Antwort auf: Enja Records

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Franco Ambrosetti – Music for Symphony and Jazz Band | Mit der ganz grossen Kelle wird hier angerichtet. Standards spielen sei „always one of my favorite activities“ gewesen, schreibt Ambrosetti im Booklet: „The main problem one encounters in realizing such as project like performing standards on a record is that this has been one a million times by hundreds of musicians“. Was also tun, um etwas ungewöhnliches und originelles hinzukriegen? Die Antwort hier: man nehme einen Jazzcombo (Ambrosetti-t/flh, Greg Osby-as, Wladyslaw Sendecki bzw. Simon Nabatov-p, Ed Schuller-b und Alfredo Golino-d), ein Orchester (die NDR Radiophilharmonie unter der Leitung von Dieter Glawischnig) und hole einen Arrangeur an Bord, der nicht einfach ein „with Strings“-Album machen will sondern grössere Ambitionen hat: Daniel Schnyder. Anders als bei ähnlichen solchen Projekte, so Ambrosetti, „the symphony orchestra plays as an independent unit, that means it does not merely accompany the soloists but fully integrates with the jazz group“. Schnyder setzt tatsächlich die ganze Orchesterpalette ein, die Instrumente und ihre Klangfarben, Techniken und Stilmittel „from baroque to serial“, wie Ambrosetti schreibt. Aufgenomen wurde vom 1. bis 6. Oktober im NDR Studio in Hannover, Wolfgang Kunert hat die Session produziert, Winckelmann hat sie wie es scheint noch im gleichen Jahr herausgebracht.

Los geht es mit dem „C-Jam Blues“ von Ellington: ein guter Move, dann hier kriegen wir gleich einen Mix aus dem total simplen, für viele vertrauten Thema und der eigenwilligen Klangwelt, die Schnyder schafft. Traditioneller Blues und halbwegs zeitgenössische Orchestermusik finden zusammen, Ambrosetti bläst ein glattes Trompetensolo – und das setzt den Ton für das ganze Programm. „Night and Day“ mit seinem reduzierten A-Teil und dem chromatisch absteigenden Changes im B-Teil ist für so ein Programm eine nahezu logische Wahl – und Osby steuert ein schönes Solo bei (Nabatov spielt Klavier, mit seinen üblichen Verdichtungen – eigentlich passt er ganz gut neben Takase, oder?). „Grave“ ist as erste von zwei Schnyder-Originals, eine Widmung an Johann Sebastian Bach und Chet Baker mit einem langen Orchesterteil, komponiert in c-Moll und in 13/4. Ambrosetti schält sich hier heraus, sein Flügelhorn (nehm‘ ich an) wird von den Holzbläsern umgarnt. Osby spielt das erste Solo, gefolgt von einem recht nervös aufspielenden Ambrosetti. Der Grave-Groove ist ziemlich toll, der Flow ist gut und das klingt schon ziemlich toll … auch ein wenig nach den modalen Sachen von Herbie Hancock aus den Sechzigern. „Well You Needn’t“ wird zunächst vom Orchester vorgestellt, dann übernehmen Klavier und Marimba, bevor Schnyder am Sopran- und Osby am Altsax gemeinsam zu hören sind. Nabatov streut ein paar Cluster ein, ein paar Monk-Akkorde hinter dem charmanten aber vielleicht wieder einmal etwas zu aufgeräumten Trompetensolo, hinter dem das Orchester länger pausiert – um umso effektiver wieder einzusteigen. Osby scheint sich im Solo mehr auf die Umgebung einzulassen. Nach einem Orchesterintermezzo steigt Nabatovs Klavier aus der tiefen Lage empor – unbegleitet zunächst, bevor die Saxophone dann zum Ausklang wieder das Thema präsentieren (die Trompete kriegt die Bridge).

Horace Silvers „Peace“ beschreibt Schnyder (der hier Track-für-Track-Kommentare beisteuert) als eine seiner Lieblingsballaden, was mit der zehntaktigen Form und den Tristan-Akkorden zu tun hat. Totale Reduktion bei grösster Offenheit, ein einfaches Motiv und seine Inversion. Ambrosetti stellt aber das Thema vor und schwebt dann über der Rhythmusgruppe im ersten Solo weiter, bevor Sendecki ein wunderbares Klaviersolo spielt – Schnyder nennt es „kristallin“ und das passt. „The Night Has a Thousand Eyes“ ist wieder gross angerichtet: aufsteigende Quinten und Fanfaren vom Orchester, nach etwas über einer Minute das Thema mit Ambrosetti und der Jazz-Rhythmusgruppe (wieder Sendecki), der mir nicht bekannte Drummer macht seine Sache recht gut. Ambrosetti präsentiert das Thema schnörkellos, es gibt den üblichen Latin-Vamp zwischendurch. Zum Auftakt von Osbys Solo macht sich auch das Orchester wieder bemerkbar – und es bleibt kontrastreich bis hin zum dramatischen, filmischen Schluss.

„Close Encounter“ ist das einzige Original von Ambrosetti hier – ein sphärischer Einstieg, dann ein zupackendes Solo von Osby, dann Ambrosetti, von Nabatov und Golino angetrieben aber nicht wirklich willens, auf ihre vielen Einwürfe zu reagieren. Dann eine zerklüftete Passage mit Rubato von der Jazzband zu Einwürfen des Orchesters, darüber immer noch Ambrosetti – das wird geräuschhaft und verklingt nach einem grossen Bläser-Akkord mit einem kurzen Jazz-Riff. „Inside the Dome“ ist Schnyders zweiter Beitrag als Komponist, eine Art polyphonische Impression eines riesigen Kuppelraumes im 5/4 mit lydischen und dorischen Skalen – und nicht zum ersten Mal klingt Ambrosettis Trompete ein wenig nach Miles Davis. Eine Solo-Violine mit Vibrato taucht aus dem Orchester auf, dann eine Bratsche (nehme ich an), das bleibt nah am thematischen Material und ist erneut stimmig – und mir drängt sich die Frage auf, ob weniger Standards und mehr Schnyder (er ist hier auch selbst nochmal am Sopransax zu hören) dem Album nicht gut getan hätten? Mit „Manteca“ folgt dann aber noch ein krachendes Finale, in dem Schnyder klassische Big Band-Sounds (ich fühle mich da und dort an Kenton erinnert) mit dem Orchester verweben. Osby spielt Lead-Alt mit den Streichern statt einer Sax-Section und Ambrosetti präsentiert mit zartem Ton das Thema. Osby steuert dann nochmal ein flüssiges Solo bei, schön gestaltet und vom Orchester wie der Rhythmusgruppe gut begleitet. Ambrosetti ist dann auch ziemlich stark hier (ist da nochmal kurz ein Sopransax hinter ihm zu hören? jedenfalls Sendecki am Klavierr) – aber der Eindruck ist schon, dass der Leader das schwächste Glied der mächtigen Kette ist, die hier geschmiedet wird. Ein durchaus ansprechendes Album mit vielen ungewöhnlichen Klängen, aber ob der Anspruch der völligen Integration eingelöst wird, mögen andere entscheiden. Ich höre das ingesamt als ein gelungenes Update von Third-Stream-Aufnahmen aus früheren Jahrzehnten, inklusive ansprechender Einverleibung von Orchesterklängen aus der ersten Jahrhunderthälfte. Die Wahl des Bassisten ist dabei natürlich passend, denn der Vater von Ed Schuller, Gunther Schuller, war bei einigen der wichtigen Third-Stream-Projekte massgeblich beteiligt, vom grossen Columbia-Album mit Miles Davis und Dimiti Mitropoulos bis zur Rekonstruktion von Mingus‘ „Epitaph“.

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