Antwort auf: Enja Records

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Marty Ehrlich – Side by Side | Nummer drei und jetzt eine konventionellere Band mit Klavier, aber immerhin mit Posaune statt Trompete, dazu spielt Ehrlich jetzt auch selbst Tenorsax, es gibt einen Rückkehrer am Bass und einen Star am Schlagzeug: Marty Ehrlich (ss, as, ts, cl), Frank Lacy (tb), Wayne Horvitz (p), Anthony Cox (b), Andrew Cyrille (d). Skyline Studios, NYC, Januar 1991. Wieder acht Stücke, bzw. neun, da die letzten beiden im Booklet nur eine Nummer aber zwei Tracks kriegen, bis auf zwei alle von Ehrlich selbst. Im Opener und Titeltrack ergibt sich eine Spannung zwischen den liegenden Phrasen der Melodie und dem nervösen Beat von Cyrille, der von Cox und Horvitz sekundiert wird. Irgendwann fallen die Bläser auch in den schnelleren Beat ein, erst in der Mitte bricht Horvitz zu einem kurzen Solo auf, später ist Cyrille dann an der Reihe und spielt ein beeindruckendes kurzes Solo, bleibt anfangs nur auf den Trommeln, sehr melodiös. Sonst ist das wieder eine Band-Performance, in der die Bläser kollektiv improvisieren, sich alles aufs Engste verzahnt – das Klavier führt dabei zu einer Verdichtung, die mir durchaus gefällt – auch wenn sich das Klangbild natürlich stark verändert und nicht mehr so transparent ist.

Wenn Ehrlich allein über Cox‘ Bass mit „The Adding Song“ beginnt, höre ich eine Art Position zwischen Ornette Coleman und John Zorn (*1953, zwei Jahre älter als Ehrlich), ein wunderbar runder Ton, der dem Altsax Schwere und Gewicht eines Tenors gibt, doch mit diesem „Reissen“ an den Rändern, wie Zorn es auf die Spitze trieb. Das ist jedenfalls toll. Nach dem Intro steigt das Klavier ein, solo, mit nachdenklich schreitenden Akkorden, wozu sich dann die ganze Band gesellt, Lacy an der Posaune und Cyrille an den Drums improvisierend, die anderen beim Thema verharrend.

Von Mike Nock stammt das nächste Stück, „Hadrian’s Wall“ (die Zusammenarbeit von Ehrlich und Nock kenne ich noch nicht) – hier spielt der Leader das Thema am Sopransax, mit zweiter Posaune der gedämpften Posaune, vermutlich durcharrangiertem Klavier und einem sehr beweglich agierenden Bass, der dann ein nur vom Klavier begleitetes Solo spielt, bevor dann Ehrlich am Sopransax glänzt (der Ton!). In „Sugar Water“ ist Cyrille zurück und spielt zwischendurch eine Art Second-Line-Beat mit angedeuteten Rolls auf der Snare, während die Bläser in enger Abstimmung mit Klavier und Bass das unregelmässig phrasierte Thema spielen. Nach einem Klaviersolo ist Lacy an der Reihe mit einem singenden und zugleich tanzenden Solo – eine Wirkung, die davon verstärkt wird, dass Cox im Groove des Themas bleibt und Cyrille dahinter nur wenig aber gekonnt punktiert. Das Klavier greift immer mehr ein, Ehrlich gesellt sich riffend dazu (am Tenorsax, glaub ich), es entsteht ein dichter Dialog zwischen den beiden Bläsern.

„Stride“ ist eine kurze schnelle Nummer ohne Klavier mit abwechselnden Beiträgen von Altsax und Posaune, mit Dialog-Passagen, in die Cyrille zunehmend eingreift. Hier dauert das nicht mal drei Minuten, aber live könnte man sowas auch eine halbe Stunden dauern lassen und es wäre super. „Silent Refrain“ öffnet mit einem Klavierakkord, einer Pause, einem Kürzel vom Sopransax, verwischtes Klavier … und dann wieder Sopransax dazu, es scheint sich eine Art Thema herauszuschälen, bevor das Klavier pausiert – und ich erst realisieren, dass ja eine Klarinette ist. Ein impressionistisches Duo mit viel Luft. Perfekt, darauf Strayhorns „Johnny Come Lately“ mit seiner catchy Melodie und seinem trägen Swing zu programmieren – vom recht abstrakten Impressionismus direkt zum fast schon traditionellen Jazz mit gedämpfter Posaune und Klarinette und einem feinen Klaviersolo von Horvitz (den ich bisher übrigens überhaupt nicht greifen kann – das Sonny Clark Memorial Quartet mit Zorn, Ray Drummond und Previte liebe ich aber seit bald 30 Jahren sehr), hinter dem dann die Bläser zu riffen anfangen. Lacy und Ehrlich spielen danach ihre Soli, wieder teils von Riffs punktiert – und Cyrille spielt diesen Swing sehr toll.

Die letzten 13 Minuten gehören dem zweiteiligen erwähnten zweiteiligen Stück: „Time’s Counsel“ geht nach neun Minuten in „The Far Wet Woman“ über. Los geht es im freien Piano/Bass-Duo, das lyrischer wird, als sich ein gemeinsames – sehr langsames – Tempo etabliert. Nach dreieinhalb Minuten ein kantiger Akkord und dazu steigt Cyrille ein, auch frei spielend, während der Bass nur noch eine Art Down-Beats liefert. Dann lösen die zwei Bläser das Klavier und den Bass ein, eine Trio-Improvisation mit Cyrille folgt, growlende Posaune, repetitive Linien vom Saxophon. Gegen Ende des ersten Teils ist dann das ganze Quintett dabei, Horvitz soliert über oder unter den klagenden Bläserlinien und gestaltet dann solo den Übergang in den zweiten Teil, in dem Ehrlich über Piano und Bass bald ein Thema präsentiert, das auch aus Strayhorns Feder stammen könnte – oder vielleicht noch eher von Mingus. Lacy übernimmt dann den Lead, wieder mit Dämpfer, es folgen kurze Soli von Sax und Posaune, während Cyrille nicht nochmal auftaucht. Ein nachdenklicher Abschluss eines weiteren tollen Albums. Auf die Fortsetzung muss ich jetzt etwas warten (kann sein, dass es Juli wird, mal schauen – zu „Song“ vorspringen möchte ich gerade nicht).

Dass Ehrlich das Arrangieren beherrscht, ist hoffentlich aus den beiden vorhergehenden Posts klar geworden, sonst sei es hier noch einmal erwähnt, denn im so weit verbreiteten Format mit zwei Bläsern und p/b/d fällt es fast noch stärker auf, wie ungewöhnlich, wie durchdacht das alles ist. Es gibt hier schlicht keine Nummer, die einfach nur ein Blowing-Vehikel wäre. Und dennoch wirkt die Musik auf mich nur selten etwas kopflastig (auf dem Label-Debüt am ehesten) und obwohl es viel weniger ausgewachsene Solo-Improvisationen als im Jazz üblich gibt, habe ich nie den Eindruck, dass ich von einem der Beteiligten nicht genug zu hören kriege. Ehrlichs Schaffen funktioniert einfach anders, stellt die Band ebenso ins Zentrum, das Material selbst. Die oben erwähnten engen Zusammenhänge von Melodie und Rhythmus scheinen sich allerdings recht rasch abzuschwächen, das ist hier im Quintett weniger offensichtlich ein Thema, bleibt aber bestimmt innerhalb der einzelnen Stimmen eins. Denn die Soli – nicht nur von Ehrlich selbst – klingen auch hier noch sehr schlüssig und auf den Punkt, das Schlagwort des „instant composing“ hätte ich schon längst in den Ring werfen können.

Die Cover von „Traveller’s Tale“ und „Side by Side“ hat übrigens ein Oliver Jackson beigetragen – kannte ich nicht, aber spricht mich vom ersten Eindruck her an (das „Painting 10.25.84“, sechstes von oben in der linken Spalte, ist auf der Rückseite des CD-Booklets zu sehen):
http://www.oliverleejackson.com/oil-paintings-1970s-1990s.html

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