Mingus, in dem die zwei Saxophonisten (Alt und Tenor) ihr blindes Verständnis einmal mehr demonstrieren, schon in der gemeinsamen Themenpräsentation, die sicherlich sorgfältig ausgearbeit wurde und dennoch sehr spontan wirkt. Erst nach knapp drei Minuten beginnt Ehrlichs Solo – das eine perfekte Balance zwischen Fröhlichkeit und Melancholie findet, ein paar Zitate und klassische Bebop-Riffs integriert. Stricklands Einstieg ist toll: er lässt einen für mehrere Takte glauben, dass auch er Altsax spiele. Doch der Ton wird dann etwas voller, ein paar tiefe Töne, später ein paar rauhe höhere verraten eindeutig das Tenor. Auch er jubiliert und klagt zugleich, und nach zwei Minuten finden die zwei wieder zum Thema zusammen.

Die gleiche Einheit demonstrieren Ehrlich und Strickland auch in „Melody for Madeleine“ wieder – vor den Soli (Altsax, Tenorsax) entsteht auch hier ein Dialog, eng am Thema bleibend, was auch durch die Betonung der Form durch Previte unterstrichen wird. „Plowshare People“ beginnt mit einem langsamen Bass-Riff, wieder über weite Strecken auf einem Ton gespielt. Die Bläser scheinen hier beide Klarinette zu spielen (wer wann Sopransax spielt ist das einzige, was angegeben ist) – und nicht zum ersten Mal denke ich an den ruralen Funk nicht nur von Jimmy Giuffre sondern auch von Bobby Jones – doch der zweite Teil hier geht in eine ganz andere Richtung, die Rhythmusgruppe spielt einen drängenden Puls, über den die Bläser wieder an Alt und Tenorsax in den Dialog treten. Am Ende verklingt das Stück wieder über das Bass-Ostinato vom Anfang.

Zum Abschluss dann die dritte Fremdkomposition, der zweite Jazzklassiker, „Lonnie’s Lament“ von John Coltrane. Horner spielt eine mittelschnell Kippfigur, die nicht weit vom „A Love Supreme“-Riff entfernt ist, Previte trommelt darüber einen Latin-Beat, Ehrlich am Sopran und Strickland am Tenor stellen das Thema vor und einmal mehr ist das eine enorm dichte Band-Performance mit begleiteten Soli, die auch als eine Art Verdichtung im Ensemble gehört werden können.

Ein Aspekt, der schon auf dem ersten Album zu beobachten ist: hier kommt nie Konkurrenz auf. Beide Saxer wissen um ihre grossen Qualitäten und können diese ausspielen, ohne dass es je zu einer Konfrontation kommen würde. Das ist doch ziemlich ungewöhnlich und führt dazu, dass die Band so integriert wirkt. Am enorm geschlossenen Gesamteindruck hier hat auch die Reduktion des Instrumentariums ihren Anteil: der Fokus auf Alt- und Tenorsax mit etwas Sopransax und Klarinette, ein wenig Bassklarinette und Stimme, führt dazu, dass das zweite Album geschlossener, vielleicht auch stimmiger wirkt – aber auch weniger abenteuerlich als das erste, das wirklich speziell ist. Ich will aber um Himmels Willen keins davon lieber mögen müssen!

Im Booklet gibt es dieses Mal keine Liner Notes, nur ein kurzer Text von Ehrlich, der die Titel der acht Stücke verbindet, Schwarz-Weiss-Fotos aller vier Musiker – und unten auf der Seite der Credits beim Verweis auf „Pliant Plaint“ auch ein Zitat aus der New York Times, das Album präsentiere „jazz that flies beyond the pigeonholes“ (12. April 1988).

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