Antwort auf: Enja Records

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Marty Ehrlich – Pliant Plaint | Marty Ehrlich ist wohl so etwas wie der perennial sideman – in der Blue Note-Welt würde ich ihn mit James Spaulding vergleichen, mit dem er sich zwei seiner Instrumente teilt, das Altsaxophon und die Querflöte. Bei Ehrlich kommen hier noch Klarinette und Bassklarinette sowie Altflöte dazu. Mit Stan Strickland (hier an Sopran- und Tenorsax sowie Flöte) aus Boston, einem Kollegen seit den frühen Siebzigern, hat er einen zweiten Multiinstrumentalisten in der Band. Dazu kommen auf diesem ersten Enja-Album Anthony Cox am Bass und Bobby Previte am Schlagzeug. Cox war neben Drummer Pheeroan akLaff schon auf Ehrlichs Debut „The Welcome“ (Sound Aspects, rec. 1984) dabei. Die Aufnahme hier ist im April 1987 im Westrax Recording Studio in New York entstanden. Sieben Stücke hat Ehrlich zusammengestellt, allesamt Originals – und original ist die Musik auf jeden Fall auch. Greifen kann ich sie bisher noch nicht recht, aber das ist alles neu für mich (wie ich das tippe, sind noch „The Traveller’s Tale“ und „Side by Side“ aus den frühen Jahren sowie das spätere „Song“ da, mehr trifft hoffentlich bald ein … ein altes Projekt, endlich mal mehr von Marty Ehrlich zu hören).

Los geht es mit „Celebration in Capetown (Strangers No More)“, inspiriert von einer Rede, die ein ANC-Mitglied nach der Befreiung Südafrikas hielt. Der Leader an der Bassklarinette und Strickland an der Querflöte sowie Cox spielen unisono die Melodiekürzel des Themas über einen nervösen Beat von Previte. Es folgt ein längeres Bassklarinettensolo, in dem sich der Eindruck des Themas bestätigt: Rhythmus ist hier ebenso zentral wie Melodik. Das wird durch ein unbegleitetes Flöten/Bassklarinetten-Duo in der Mitte des Stückes bestätigt: Ehrlichs Musik braucht keine Rhythmusgruppe, um im Takt zu bleiben. Cox steigt dazu ein, die beiden Bläser verweben Linien und Riffs, Kürzel und freifliegende Melodien, über den sehr frei agierenden Bass. Erst nach geraumer Weile steigt Previte wieder ein, es entwickelt sich eine freie Kollektivimprovisation (mit durchlaufendem Groove, auch wenn den keiner ausspielt), aus der die vier am Ende in einen tighten Groove zurückfinden. Das mag verkopft wirken, etwas kühl, kalkuliert – aber es ist auch für den Bauch, es ist warm und sehr spontan.

Ehrlichs ganzes Schaffen durchblicke ich noch überhaupt nicht – nicht einmal die Enja-Auftritte bis hierhin, aber Julius Hemphill, Anthony Braxton, Muhal Richard Abrams, das Oktett von John Carter und Anthony Davis sind wichtige Bezugspunkte, aber auch das Human Arts Ensemble u.a. mit Lester Bowie und Charles „Bobo“ Shaw. Später kam auch noch Andrew Hill dazu und in einem Quartett von Braxton, in dem dieser Klavier spielte, übernahm Ehrlich den einzigen Bläser-Posten. Mit diesen Namen öffnen sich unterschiedlichste musikalische Welten: von der durchkomponierten Musik (hier mit dem kurzen „After After All“ präsent, einer Auftragsarbeit für New Winds in der Ehrlich via Overdub Flöte, Klarinette und Bassklarinette spielt), freie Musik, Free Funk und die grosse afro-amerikanische Tradition (inklusive Blues) nicht zu vergessen, die auf späteren Alben via Stücke von Strayhorn, Mingus oder Coltrane vorbeiguckt. Aber auch Bob Dylan oder Robin Holcomb gehören zum musikalischen Rahmen von Ehrlich. Und eine Band mit dem Labelkollegen Ray Anderson leitete er auch mal noch (auf Intuition ist das Konzert aus Willisau von 2009 erschienen – eine der CDs, die ich zur Enja-Nachbereitung schon mal herausgelegt habe).

Nach dem Klassik-Ausflug folgt der Titeltrack. Gestrichener Bass, darüber die klagenden Saxophone (Alt und Tenor) von Ehrlich und Strickland. Erst nach fast drei Minuten steigt Previte mit einem Roll ein, dann geht das Stück in rascher Abfolge durch eine Reihe von kurzen Phrasen/Themen mit wechselnden Beats, auch mal einem altmodischen Two-Beat, bevor Ehrlich zu einem äusserst stringenden Solo ansetzt – in der Logik seines Aufbaus erinnert das an Oliver Nelson, in der Gestaltung auch mal an Braxton oder an John Zorn. Verschiedene Wechsel in der Begleitung führen via kurze Kollektivimprovisation über zum kurzen Solo von Strickland. Auf dieses folgt eine weitere Kollektivimprovisation bzw. eine Art Schlagzeugsolo mit riffenden Bläsern.

Im atmosphärischen „After All“, mit über 10 Minuten das längste Stück des Albums, kriegen die drei Solisten – Strickland am Altsax, der Leader am Sopransax und Cox – einen jeweils anderen Rahmen für ihre Soli, während ein wiederkehrender Vamp das Geschehen verbindet. „You have to play a piece like this several times to get the right balance of elements“, zitiert Bob Blumenthal in seinen Liner Notes den Komponisten. Es sind quasi Freiräume mit Spielregeln, die in Ehrlichs Musik immer wieder auftauchen. Es ist nicht weit hergeholt, an Stücke aus der Neuen Musik zu denken, in denen es gewisse Regeln gibt, die jeweilige Umsetzung aber den Interpret*innen überlassen ist und damit kaum eine Aufführung der anderen gleicht, das Werk dennoch stets klar identifizierbar bleibt.

Nach „The All Told Blues“, dem kurzen zweiten Stück, in dem Strickland am Tenor das erste, bemerkenswert strukturierte und umgesetzte Solo spielt, ist mit „Willie Whipporwill’s Back Slidin‘ Heart Throb Two-Step“ auch im zweiten Teil ein Blues zu hören. Dieser ist ziemlich funky, wirkt ein wenig wie eine aufgeräumte Version von etwas, was Julius Hemphill zehn Jahre zuvor gemacht haben könnte. Ein Bass-Vamp, recht trockene funky Beats von Previte – und darüber ein fortlaufender Dialog von Alt- und Tenorsaxophon. Und nach dem Funk noch Flötenduett: in „What I Know Now“ spielt Ehrlich im Thema die Altflöte hinter dem Lead von Strickland, die Soli spielen sie beide an der regulären Querflöte, Strickland zuerst.

Ein Effekt, der diese Musik ist auf mich hat, ist die Dehnung der Zeit: diese 7:50 Minuten oder auch die 7:26 vom Opener wirken sehr viel länger, weil so viel Musik in ihnen steckt. Dabei ist das keine nervöse Postmoderne-Geschichte (wie sie Zorn damals gar nicht fremd war) sondern eine wirklich eigene Art der Verdichtung, die stets sehr musikalisch ist. Eine gewisse Reserviertheit bleibt allerdings, auch bei diesem dritten Anlauf, bei dem ich jetzt was zu schreiben beschlossen habe. Reserviertheit bei grosser Bewunderung und wachsender Wertschätzung.

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