Konzertimpressionen und -rezensionen

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    gypsy-tail-wind
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    Zürich, Tonhalle – 11.07.2023 – Hommage: Heinz Holliger und Duo Gerzenberg

    Zürcher Kammerorchester
    Heinz Holliger
    Leitung
    Duo Gerzenberg Klavierduo

    MAURICE RAVEL «Le tombeau de Couperin», Orchesterfassung
    SÁNDOR VERESS «Hommage à Paul Klee», Fantasie für zwei Klaviere und Streichorchester

    JOSEPH HAYDN Sinfonie Nr. 98 B-Dur Hob. I:98

    Das war ein grossartiger Saisonausklang gestern mit dem ZKO in der Tonhalle. Leider nur ca. ein Drittel (oder Viertel) voll, was mir erlaubte, meinem billigen Platz gegen einen in der ersten Reihe der Galerie zu tauschen. Dass gestern der bisher heisseste Tag des Jahres war (35 Grad, das Gewitter ging dann grad los, als ich mich danach wieder aufs Velo schwang, apokalyptische Stimmung – zum Glück heil nach Hause gekommen).

    Los ging es mit Ravels „Le tombeau de Couperin“ – das ich damit zum dritten Mal in dieser Saison gehört habe. Davor im September 2022 beim Saisonauftakt des Kammerorchesters Basel unter Trevor Pinnock und im April (in Zürich) erneut mit dem KOB unter Umberto Benedetti Michelangeli, als einer der instrumentalen Blöcke, in denen Regula Mühlemann Pause machen konnte. Beide Male erschloss sich mir das seltsame Werk nicht so recht, doch gestern mit Holliger war plötzlich alles klar. Er modellierte diese seltsame Weltkriegsprogrammmusik, die wahnsinnig französisch ist, auf eine so behutsame Art und Weise, dass das Stück für mich erstmals wirklich lebendig, greifbar, verständlich wurde. Das war wahnsinnig schön musiziert, das ZKO spielte enorm nuanciert auf, Holliger schien fast für jedes Detail Anweisungen zu geben – ich hatte buchstäblich den Eindruck, dass dieses Feuerwerk an Klangfarben und Rhythmen gerade im Augenblick vor meinen Augen entsteht. Faszinierend!

    Dann das Werk, wegen dem ich – neben dem Dirigenten, der dafür natürlich verantwortlich war – das Konzert eigentlich besucht habe. Holliger sagt, er haben von Verress „alles gelernt“ – und führt gerne seine selten zu hörenden Werke auf. An diesem Abend war’s eine siebensätzige Paul-Klee-Vertonung – die zugehörigen Bilder gab es im Kleinstformat im Programmheft zu sehen. Das Werk ist mal ein Klavierduo mit Streicherteppich, mal ein Dialog der Streicher mit den beiden Klavieren, die auch selber in einem ständigen, lebendigen Dialog stehen, oft abwechselnd zum Einsatz kommen, eins ganz zart, eins eher zupackend, manchmal geradezu ruppig. Auch hier, wie bei Ravel, war alles ständig im Fluss und einmal mehr enorm nuanciert. Zwischendurch prasselten auch mal die Bögen auf die Saiten (ich bin mir nicht sicher, ob’s auch mal noch „col legno“ gab) – oder Willi Zimmermann, der grossartige Konzertmeister des ZKO klopfte bei einem Satz den Schluss solo auf den Körper seiner Violine.

    Dann Pause – und an sich längst totale Erschöpfung. Strenge Arbeitstage, die Hitze, dazu letztes Wochenende das unsägliche Züri Fäscht (das grösste Volksfest der Schweiz, heuer angeblich 2 Millionen Besucher*innen und die Stadt von Freitagnachmittag bis Sonntagabend eine Mischung aus Festhütte und Urinoir, wummernde Musik bis 5 Uhr früh – am Sonntag nur noch bis 23 Uhr – mehrere riesige Feuerwerke, das eine erst um 1 Uhr morgens) – also wenig geschlafen die Tage. Doch das bleiben hat sich gelohnt: die Haydn-Symphonie kam dunkel schattiert daher und glänzte dennoch, sie schien rhythmisch schleppend und zugleich tänzerisch zu sein, es gab immer wieder kleine Verzögerungen und danach Beschleunigungen, manchmal wirkte das auf mich wie ein Spielzeug, das aufgezogen und dann losgelassen wird. Je länger die Symphonie dauerte, desto faszinierter war ich. Der langsame zweite Satz liess mich – überraschend, denn generell liebe ich Haydns langsame Sätze sehr! – noch recht kalt, aber das Menuett und danach das Finale entwickelten sich endlos faszinierend. Zimmermann hatte auch da – wie in den beiden Werken davor – ein paar Solo-Einsätze und wie ich schon sagte: Ich finde ihn wirklich toll, sein Spiel wirkt auf mich irgendwie eiseskalt und sehr präzise und dennoch enorm lebendig (und gerade deshalb finde ich ihn auch auf der MDG-CD mit Konzerten von Frank Martin in „Polyptyque“ einen idealen Solisten – dort mit dem Musikkollegium Winterthur, wo er bis 2010 Konzertmeister war, danach wechselte er in der gleichen Funktion zum ZKO).

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #152: Enja Records 1971-1973 – 14.05., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
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    #12109923  | PERMALINK

    soulpope
    "Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"

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    Beiträge: 56,433

    @ „gypsy“ : Dank für die Rezension ….

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      "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
    #12149311  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Beiträge: 67,186

    Grad aus versehen meinen noch nicht in ein Word rüberkopierten angefangenen Festivalbericht gelöscht … aaaarg. Damit ist die Luft für heute dran raus. Vielleicht morgen noch ein Anlauf (ich hatte erst ein Viertel oder so, aber dennoch schon zwei Stunden dran gesessen, weil so viele Infos nicht in den Programmheften stehen – inzwischen schreib ich da auch mal Dinge raus, die ich mit dem Voice Recorder mitschneide, wenn es Ansagen z.B. von Zugaben gibt … oder ich kritzle mir rasch was ins Programmheft, das ich dann wieder entziffern muss). Nunja, shit happens (und das Handy klingelt bestimmt wieder ;-) )

    PS: Es ist eh zu heiss zum Denken!

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #152: Enja Records 1971-1973 – 14.05., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #12149811  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Das Lucerne Festival 2023 war sicher nicht meine liebste Ausgabe. In der Programmgestaltung etwas gar konventionell, fand ich. Aber klar: auch da gab es grosse (Enno Poppe mit Sarah Maria Sun!) und mittelgrosse (Reger mit den Berliner) Entdeckungen, unerwartete Überraschungen (Strauss mit dem Boston SO), überaus hübsche Unbekanntheiten (John Williams mit Anne-Sophie Mutter) und an den Rändern auch doch auch etwas neue Musik (Lucerne Festival Contemporary Orchestra und dessen „Leaders“, Uraufführungen kleinerer Werke von Jörg Widmann oder Elnaz Seyedi). Und Schönberg – es gab Schönberg zu hören! Unterm Strich fehlte mir aber der der neuen Musik gewidmete „Erlebnistag“ – den gab es glaub ich zuletzt vor der Pandemie, eine Matinée, dann kleinere Konzerte um 14 und 16 Uhr und dann das tägliche Abendkonzert – so, dass halt wirklich Festivalstimmung aufkommt, was dieses Jahr nur bedingt der Fall war.

    Das lag auch daran, dass das erste Matineekonzert bzw. eigentlich Mittagskonzert (unter der Woche 12:15) das ich eingeplant hatte, in dem Moment abgesagt wurde, als ich in Zürich in die Strassenbahn stieg, um rechtzeitig dafür in Luzern anzukommen: das Debutrezital von Isata Kanneh-Mason (sie trat schon als Orchestersolistin auf, aber noch nie als Headliner) musste wegen Luftverkehrsstörungen in London unterbrochen werden. Bedauerlicherweise – die Lage war schon am Montag vor zwei Wochen so – bemühte man sich nicht um Ersatz, telefonierte aber freundlicherweise die Karten-Inhaber*innen nach der E-Mail-Info auch noch durch (da stand ich dann am Perron, bereit in den Zug zu steigen). Ich bin dann sehr lange im Kunstmuseum Luzern vor den unglaublichen Fotos von Zanele Muholi gestanden, der südafrikanischen Fotografin, die das Leben queerer Menschen in ihrer Heimat aufs Eindringlichste dokumentiert und auch selbst in Rollen schlüpft für wahnsinnig schöne – natürlich doppelbödige, kritische – Selbstportraits.

    Repertoiremässig, so stellte ich schon im Vorfeld fest, hatte die letztjährige Ausgabe unter dem Motto „Diversity“, was natürlich von konservativer Seite als zeitgeistig verschrien wurde, halt schon einen Unterschied gemacht: das Rezital von Mishka Rushdie Momen z.B. war enorm viel interessanter programmiert, als das abgesagte von Isata Kanneh-Mason (sie hätte Haydns Sonate C-Dur Hob. XVI:50, Schumanns Kinderszenen und Chopins dritte Sonate spielen sollen). Ein bisschen Oper und Oratorium gab es auch dieses Jahr, aber nichts von der Art von „Porgy and Bess“ wie letzten Sommer.

    Entschieden habe ich mich am Ende für ein grosses (teures! – die Preispolitik wäre wohl ein Post für sich, aber ich verstehe sie eh nicht) Segment der „Orchesterparade“, wie sie traditionell zum Lucerne Festival gehört. Das hauseigene Festivalorchester – einst von Claudio Abbado gegründet, inzwischen von Riccardo Chailly geleitet – verpasste ich dieses Jahr wieder. Das war allerdings wie es scheint nicht unbedingt falsch, zumal Chailly (wieder einmal) abgesagt hat und das gebotene Repertoire auch nicht spannender gewesen wäre. Barenboims Auftritt (mit dem West-Eastern Divan Orchestra und Martha Argerich) in der ersten Woche, so wurde mir zugetragen, sei eine Katastrophe gewesen.

    Und als Yuja Wang nach beiden (!) Ravel-Konzerten (mit ihrem Pult- und Lebenspartner Klaus Mäkelä) nicht zum vierten Mal nach vorn stöckeln und auch keine Zugabe spielen wollte, wurde sie ausgebuht. Das Publikum dieser Rüpel, der sein Handy nicht ausschalten, nicht mit dem Profilierhusten an den zartesten Stellen aufhören kann. Gebuht wurde dann auch die Tage nochmal, als Aktivist*innen von Renovate Switzerland das Konzert des Bayerischen Sinfonieorchesters unterbrachen. Vladimir Jurowski reagierte souverän, drohte dem Publikum, das Konzert nicht zu Ende zu spielen (der vierte Satz von Bruckner 4 stand noch an), wenn es nicht mit dem Buhen aufhören und den beiden jungen Aktivist*innen kurz zuhören werde.

    Eine weitere allgemeine Beobachtung: wäre ich allabendlich nach Zürich zurück, hätte das sehr gut gereicht. Die Konzerte beginnen um 19:30 und waren fast immer um 21:30 zu Ende – inklusive 20–25 Minuten Pause. Das fand ich oft etwas gar kurz, muss ich sagen.

    29.08.2023 – KKL Luzern, Luzerner Saal – 40min 6:
    «PARADIES! CARTE BLANCHE FÜR DIE LUCERNE FESTIVAL CONTEMPORARY LEADERS»

    Musiker*innen des Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO)

    Marina Kifferstein Violine | Jack Adler-McKean Tuba
    James Austin Smith Oboe | Benjamin Mitchell Klarinette | Michelle Ross Violine | Cecilia Bercovich Viola | Edward Kass Kontrabass
    Stephen Menotti Posaune | Edward Kass Kontrabass
    James Austin Smith Oboe | Cecilia Bercovich Viola

    MARINA KIFFERSTEIN: Löyly, für Violine und Tuba
    GABRIELLA SMITH: Children of the Fire, für Oboe, Klarinette, Violine, Viola und Kontrabass
    HANNA EIMERMACHER: «aber unter uns bewegte sich alles …», für Posaune und Kontrabass
    IVA BITTOVÁ: Hoboj, für Viola und Kontrabass [für Oboe und Viola]

    An Neuer Musik mangelte es mir ein wenig – doch zwei schöne Konzerte, die davon mehr als genug boten, umrahmten meinen Festivalbesuch. Das erste von drei „40min“-Konzerten gehörte den Leaders des LFCO – es gab dieses Jahr für die 40min-Konzerte leider gar keine Infos ausser auf der Website (wo sie inzwischen schon wieder verschwunden sind) (die Namen oben wurden teils vom charmant moderierenden J. A. Smith genannt, teils entnahm ich sie dem Programmheft des Konzerts vom 2. September, s.u.).

    Das Sauna-Duo von Kifferstein war ein schöner Auftakt, ungewöhnlich in der Kombination der Instrumente – „Löyly“ ist das finnische Wort für den Dampf, der entsteht, wenn in der Sauna Wasser über die heissen Steine gegossen wird.

    Der Höhepunkt war für meine Ohre das folgende, längste Stück von Gabriella Smith, dessen Titel von Ralph Waldo Emerson entliehen ist. Es beginnt mit einem einfachen Groove, der ein wenig an Minimal Music erinnert, aber sich bald als vielseitiger entpuppt. Die beiden hohen Streichinstrumente und die Bläser jagen einander, spielen ihre Echos, verzahnen und umranken sich, der Bass legt darunter mal ein treibendes Ostinato, mal lange liegende Töne. Der Groove wird immer irrer, frenetischer – bis es zum Bruch kommt, zum Kipppunkt und nach dem Zusammenbruch quasi aus dem Nichts allmählich etwas Neues Gestalt annimmt, das sehr anders ist als das, war davor existierte. Das mag jetzt nach Programmmusik klingen, aber diese Erläuterungen (von Oboist Smith) sind für den Genuss des Stückes überhaupt nicht vonnöten.

    Eimermachers Stück bezieht sich auf Becket, „Krapp’s Last Tape“, und ist angemessen lakonisch, mit Posaune und Kontrabass. Zwei alte Wesen können man sich vorstellen, die sich auf instabilem Grund finden: „unter uns bewegt sich alles“, meinte Kass in seinen einführenden Worten. Auch hier gab es eine grosse Breite von Klängen und Texturen, Geräusche, Perkussives ebenso wie Rudimente von Melodien und Akkorden – und wie das erste Stück meist eher auf der stillen Seite.

    Den Ausklang machte dann ein kleines Lied von Iva Bittová, das selbst jene im zahlreich erschienenen Publikum verzaubert haben dürfte, die mit Neuer Musik sonst wenig anfangen können. „Hoboj“ wurde dabei nicht wie auf der Website angekündigt von Viola und Kontrabass gespielt sondern von … Oboe und Viola, wenn mich nicht alles täuscht? (Die Namen, ebenso wie der des Posaunisten und des Tubaspielers, wurden bei den Ansagen nicht genannt.)

    Ein Wort zur „40min“-Reihe, von der ich dieses Jahr drei von neun Konzerten hörte (wobei eines eine nachmittagfüllende Abfolge von Open-Air-Konzerten u.a. mit Sarah Willis und ihrer SarahBanda war, das ich leider verpasste): Die ca. 40 Minuten dauernden Konzerte finden um 18:20 im kleineren Luzerner Saal statt (der ist gross genug, als dass ich dort vor ein paar Jahren Stockhausens „Gruppen“ mit drei Orchestern und ein paar Hundert anderen Zuhörenden erleben konnte). Der Eintritt ist frei, Karten können ein paar Tage im Voraus reserviert bzw. online erstanden werden, wenn es nicht ausverkauft ist – war keines der drei dieses Jahr – gibt es auch vor Ort noch welche. Das ist alles sehr niederschwellig, ganz vorn gibt es Sitzkissen für Kinder, Dresscode (ist hierzulande eh kein grosses Thema, zum letzten Konzert am 7.9. bin ich ob der grossen Hitze auch im T-Shirt) gibt es nicht, es kommen einerseits Leute wie ich, die danach in die Abendkonzerte gehen, aber auch Luzerner*innen, die nach der Arbeit was trinken gehen und davor noch etwas Musik hören. Gefällt mir sehr, die Reihe!

    Di 29.08.2023 – KKL Luzern, Konzertsaal – Boston Symphony Orchestra 2

    Boston Symphony Orchestra
    Andris Nelsons
    Dirigent
    Anne-Sophie Mutter Violine

    JOHN WILLIAMS: Violinkonzert Nr. 2 (Schweizer Erstaufführung)
    Zugaben: Hedwig’s Theme, Helena’s Theme

    RICHARD STRAUSS: Tod und Verklärung op. 24
    MAURICE RAVEL: La Valse

    Das erste grosse Orchesterkonzert bot ein abwechslungsreiches Programm in grosser Besetzung. Für die schweizer Erstaufführung vom zweiten Violinkonzert von John Williams (Uraufführung unter seiner Leitung 2022 in Wien) erhielt Anne-Sophie Mutter völlig zu Recht riesigen Applaus. Das Werk kommt erwartungsgemäss in konventioneller Klangsprache daher, bietet aber sehr viel. Schon im „Prologue“ erklingt bald eine quasi-improvisatorische Passage der Solo-Violine, prägnante Rhythmik, weitgespannte Bögen, eine reiche Harmonik sind dann auch im folgenden Satz, „Rounds“ überschrieben, zu hören. Der dritte Satz, „Dactyls“, ist von flirrenden Glissandi durchzogen, natürlich im Dreiertakt, wie der Titel nahelegt. Wie der Prologue öffnet dann auch der „Epilogue“ mit einer aus dem Nichts auftauchenden Violine, später folgt ein letztes Duett mit der Harfe, die prominent mitten in der ersten Reihe platziert ist und schon in davor öfter prominent zu hören war. Auch die Schlagzeuger haben in diesem Werk viel zu tun (und viel Material auf der Bühne, siehe oben – die Bilder können wie üblich in einem neuen Tab gross geöffnet werden).

    Für die erste Tournee seit Pandemiebeginn gab Williams den Bostonern und Mutter zwei Zugaben mit, in denen dann noch gebührend geschwelgt werden konnte. Das Thema von Hedwig beginnt Mutter zunächst im Zwiegespräch mit einem Xylophon, allmählich stossen immer mehr weitere Instrumente dazu. Die kitschige Melodie wird schnell zum Virtuosenstücklein mit rasanten Läufen, irren Verzierungen, Pizzicato-Passagen, die Violine schraubt sich über dem Orchester in die Stratosphäre und stösst dann wieder zu diesem. Vielleicht fast ein wenig zu eingängig, aber auch das klasse gespielt. Das neue Thema von Helena (aus dem jüngsten „Indiana Jones“-Film?) ist dann noch elegisch, ruhiger in der Begleitung, mit mehr Raum für die singende Solo-Violine. Schön! Nach dem letzten Jahr, als ich Mutter in der Uraufführung von Thomas Adès‘ Violinkonzert „Air“ erstmals hörte, habe ich mich ihr durchaus dank dem Lucerne Festival (und wiederholten Hinweisen, die glaub ich von @atom kamen – die Gubaidulina/Bach-CD vor allem) inzwischen doch noch annähern können.

    Nach der Pause folgte nicht weniger als eine Epiphanie: ein Stück von Richard Strauss, das meinetwegen nicht im Programm hätte stehen müssen. Anders als bei „La Valse“ hatte ich bei „Tod und Verklärung“ wenig Erwartung – ich mag das pathetische Stück nicht besonders. Klar, Strauss konnte wahnsinnig gut Orchestrieren, seine Musik ist oft süffig und in ihrer Üppigkeit wirklich schön (so geht es mir besonders in der Oper immer wieder) – aber darauf, was hier passierte, konnte ich nicht vorbereitet sein: Das Boston Symphony Orchestra bot eine so mitreissende, perfekt gespielte Version von „Tod und Verklärung“, hellwach auf der Stuhlkante musiziert, brillant und in perfektem Zusammenspiel, dass ich schon nach wenigen Takten gefesselt und am Ende vollkommen begeistert war.

    Die Luft schien dann etwas raus zu sein – das war auch das eine länger dauernde Orchesterkonzert und nach dem Effort bei Strauss geriet „La Valse“ weniger gut, das Zusammenspiel war nicht mehr so perfekt. Dennoch: ein furioser Ausklang zu einem starken Konzert. So enttäuschend dieser erste Tag – mein Festivalprolog – begonnen hatte, so überzeugend schloss er.

    30.08.2023 – KKL Luzern, Luzerner Saal – 40min 7:
    «FETTE SOUNDS VON ENNO POPPE»

    Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO)
    Susanna Mälkki
    Dirigentin

    «Fette Sounds von Enno Poppe»

    Runde zwei von „40min“ war dann mein verfrühter Festivalauftakt. An sich hatte ich Dienstag den ganzen Tag zum Festival wollen, und dann ab Donnerstag wieder. Doch der Vorverkauf (der kaum je ausverkauften – da sind wir wieder bei der Preispolitik, es gab fast immer bis zuletzt noch viele sehr teure Karten) lief so rasant an, dass ich mich vertan hatte und zunächst eine Karte fürs erste statt fürs zweite Konzert der Berliner Philharmoniker gekauft hatte. Ich verlängerte also meinen Aufenthalt einfach um einen Tag und fuhr nach einem Homeoffice-Tag am Mittwochnachmittag nach Luzern, wo ich bis Sonntag blieb.

    Zum Einstieg gab es einen Vorgeschmack auf das LFCO-Konzert vom Samstag, bei dem „Fett“ von Enno Poppe gespielt wurde. Unter der Leitung von Susanna Mälkki fand eine Art öffentliche Probe statt, bei der längere Passagen durchgespielt, aber auch an verschiedenen Stellen an Details gefeilt wurde. Ich fand das einen äusserst spannenden Einblick. Mälkki hob Stimmen hervor, schärfte Akzentuierungen, arbeitete am Gleichgewicht der Instrumente – alles sehr wichtig in einem Werk, das mit Mikrotönen – genauer Viertel- und Achteltönen – arbeitet, wobei es zu irren Akkordaufschichtungen kommt: Ungetüme, die aus bis zu vierzig Tonhöhen bestehen werden hier aufgeschichtet, der Klang des Orchester wird buchstäblich fett, das Austarieren der Stimmen, die Präzision des Spiels dabei ein zentraler Teil des Erfolgs und eine grosse Herausforderung.

    30.08.2023 – KKL Luzern, Konzertsaal – Berliner Philharmoniker 1

    Berliner Philharmoniker
    Kirill Petrenko
    Dirigent

    MAX REGER: Variationen und Fuge über ein Thema von Mozart op. 132

    RICHARD STRAUSS: Ein Heldenleben. Sinfonische Dichtung op. 40

    Dann also das erste Konzert der Berliner, von einem tollen, teuren Platz ganz hinten auf einer der Galerien genossen – das eine, zu dem ich nicht wollte. Nochmal Strauss nach der Pause – hervorragend gespielt, aber ohne das „Wunder“ der Vorabends zu wiederholen, klar. Die Berliner arbeiteten dabei den so reichen Strauss-Sound vielleicht noch schöner heraus als die Bostoner am Vorabend. Hervorragend agierte dabei die Konzertmeisterin des Abends, Vineta Sareika-Völkner (netterweise wird in den Programmheften der Konzerte der Berliner wie beim LFCO die Besetzung mitgeliefert, bei den Bostonern und dem Gewandhausorchester war das nicht der Fall).

    Die richtig schöne Überraschung war der erste Konzertteil: Regers Mozart-Variationen, 1914 vollendet, über das Siciliano-Thema aus der A-Dur-Klaviersonate KV 331 sind ein wunderschönes Werk. Auch hier gibt es eine irre Klangvielfalt in den Variationen, in denen das Mozart-Motiv praktisch ständig durchschimmert. Den krönenden Abschluss macht dann ein Fugen-Ungetüm, wie ich es einfach lieben muss – klar, da klingelte dann ein Handy rein … aber das tat der Wirkung am Ende keinen Abbruch. Umwerfend!

    31.08.2023 – Luzern, Lukaskirche
    Debut Äneas Humm «Exploring Paradise»

    Äneas Humm Bariton
    Renate Rohlfing Klavier

    NIKOLAI MEDTNER: Vor einer heiligen Pforte, op. 3 Nr. 1 | Ich überlebte mein Verlangen op. 3 Nr. 2 | Des Wanderers Nachtlied op. 15 Nr. 1
    ALMA MAHLER: Bei dir ist es traut | Laue Sommernacht | Ansturm
    HENRY DUPARC: Extase | Phydilee
    ELNAZ SEYEDI: Die Zeiten – Versuch (über das Paradies) (Uraufführung)
    OTHMAR SCHOECK: Abendlandschaft op. 20 Nr. 10 | Frühlingsblick op. 5 Nr. 3 | Nachklang op. 30 Nr. 7
    RICHARD STRAUSS: Die Verschwiegenen op. 10 Nr. 6 | Wie sollten wir geheim sie halten op. 19 Nr. 4
    FRANZ SCHUBERT: Der Traum D 213 | Wanderers Nachtlied D 768 | Das Lied im Grünen D 917 | Im Abendrot D 799
    Zugaben: EDVARD GRIEG: Das alte Lied Op. 4 Nr. 5 | FELIX MENDELSSOHN: An die Entfernte Op. 71 Nr. 6

    Am Donnerstag fand das Mittagskonzert dann statt – wie in der Reihe üblich ein Debüt, dieses mal vom jungen Bariton Äneas Humm, den ich letzten Herbst noch ordentlich Covid-umnebelt in St. Gallen in einer guten Bologne-Aufführung hörte und ihm bei der Gelegenheit die damals (und ich glaub immer noch) jüngste CD abkaufte. Für Luzern hatte er ein Programm nach Wahl zusammenstellen dürfen, das ganz hervorragend funktionierte. Mit Medtner ging es eher dunkel los, Mahler lieferte meine ersten Highlights, „Phydilé“ von Duparc das nächste.

    Die Uraufführung der 1982 geborenen Elnaz Seyedi machte zwei kurze Umbaupausen nötig, da ein präpariertes Klavier nach vorn geschoben werden musste. Nebst einem grossteils gesungenen Text von Ahmad Shamlou (in der englischen Übertragung von A. Behrang) hat Seyedi Zeilen aus Ingeborg Bachmanns „Die gestundete Zeit“ und aus Ossip Mandelstams „Die Zeiten“ in Paul Celans Übertragung eingestreut. Ein düsteres, unheilvolles, sehr dichtes Stück mit grollender Klavierbegleitung, von der aus Hawaii stammenden Renate Rohlfing so souverän begleitet wie die konventionelleren Lieder. Rohlfing rezitierte gegen Ende auch einige Zeilen, wurde zu einer Art Echo und Gegenpart von Humm, der zeitweise ins Klavier hinein sang und sprach. Grosser Applaus, Seyedi natürlich erfreut (ich liess mein Handy in dem Moment liegen, aber auf dem Festival-Instagram-Account gibt es ein Foto von ihr mit den beiden Künstler*innen).

    Dass danach ein paar Lieder von Schoeck folgten – nur scheinbar konventionell, in ihrer Melodieführung bei genauerem Hinhören äussert eigenwillig – war perfekt. Mit Strauss und Schubert ging es dann – das Motto lautete ja „Paradies“ – um Liebe und um Träume, „Wandrers Nachtlied“ wirkte darin fast wie ein Fremdkörper. Mit der ersten seiner beiden Zugaben kippte das Paradies aber wirklich noch einmal in sein Gegenteil – diese Miniatur von Edward Grieg liess mir buchstäblich das Blut in den Adern gefrieren. Am Ende grosser Applaus – ein überaus gelungener Einstand.

    31.08.2023 – KKL Luzern, Konzertsaal – Berliner Philharmoniker 2

    Berliner Philharmoniker
    Kirill Petrenko
    Dirigent

    JOHANNES BRAHMS: Variationen über ein Thema von Joseph Haydn B-Dur op. 56a
    ARNOLD SCHÖNBERG: Variationen für Orchester op. 31

    LUDWIG VAN BEETHOVEN: Sinfonie Nr. 8 F-Dur op. 93

    Am Abend dann das zweite Konzert mit den Berliner, für das ich – auch am Tag des Vorverkaufsbeginns – noch eine einzelne Karte nachgekauft hatte. Ich sass auf dem obersten, dem vierten Balkon (es gibt im 1. Untergeschoss neben dem Parkett eine seitliche Parkettgalerie, dann vier Balkone mit seitlichen Galerien, diese seitlichen Einzelplätze mag ich sehr, aber sie sind – eine der mittlere Preiskategorien – ziemlich teuer, jedenfalls beim Festival inzwischen immer dreistellig, auch wenn man direkt hinter Scheinwerfern sitzt und wegen deren Hitze durch flirrende Luft guckt und ins Schwitzen kommt – eben: die Preispolitik …). Nun sass ich also in der neunten und letzten Reihe auf dem vierten Balkon, direkt unter dem Dach, geradeaus geht der Blick da in die ganze unter der Decke hängende Technik, es ist wärmer als sonst im Saal (die Luft blieb aber einigermassen gut, ich nahm ein paar Male mein Messgerät mit ins KKL, weil ich das bei den letzten Besuchen dort noch nicht hatte und immer neugierig bin).

    Es gab eine zweiteilige ersten Konzerthälfte mit zwei Variationen-Werken, die sehr gut zusammen passten. Brahms‘ Variationen über ein Motiv, das gar nicht von Haydn stammt, boten einen kraftvollen Auftakt, der danach vom erklärten Brahmsianer Schönberg erweitert wurde. Da noch ein kleines Gejammer über den konventionellen Betrieb: im Gegensatz zu den Programmheften z.B. des Tonhalle-Orchesters oder des Kammerorchester Basel finden sich leider in den Programmheften des Lucerne Festival keine Angaben zur Besetzung der jeweiligen Werke – gut, die ausgefallene grosse Schlagwerk-Batterie müsste ich auch bei den genannten nachher zuhause nachschauen … demnach würde ich zu dem Thema noch detaillierte Angaben durchaus begrüssen. Die Berliner spielten übrigens mit einer teils anderen Besetzung als am Vorabend, Sareita-Völkner sass am ersten Pult, aber als Konzertmeister agierte soweit ich den Fotos entnehmen kann wohl Noah Bendix-Balgley – und beide Male waren auffällig wenige Frauen zu sehen, leider weiterhin ein Thema bei dem Orchester.

    01.09.2023 – KKL Luzern, Konzertsaal – Gewandhausorchester Leipzig

    Gewandhausorchester Leipzig
    Herbert Blomstedt
    Dirigent

    ANTON BRUCKNER: Sinfonie Nr. 7 E-Dur WAB 107

    Am Tag darauf hatte ich gerade mal 70 Minuten Programm – aber was für welches! Nachdem ich schon am Vortag in die hervorragende, teils sehr krasse Ausstellung „Photo Brut“ im Museum Bellpark in Kriens bei Luzern ging, besuchte ich noch einmal die exzellente Werkschau von Zanele Muholi und freute mich, dass in den Tagen zwischen meiner beiden Besuche auch wieder Bücher mit ihren Fotos angekommen waren (ich gönnte mir den Katalog der Tate von 2021).

    Am Abend dann die grosse Bruckner-Dröhnung mit dem verehrten Herbert Blomstedt, vor ein paar Wochen 96 geworden. Er wurde vom Konzertmeister herein- und hinausgeführt, sass auf einem Klavierschemel, vor sich die geschlossene Partitur. Und sofort war die Magie wieder da, wie man sie von ihm kennt. Ich weiss gar nicht, was ich dazu überhaupt schreiben soll, ausser dass das einmal mehr ein hervorragendes Konzert war, dass der alte Blomi die jüngeren Dirigenten (und wie es scheint auch ältere Kollegen wie den unwilligen Chailly oder den müde gewordenen Barenboim) noch immer mühelos übertrifft. Viel tun muss er dafür nicht, aber sein Dirigat ist noch immer von grosser Präzision, seine langen Finger bewegt er weiterhin mit beeindruckender Feinheit. Selbst wenn da ein längst eingespieltes Team zugange war: schwer beeindruckend, denn die Aufführung entsteht ja doch im Augenblick – und nach Routine klang das keine Sekunde!

    Ein kleiner Exkurs vielleicht an der Stelle zu den Orchesteraufstellungen: endlich, dachte ich, als die Leipziger den Saal betraten, endlich die alte Aufstellung mit den zweiten Geigen am rechten Bühnenrand („Stereogeigen“ nenne ich das). Bei den Bostoner sassen – wie beim LFCO – die Celli rechts, bei den Berlinern die Bratschen. Die Bässe beide Male hinten rechts. Bei Blomstedt dann die Celli in der linken Mitte und dahinter die Bässe. So bin ich es inzwischen gewohnt, denn das ist die Aufstellung, wie Paavo Järvi sie mit dem Tonhalle-Orchester inzwischen seit einigen Jahren pflegt (und Blomstedt natürlich auch, wenn er zu Gast ist). Davor, in der Zeit unter Bringuier und auch bei den meisten Gastdirigenten, sieht es ähnlich wie bei den Bostonern aus, also Celli vorne rechts, Bratschen in der rechten Mitte. Die Bratschen vorn habe ich jedenfalls noch nicht oft gesehen. Dass ich die „Stereogeigen“ mag, hat sicher auch damit zu tun, dass ich auch bei Orchestern einen stärker kammermusikalischen Ansatz schätze, der auf aktives eigenes Hören der Musiker*innen ebenso sehr setzt wie auf die ordnende Hand des Dirigenten.

    02.09.2023 – KKL Luzern, Konzertsaal – Rezital Mao Fujita

    Mao Fujita Klavier

    FRÉDÉRIC CHOPIN: Polonaise cis-Moll op. 26 Nr. 1 | Polonaise es-Moll op. 26 Nr. 2 | Polonaise A-Dur op. 40 Nr. 1 | Polonaise c-Moll op. 40 Nr. 2 | Polonaise-Fantaisie As-Dur op. 61
    FRANZ LISZT: Klaviersonate h-Moll S 178

    Am Samstag ging es um 16 Uhr mit einem Rezital los, an das ich keine Erwartungen hatte – weil ich von Mao Fujita noch nie gehört hatte. Ich rechnete eher mit einem Hypervirtuosen als mit dem Poeten, als den er sich erwies. Sein vor allem frei rhythmisierenden Ansatz fand ich allerdings nicht so richtig überzeugend. In den Polonaisen Op. 26 tat ich mich sehr schwer. Als Op. 40 an der Reihe war, gefiel mir besser, was ich hörte, in Op. 61 fand ich ihn wohl am überzeugendsten.

    Wie den Polonaisen aus Chopins Op. 26 fehlte mir dann auch in Liszts Sonate immer wieder etwas die Härte, die Unbedingtheit, die diese irre Musik meiner Ansicht nach fordert. Dass früh im Konzert ein Handy störte, dass ich – weil von Beginn an nur das Parkett in den Verkauf gelangte – relativ eingezwängt sitzen und mir viel Gehuste anhören musste, half nicht direkt. Fujita ging mit der Handy-Störung souverän um, aber da kam etwas viel an Störendem zusammen, auf und vor der Bühne.

    Gut fand ich, dass Fujita die Polonaisen am Stück durchspielte – überhaupt war sein Auftreten völlig unprätentiös. Er schlurfte an den Flügel und fing zu spielen an, das Verklingen des Applauses kaum abwartend. Mangel an Sympathie war also wirklich kein Problem. Eindrücklich gespielt, keine Frage – aber für meine Ohren nur streckenweise überzeugend.


    02.09.2023 – KKL Luzern, Konzertsaal – Lucerne Festival Academy 4

    Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO)
    Susanna Mälkki
    Dirigentin
    Wu Wei Sheng

    ENNO POPPE: Fett, für Orchester (Schweizer Erstaufführung)
    UNSUK CHIN: Šu, für Sheng und Orchester (Schweizer Erstaufführung)

    IGOR STRAWINSKY: Le Sacre du printemps

    Am Samstagabend hörte ich dann das Lucerne Festival Contemporary Orchestra im Konzert – mit „Fett“, dem Orchesterstück von Enno Poppe (er war dieses Jahr Composer-in-Residence), einem Konzert für Sheng von Unsuk Chin und in der zweiten Hälfte Stravinsky „Sacre“. Da Chin und Wei für die Konzerteinführung angekündigt waren, bin ich für einmal hin (ich war in früheren Jahren schon bei welchen, die im grossen Konzertsaal abgehalten wurden, dieses Mal führte der Weg ins Auditorium, ein absteigender Raum unterhalb des Kunstmuseums im KKL-Komplex, den ich davor noch nie gesehen hatte. Wu Wei erklärte die Funktionsweise der Sheng bzw. seiner Sheng, einer chinesischen Blas-Orgel, die er von der traditionellen Variation (Pentatonik) zu einem chromatischen Instrument mit einem erweiterten Tonumfang umbauen liess – 37 Pfeifen und zahlreiche Klappen finden sich an seinem Instrument. Er spielte auch etwas vor. Chin stiess im Anschluss dazu und sprach über die Entstehung ihres Werkes, ihre anfängliche Skepsis, da in der koreanischen Musik ständige Ton-Schwankungen eine grosse Rolle spielen, wohingegen die traditionelle Sheng ganz klar tönen würde und für ihre Ohren fremd klang. Gehört habe sie Wu Wei bei einer Hochzeit gemeinsamer Bekannter in Berlin – und danach sei klar gewesen, dass sie für Wei komponieren müsse.

    Im Konzert überzeugte das von Mälkki sehr präzise geführte Orchester mit seinem unglaublichen Elan. Soweit ich das mitgekriegt hatte, liegt die Altersobergrenze für die Teilnahme bei 32 Jahren, dass die Konzerte auch unter der Überschrift „Lucerne Festival Academy“ laufen, weist auch darauf hin, dass es sich hier um eine Art Festival-Jungendorchester handelt, voller hervorragender Nachwuchsmusikerinnen (ich gendere hier mal nicht, um die Berliner auszugleichen). Spielfreude und Abenteuerlust zeichnen das Orchester aus.

    Die Aufführung von Poppes „Fett“ fand ich überzeugend. Etwas, was ich oben zur öffentlichen Probe nicht erwähnte, ist die ständige Bewegung (vielleicht eine Parallele zum Beckett-Stück beim LFCO Leaders Kamermusik-Konzert?), in der sich alles stets befindet. Es gibt in all diesen Akkordschichtungen einerseits stets Melodien – manchmal pointiert als kleine Kürzel z.B. bei den Violinen oder den Holzbläsern, andererseits entstehen diese ständig aus den aufgefächerten Akkorden. Und diese Akkorde selbst folgen natürlich keiner irgendwie funktionalen Harmonik sondern bewegen sich ebenfalls ständig. Dabei gibt es Augenblicke, in denen fast konventionell klingende Modulationen stattfinden – doch sofort entzieht Poppe uns wieder den Boden unter den Füssen. Er verweigert sich hier allem, was wir an Erwartungen an einen „Orchesterklang“ mitbringen. Das ist sehr sinnliche Musik, die – überraschend bei ihrer Dichte – immer wieder Räume öffnet.

    Dann der grosse Auftritt von Wu Wie, dessen Instrument sich im Konzert als wahnsinnig wandelbar und vielfältig beweist, klanglich zwischen Oboe, Mundharmonika oder Akkordeon changierend. Über dreitausend Jahre als sei das Instrument, entnehme ich dem Programmheft, von ihr hätten sich europäische Instrumentenbauer die Funktionsweise von Mundharmonika und Akkordeon abgeschaut. An einen Schnabel anschliessend finden sich diverse Bambuspfeifen, die jeweils von einer Metallzunge durch die Atemluft in Schwingung versetzt werden. Töne werden sowohl beim Aus- wie auch beim Einatmen erzeugt. „Šu“ forscht einer „Sehnsucht nach dem fernen Klang“ nach: schon in ihrer Kindheit hatte Chin die koreanische Variante der Sheng aus der Ferne von einem Berg spielen gehört. In ihrem Konzert zieht sie das Instrument in den Sog ihrer eigenen, an der westlichen Avantgarde geschulten Musikwelt hinein. Es gibt Verdichtungen und Entspannungen, das Orchester verschluckt die Sheng, immer andere Instrumente verbinden sich mit ihr und so wird umso eindrücklicher klar, welcher Reichtum an Klangfarben in diesem seltsamen Gebilde steckt. Da war natürlich eine Zugabe nötig, ein fünf- oder sechsminütiges Solo-Stück, das noch einmal die erstaunliche Klangvielfalt der Sheng demonstrierte und die Leute am Ende buchstäblich aus den Stühlen riss.

    Nach der Pause dann Stravinsky – und hier war sie, die hämmernde, pochende, vibrierende Unbedingtheit, die mir in der Liszt-Sonate gefehlt hatte. Klar, das ist eine später und sehr andere Klangwelt, doch der Wagemut, mit dem das Orchester zugange ging, ist wohl vergleichbar mit dem, den ein*e Pianist*in braucht, um sich an Liszts Sonate zu versuchen. Ich bin kein grosser Stravinsky-Fan (auch kein Ablehner), doch hier passte schlicht alles – eine Wucht, umwerfend!

    03.09.2023 – KKL Luzern, Konzertsaal – Mozart & More

    Orchestra di Padova e del Veneto
    Wolfram Christ
    Viola und Musikalische Leitung
    Sabine Meyer Bassettklarinette

    JÖRG WIDMANN: The last rose of summer. Ein Abschiedslied für Viola und kleines Orchester (Uraufführung)
    WOLFGANG AMADÉ MOZART: Klarinettenkonzert A-Dur KV 622
    FRANZ SCHUBERT: Nr. 5 Entr’acte nach dem dritten Aufzug aus der Bühnenmusik zu Rosamunde, Fürstin von Zypern D 797 | Sinfonie Nr. 3 D-Dur D 200

    Am nächsten Morgen gab es ein Matinee-Konzert, mein vorläufiger Abschluss in Luzern – es folgte noch ein umwerfender Epilog ein paar Tage später. Wolfram Christ, einst wie Sabine Meyer Gründungsmitglied des Lucerne Festival Orchestra unter Abbado, gab mit diesem Konzert seinen Abschied als Solist. Jörg Widmann komponierte aus diesem Anlass ein kleines, ruhiges, wunderschönes Abschiedslied. Als Grundlage nutzte Widmann ein populäres irisches Lied, das ihm aus der Zeit als Principal Conductor des Irish Chamber Orchestra vertraut war, „The Last Rose of Summer“. Ein letztes Mal, so der Gedanke, solle hier die Schönheit von Christs verschattetem Bratschenton zu hören sein – doch sei das Volkslied „nur eine von mehreren musikalischen Reminiszenzen, die somnambul und irreal aus der Vergangenheit in diese kleine stück kurz herüberleuchten und wieder verschwinden. Eine überreife Süsse und Melancholie schween über dem Stücke. Alles ist bewusst einfach und liedhaft gehalten. Das Stück will nicht mehr sein als ein kleiner Abschiedsgruss, beseelt und innig“ (Widmann im Programmheft).

    Ein wunderbarer, etwa zehnminütiger Auftakt in ein sehr schönes Konzert, das schon wegen des kleineren Formats des Orchesters und vor allem wegen des kammermusikalischen Ansatzes gar nicht erst mit denen der grossen Orchester konkurrieren muss. Es folgte Sabine Meyer mit ihrer Bassettklarinette und dem Konzert von Mozart – immer wieder eine Freude, wie sie dieses spielt, ohne Mätzchen direkt auf den Kern zielend. Ähnlich liess Christ das Orchester aufspielen, fast ohne Vibrato, gradlinig, ja geradezu schlicht – umso schöner tritt dadurch die überirdische Musik von Mozart in den Vordergrund.

    Schubert machte den Abschluss, das zarte Andantino, Nr. 5 aus der Bühnenmusik von „Rosamunde“, ein Motiv, das Schubert später sowohl Im a-Moll-Streichquartett D 804 sowie im dritten der Klavierimpromptus D 935 wieder zu finden ist. Unmittelbar daran angeschlossen die dritte Symphonie, im Sommer 1815 vom achtzehnjährigen Komponisten in nur neun Tagen geschrieben. Vielleicht die erste Symphonie, in der Schuberts eigene Tonsprache zu hören ist. Nach dem recht wuchtigen aber beschwingten Einstieg über weite Strecken ein tänzerisches Werk, das durchaus auch mal derb wird, übertreibt, in dem verschiedene rhythmische Ebenen nebeneinander herlaufen, Kammermusikalisches, Pastorales und die Wiener Vorstadt heraufbeschwörendes nebeneinander Platz findet. Mit einem Rausschmeisser all’italiana schliesst die Symphonie, einem „Presto vivace“, das durchaus an Rossini gemahnt – die Opernhaftigkeit, die Theatralik der ersten sechs Schubert-Symphonien ist ein Punkt, der mir von Holligers Interpretationen mit dem Kammerorchester Basel in bester Erinnerung ist (exemplarisch im Konzert gehört mit Nr. 4 und Nr. 6).

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    soulpope
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    @ „gypsy“ : Dank für die geteilten Erinnerungen in Schrift und Bild …..

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    gypsy-tail-wind
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    03.09.2023 – Basel, Stadtcasino – Sinfonie mit Orgel

    Kammerorchester Basel
    Nodoka Okisawa
    Leitung
    Anastasia Kobekina Violoncello
    Simon Peguiron Orgel

    GUY BOVET: Divertimento für Violoncello, Orgel und Orchester (Auftragskomposition, Uraufführung)
    EDWARD ELGAR: Konzert für Violoncello und Orchester in e-Moll
    Zugabe: VLADIMIR KOBEKIN: Gallardo (Variations on an Ancient Theme for Violoncello and Tambourine) (mit Tilmann Collmer, Tamburin)

    CAMILLE SAINT-SAËNS: Sinfonie Nr. 3 in c-Moll «Orgelsinfonie» (bearbeitet als Konzert für Orgel und Orchester von Guy Bovet)

    Ein kleiner Exkurs, bevor noch der Epilog aus Luzern forgt: die Saisoneröffnung des Kammerorchesters Basel.

    In ungewöhnlich grosser Besetzung bestritt das Kammerorchester Basel vor einer Woche seinen Saisonauftakt – am selben Sonntag, an dem ich noch die Matinée in Luzern hörte. Am Pult stand Nodokawa Okisawa, eine junge japanische Dirigentin. Und gleich zwei Solist*innen waren dabei: Anastasia Kobekina am Violoncello und Simon Peguiron an der Orgel.

    Los ging es mit einer Uraufführung von Guy Bovet, der in der Konzerteinführung damit kokettierte, dass er eher der Gebrauchsmusik als dem ernsten Komponieren zuspreche. Sein Divertimento für Violoncello, Orgel und Orchester scheint das erste Werk für diese Besetzung zu sein – ein viertelstündiger musikalischer Scherz, farbenfroh mit Kuckucksrufen, Schwanengesängen, einem entgleisenden Orgelchoral und fast durchgängig stampfenden, stapfenden, tapsenden Rhythmen – und wie mich dünkte oft mit Orgelklängen, die mehr an den Roller Rink denn an eine grosse Konzertorgel erinnerten. Belassen wir es dabei?

    Die erste Konzerthälfte – aufgekratzte Stimmung zum wie immer fast vollen Saal, Ansprachen zum Saisonbeginn, sommerliches Wetter, sehr stickige Luft (wie leider immer im noch nicht lang renovierten Basler Stadtcasino) – ging dann aber richtig gut weiter. Mit einer leidenschaftlichen, fokussierten Interpretation von Elgars Cellokonzert nämlich. Kobekina war sehr überzeugend, das Orchester war ihr gewachsen – geballte Frauenpower jedenfalls. Natürlich war eine Zugabe gefordert und wurde auch geboten: Kobekina spielte die „Gallardo“, die ihr Vater Vladimir Kobekin für Cello und Tamburin komponiert hat, der Schlagzeuger des KOB durfte dafür nach vorne. Mitreissend auch dieses kurze Stück (in der Tube zu finden bei Interesse).

    Nach der Pause folgte die Orgelsymphonie von Camille Saint-Saëns, aber nicht mit dem recht kleinen Orgelpart, wie er vom Komponisten vorgesehen ist, sondern in einem Arrangement, das Guy Bovet 2015/16 davon eingerichtet hat, wofür dem Orchester da und dort Solostimmen entzogen und der Orgel zugewiesen wurden: „Organist:innen, die sich das Werk vornehmen, dürften grundsätzlich frustriert sein. Einige Akkorde sind es nur, illustrative Farbkleckser, die sie beisteuern dürfen“, wird Bovet im Programmheft zitiert. Das Orchester wird also verkleinert (immer noch so, dass die Besetzung fürs KOB an der Obergrenze ist), die Orgelpartie wird dafür ziemlich brillant und virtuos – eine Herausforderung natürlich besonders in den beiden Sätzen, in denen Saint-Saëns sie gar nicht erst erklingen lässt. „Dass Saint-Saëns uns verzeihen möge! Da wir bis auf eine Ausnahme (der Ansatz einer Kadenz im Finale) die äusseren Dimensionen der dritten Sinfonie strikt respektiert haben, wurde das Material des Solisten aus dem Orchestermaterial gewonnen. Das Ergebnis ist, dass die Orgelsoli nie sehr lang sind. Wir haben es viel eher mit einem Dialog zwischen Orgel und Orchester zu tun, vergleichbar demjenigen innerhalb des Orchesters in Abschnitten, wo die einen die anderen begleiten um umgekehrt.“ Das funktionierte für meine Ohren ziemlich gut – ist aber ein Thema, bei dem bei mir keinerlei Emotionen im Spiel sind. Auch nicht durch Bovets Bearbeitung ins Spiel gekommen wären.

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    gypsy-tail-wind
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    07.09.2023 – Luzern, Lukaskirche – Debut Isidore String Quartet

    Isidore String Quartet:
    Phoenix Avalon Violine | Adrian Steele Violine | Devin Moore Viola | Joshua McClendon Violoncello

    JOSEPH HAYDN: Streichquartett C-Dur, Op. 20 Nr. 2, Hob. III:32
    ARMAN GUSHCHYAN: Forever Is Composed of Nows (Uraufführung)
    FELIX MENDELSSOHN: Streichquartett Es-Dur, Op. 44 Nr. 3

    Der Epilog geht relativ schnell: ein letzter Tag in Luzern, Mittags-, 40min- und Abendkonzert, zweimal das Isidore String Quartet und zum Abschluss das Stifterkonzert der EvS Musikstiftung.

    In der Lukaskirche mit ihrem knarrenden (modernen) Sitzgebälk debütierte das 2019 von vier Studenten der Juilliard School gegründete Isidore String Quartet. Der Name ist von Isidore Cohen entliehen, einem der frühen Mitglieder des Juilliard String Quartet, und wie dieses möchte das Isidore Quartet auch bekanntes Repertoire so spielen, als sei es neu. Das Quartett spielt auch Konzerte für Menschen, die nur begrenzten Zugang zu (klassischer) Musik haben. Erst 2021 konnte das Isodore String Quartet seine Konzerttätigkeit aufnehmen, gewann bald ein paar Preise und wurde nun auch nach Luzern eingeladen.

    Ein beschwingtes Quartett von Haydn und das „rothaarige Stiefkind“ unter Mendelssohns Quartetten, wie Bratschist Moore, der sich um die Ansagen kümmerte, es nannte, umrahmten dabei eine Uraufführung vom 1981 geborenen Arman Gushchyan, „Forever Is Composed of Nows“. Im Programmheft wurde die Spieldauer als „ca. 8 Minuten“ angegeben – es dauerte aber fas 20 Minuten. Jedenfalls war das ein substantielles Werk in mehreren Teilen. Der Titel ist einem Gedicht von Emily Dickinson entnommen und „lässt sich als Plädoyer für ein intensives, hellwaches Erleben des Jetzt lesen, doch auch die komplementäre Sichtweise klingt darin an: Die Gegenwart gewinnt ihren Sinn erst durch den Bezug zum Fortdauernden“ (Programmheft). Dissonante Liegetöne, sich allmählich gegeneinander verschiebend, sich auffächernd. Daraus steigt ein einfaches Motiv, das die nächsten Minuten dominiert. Dann eine Generalpause, ein stiller Neuanfang. Über liegenden Cellotönen verwachsen die anderen drei Streicher zu einer engen Einheit, die phasenweise wie eine Orgel oder ein Akkordeon klingt. Allmählich schleichen sich einzelne disharmonische Töne ein, eins der Instrumente wird eher geschabt als gestrichen, die Irritationen nehmen zu. Eine weitere, kürzere Generalpause, und der erste Ton des ursprünglichen Motivs erklingt. Doch dann wieder Liegetöne, gefächert, mit der Zeit absinkend, aus dem Ruder laufend, die Form verlierend, dissonanter, manchmal fast gegeneinander sägend. Gegen Ende scheint eine Art Auflösung einzutreten, gefunden oder erreicht zu werden. Einzelne Stimmen steigen aus dem Ganzen heraus, wagen ein Motiv, eine Melodie. Wie sich am Anfang das einfache Motiv aus einem ungeordneten Klangwelt erhebt, so taucht es am Ende fragmentarisch wieder auf, um mit dem Chaos gewissermassen Eins zu werden.

    Was er hier vertont, so der Komponist im Programmheft, ist „die Verwundbarkeit des ungeschützten Seins und der Wille zum Kampf. Es ist die stille Betrachtung der Welt in dir und ausserhalb von dir und das laute Feiern des Lebens. Es ist die Komplexität und Einfachheit der Dinge in ihrer engsten Koexistenz. Aber die Unausweichlichkeit des Jetzt erhält nur im Licht des Bildes der Ewigkeit Tiefe und das Potenzial von Bedeutung … des Bildes, das du sehe kannst … – jetzt.“

    Gushchyan weiter: „Dieses Werk ist eine Erkundung der Poetik des gegenwärtigen Augenblicks, der Art und Weise, wie wir ihn und uns selbst darin wahrnehmen und erleben – im Fliessen der Schatten von Bedeutungen, Energien von Gefühlen und Empfindungen anderer Realitäten, die in Klängen und Musik entstehen. Wenn du in dieser turbulenten Zeit lebst, in der tektonische Verschiebungen stattfinden und die Geschichte der kleinen und grossen Dinge, der Menschen und Konzepte, zusammenbricht, während dein persönliches Leben gezwungenermassen neue Züge annimmt und du nur versuchen kannst, eine Erkennbarkeit für dich selbst aufrechtzuerhalten, dann ist im Wirbelsturm der Veränderungen nichts wichtiger für dich als der Moment des Jetzt.“ – Zeilen, die nachdenklich stimmen (und die stimmen, leider – und Zeilen, die mich wünschen lassen, das Programm wäre zweisprachig, der „Wirbelsturm“ war wohl einst ein „maelstrom“?).

    Mendelssohn bot danach einen wunderbaren, natürlich deutlich harmonischeren Ausklang – und mich dünkte, das Kontrasprogramm erlaubte durchaus einen neuen, unverstellten Blick oder besser: ein frisches Ohr darauf.

    07.09.2023 – KKL Luzern, Luzerner Saal – 40min 9:
    «Auf sechzehn Saiten»

    Isidore String Quartet:
    Phoenix Avalon Violine | Adrian Steele Violine | Devin Moore Viola | Joshua McClendon Violoncello

    JOHANN SEBASTIAN BACH: Contrapunctus I aus «Die Kunst der Fuge» BWV 1080
    FELIX MENDELSSOHN: Streichquartett Es-Dur, Op. 44 Nr. 3

    Um 20 nach 6 spielte das Isidore String Quartett dann noch einmal, aber jetzt im Luzerner Saal des KKL. Angekündigt waren, wenn ich mich nicht irre (die Website ist wie gesagt weg und im Festivalprogramm gibt es zu den 40min-Konzerten nur eine Überblickseite) die ersten vier Contrapuncti aus Bachs „Kunst der Fuge“. Dass das Quartett sich mit dem ersten begnügte, war sinnvoll, denn das danach erneut gespielte Mendelssohn-Quartett dauert eine halbe Stunde – und noch etwas länger, wenn nach jedem Satz applaudiert wird (was die vier sichtlich gelassen nahmen).

    07.09.2023 – KKL Luzern, Konzertsaal – räsonanz, Stifterkonzert

    Les Siècles
    François-Xavier Roth
    Dirigent
    Sarah Maria Sun Sopran
    Isabelle Faust Violine

    ENNO POPPE: Öl, für Ensemble
    Augen, 25 Lieder für Sopran und Kammerorchester (Worte von Else Lasker-Schüler) (Schweizer Erstaufführung)

    GYÖRGY LIGETI: Violinkonzert

    Das letzte Konzert, das ich beim Festival hörte, bot dann einen durchaus krönenden Abschluss. Zwei Stücke von Enno Poppe standen auf dem Programm, darunter „Augen“, das erst 2022 in Witten uraufgeführt wurde (auch mit Sarah Maria Sun), und nach der Pause noch Ligetis Violinkonzert. Die Begleittöne waren allerdings nicht so erfreulich. Wegen schlechten Verkaufs wurde ich ein paar Tage davor angerufen, um umplatziert zu werden. Mein schöner Sitz an der Bühnenkante auf dem zweiten Balkon blieb leer, ich musste mit der Parkettgalerie Vorlieb nehmen – oder hätte ins Parkett dürfen, wo ich noch weniger gesehen hätte. Sehen wäre hier durchaus spannend gewesen, denn es gab schon bei „Öl“ auf der Bühne so einige ungewöhnliche Instrumente: ein Akkordeon, zwei Klaviere, Saxophon (Bariton und Alt), Wagnertuben (als Zweitinstrumente der beiden Hörner), in den Liedern kamen Mandoline (einen Drittelton tiefer gestimmt) und Gitarre (einen Sechstelton tiefer), Hafe, Harmonium und Celesta zum Einsatz. Im Publikum schienen in erster Linie Leute des Sponsors zu sitzen, jedenfalls hatte die Veranstaltung ein wenig den Touch eines Betriebsausflugs, man kannte sich, wechselte ein paar Worte … und irgendwo am Rand sassen dann die Leute, die wegen des Konzerts da waren – im vielleicht zu zwei Dritteln gefüllten Parkett. Sehr schade!

    „Öl“ besteht an der Oberfläche aus zwei Teilen, grob gesagt einem schnellen und einem langsameren – doch stabile Tempi sucht man über weite Strecken vergeblich, unterschiedliche Metren und Tempi überlagern sich. Instrumentenpaare – zwei Wagnertuben, zwei Bassklarinetten, zwei Klaviere, zwei Schlagzeuge) bleiben einigermassen beieinander, spielen dieselben Melodien, umflechten sich gewissermassen, gehen aber doch auch ihres eigenen Weges, etwa indem sie dasselbe Material in unterschiedlichen Tempi spielen. Ein ähnliches „Schimmern“, wie Ligeti es mochte (und wie es mich manchmal vom „Huschen“ im davor gehörten Quartett Mendelssohns gar nicht so weit weg dünkte) ist auch bei Poppe immer wieder zu hören. Es passieren „einfach zwei Dinge zur gleichen Zeit“ meinte Poppe mal lakonisch zu der Frage, ob die Duos in „Öl“ zweistimmig sind oder ob es sich nur um jeweils „eine einzige Stimme mit aufgelösten Rändern“ handelt (Programmheft, nur das erste Zitat ist von Poppe selbst). Den ersten Teil fand ich ziemlich toll, doch im zweiten, mehrheitlich langsameren, schien das Stück manchmal etwas auszufransen.

    In der danach nötigen grösseren Umbaupause sprach Poppe ein paar Worte zum Publikum, schmierte dem Sponsoren ein wenig Honig ums Maul und sagte ein paar Sätze zu den beiden Werken. Das zweite, „Augen“, ein Zyklus von 25 kurzen (teils nur ein paar Sekunden dauernden) Lieder über Text(fragment)e von Else Lasker-Schüler, faszinierte mich dann enorm und war sicherlich meine grosse Entdeckung des Festivals. Dunkle Texte über die Liebe, die enttäuschte Liebe, kongenial begleitet mit stets wechselnden Besetzungen. Hier passte für meine Ohren alles: Vorn stand die wohl derzeit beste Sängerin für solches Repertoire, die grossartige Sarah Maria Sun. Les Siècles unter ihrem Gründer und Leider François-Xavier Roth spielten (denn ganzen Abend hindurch) absolut souverän, Text und Musik griffen perfekt ineinander über, liessen sich auch den jeweils nötigen Raum – im Programmheft lese ich den Satz: „Wie in der Madrigalkunst schweigen die Instrumente, wenn ein Herz bloss liegt.“ So ist das. Nämlich.

    Die Schwipsgesellschaft braucht natürliche eine Pause (die schwerstarbeitenden Musiker*innen ebenfalls, das einzige Argument, das ich pro Pausen gelten lasse). Danach setzte Isabelle Faust mit ihrer Interpretation des Violinkonzerts von Ligeti einen nächsten Glanzpunkt. Ein Werk, das zwischen Unordnung und Ordnung schwankt, in dem die Solostimme gegen das Orchester ankämpft, in einen Dialog tritt, der nun wirklich kein klassischer ist. Luzide klang Fausts Ansatz, von grösster Klarheit, während das Orchester ebenso präzise zu Werk ging wie die Solistin (wieder mit grossen Bögen, auf die sie Notenschnipsel zusammengeklebt hatte, so war sie schon beim ersten Konzert ausgerüstet, der Aufführung der ganzen Solo-Bach-Werke in der Kölner Philharmonie im Herbst 2015). Nichts weniger als phänomenal – wie überhaupt der ganze Abend, von den Längen gegen Ende von „Öl“ mal abgesehen.

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    yaiza

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    gypsy, vielen Dank für die vielen einzelnen Berichte vom Lucerne Festival. Da kam ja richtig viel zusammen.

    gypsy-tail-wind Und Schönberg – es gab Schönberg zu hören!

    als ich das las, habe ich mal einen Schnelldurchgang im Gedächtnis versucht; es ist wahrscheinlich, dass ich bisher nur Brahms/Schönberg mit dem orchestrierten Klavierquartett g-Moll op. 25 von Brahms im Konzertsaal hörte.

    zum Schluss des 1. Neue Musik Programms: Iva Bittová ist mir auf jeden Fall auch schon als Interpretin „begegnet“… ich hörte auf jeden Fall mal in Aufn./Arr. von Janácek-Liedern mit dem Skampa Quartet hinein.

    zu Mao Fujita: da musste ich über  Dein „er schlurfte an den Flügel“ schmunzeln… Ich hörte ihn im KH in einem Familienkonzert im Rahmen der Mozart-Matinéen. Zuvor hatte ich  ihn öfters mal im Radio gehört. — BR Klassik stellt immer mal junge Interpreten in Recital-Aufnahmen vor. In Berlin sprang er im Frühjahr kurzfristig für Nikolai Lugansky (Rach KK 3) mit DSO/Lyniv ein. — Er wirkte sehr entspannt. Bei den Familienkonzerten gibt’s ab und zu Störungen (was ja normal ist, dazu sind diese da), aber er ließ sich da gar nicht durch aufstehende Eltern, die dann vor dem Saal ihre Kinder beruhigen u.ä. stören, sondern -so schien es- nahm das durch Verfolgen der Situation im Saal aktiv wahr, lächelte und nickte den Eltern und Kindern zu. Es entstand eine ganz schöne Atmosphäre und es baute sich kein Stress auf. Das muss eine wahnsinnige Gehirnleistung sein, neben seinem Part natürlich auch auf Orchester und Dirigenten zu achten und noch das Geschehen im Saal wahr- und daran teilzunehmen.

    zu UNSUK CHIN: Šu, für Sheng und Orchester (Schweizer Erstaufführung); Wu Wei, Sheng
    am 31.08.23 wurde es hier auch beim Musikfest mit Wu Wei und DSO/Ticciati aufgeführt; ich hörte es mir am Radio an. Gekoppelt wurde es mit Mahler „Das Lied von der Erde“. Ich fand die Kombi wirklich interessant… und sie war für die Radiohörer sehr gut mit Begleitinterviews aufbereitet.

    zu Schubert: vielen Dank für die weiteren Infos zum Andantino aus der Schauspielmusik „Rosamunde“

    ein Motiv, das Schubert später sowohl Im a-Moll-Streichquartett D 804 sowie im dritten der Klavierimpromptus D 935 wieder zu finden ist

    Ich werde mal reinhören und darauf achten.
    Beim Young Euro Classic wurde das Andantino vom Rumänischen Jugendorchester/Mandeal als Zugabe gespielt. Ich kannte es nicht und bin daher auch dankbar für Ansagen.

    Schön, die Namen von Nodoka Okisawa (hörte sie vor ein paar Jahren mit dem Orch. der HfM „Hanns Eisler“) und Anastasia Kobekina (trat hier in ihrer Zeit an der UdK auch im kleinen und großen Rahmen auf) wiederzulesen.

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    #12150163  | PERMALINK

    yaiza

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    gypsy-tail-wind   07.09.2023 – KKL Luzern, Konzertsaal – räsonanz, Stifterkonzert
    Les Siècles, François-Xavier Roth Dirigent, Sarah Maria Sun Sopran, Isabelle Faust Violine
    ENNO POPPE: Öl, für Ensemble ; Augen, 25 Lieder für Sopran und Kammerorchester (Worte von Else Lasker-Schüler) (Schweizer Erstaufführung)
    GYÖRGY LIGETI: Violinkonzert
    Das letzte Konzert, das ich beim Festival hörte, bot dann einen durchaus krönenden Abschluss. Zwei Stücke von Enno Poppe standen auf dem Programm, darunter „Augen“, das erst 2022 in Witten uraufgeführt wurde (auch mit Sarah Maria Sun), und nach der Pause noch Ligetis Violinkonzert. Die Begleittöne waren allerdings nicht so erfreulich. Wegen schlechten Verkaufs wurde ich ein paar Tage davor angerufen, um umplatziert zu werden. Mein schöner Sitz an der Bühnenkante auf dem zweiten Balkon blieb leer, ich musste mit der Parkettgalerie Vorlieb nehmen – oder hätte ins Parkett dürfen, wo ich noch weniger gesehen hätte.    …

    Es war sicher ein sehr interessantes Konzert. Schade, dass das es beim Kartenverkauf nicht so angenommen wurde und Du umplatziert wurdest.

    Ich schrieb es schon kurz im Neue Musik-Faden. In Berlin wurde das Ligeti VK (im 2.Teil Lutoslawski-Konzert für Orchester) im Rahmen der Biennale der Berliner Philharmoniker aufgeführt und es war „knallevoll“… es war neben der Nennung im Festivalprogramm auch im regulären Spielzeit-Programm des aufführenden RSB gelistet, so dass dieses Orchester ja schon eigenes Publikum mitbrachte. Der Zeitpunkt ist mit Februar und dazu parallel zur Berlinale gut gewählt; da ist zusätzlich kunstinteressiertes Publikum in der Stadt. Es war ein richtiges Gewusel in der Philharmonie und viele viele junge Leute zu sehen.

    Dem Foto nach zu deuten, hatte hier Karina Canellakis ganz anders aufstellen lassen; mehr so in Gruppen. Die Schlagwerker bauten vorn links (aus Publikumssicht) auf. Dann gab es einen Halbkreis mit Bläsern; die Streicher saßen auch je nach unterschiedlicher Stimmung der Saiten getrennt. Ich fand’s auf jeden Fall auch spannend, das ganze „Geflecht“ nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen.

     

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    #12150207  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Danke für die Rückmeldungen!

    Interessant, das mit der Aufstellung bei Ligeti – die war ja sehr klassisch bei Les Siècles … davor waren z.B. rechts, wo die Celli zu sehen sind, Gitarre und Mandoline platziert, und wo die Bässe stehen die beiden hinten an der Wand zu sehenden Tasteninstrumente (Harmonium und Celesta). Logistisch war das echt anspruchsvoll, mit drei völlig unterschiedlichen Besetzungen – kann es daher schon nachvollziehen, dass man für Ligeti dann einfach Standard machte (Celli vorn rechts, nicht Bratschen ;-) ), aber die Gruppen sichtbar zu machen ist eine tolle Idee! (Und mit Hadelich würde ich das auch sofort hören gehen, gar keine Frage!)

    Mao Fujita kann ich mir in anderem Repertoire echt als super vorstellen … ich glaub mir war sein Ansatz für die gespielten Werke einfach etwas zu weich, zu verwischt (vielleicht auch durch Pedaleinsatz)? Dass er gut ist, ist natürlich gar keine Frage … er kriegte jedenfalls grossen Applaus. Und sehr sympathisch wirkte er mit seiner Art auf jeden Fall.

    Beim Konzert von Unsuk Chin fand ich sowohl die Einführung wirklich hilfreich. Ich kann mir gut vorstellen, dass mich das Stück bei einem „blinden“ Hören zuhause und ohne die ganzen Hintergründe zum Instrument deutlich weniger angesprochen hätte.

    Nodoka Okisawa war mir bisher leider nicht mal namentlich bekannt … aber ich fand das Konzert zumindest was Leitung und Solistin angeht dann auch ein ganz gutes Kontrastprogramm zum Berliner philharmonischen Männerverein ;-) – die grossen romantischen Cellokonzerte von Komponistinnen sind halt dünn gesät und Elgar schon echt gut. Kobekina hat mich jedenfalls sehr überzeugt!

    PS: Die Infos zu Schubert entnahm ich dem Programmheft … aber dass das Motiv nicht neu war, hörte ich auch sofort. Aber ich glaub nicht, dass ich auf die Impromptus gekommen wäre, obwohl ich die recht oft höre. Bin in sowas nicht so gut, mir bleiben eher Motive/Melodien als Titel

    --

    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #152: Enja Records 1971-1973 – 14.05., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
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    gypsy-tail-wind
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    Ein paar Auszüge aus der NZZ:

    Neben dem Ausfall von Chailly fiel also auch Argerich aus und wurde von Igor Levit ersetzt – die drei Einspringer erhalten gute Noten. Und ehrlich: wären Järvi von Beginn an angekündigt gewesen, hätte ich vielleicht noch einen Besuch mehr in Luzern gemacht.

    Mit dem Tod Abbados Anfang 2014 verlor das LFO die künstlerisch wie auch menschlich prägende Figur an seiner Spitze. Seit 2016 hat man in Riccardo Chailly zwar einen hochkarätigen Dirigenten als Nachfolger gefunden, eine ähnlich eingeschworene Künstlergemeinschaft wie mit Abbado ist jedoch nicht entstanden. Die unglücklichen Unterbrechungen der Zusammenarbeit während der Corona-Jahre spielen dabei eine Rolle, aber auch gesundheitliche Probleme Chaillys. Sie zwangen ihn nun auch in diesem Sommer, gänzlich auf eine Mitwirkung in Luzern zu verzichten. Vielleicht ist das Modell mit nur einer prägenden Figur an der Spitze aber ohnehin ein Auslaufmodell.

    Der Gedanke drängt sich in diesem Jahr besonders auf. Denn anstelle Chaillys stehen gleich drei unterschiedliche Dirigenten am Pult des LFO. Und die Herausforderung für das Orchester, sich jeweils auf deren individuelle künstlerische Handschriften einzulassen – sie entpuppt sich als Gewinn. Nicht nur bei der Zusammenarbeit mit Zürichs Musikdirektor Paavo Järvi, der kurzfristig die beiden Eröffnungskonzerte übernahm und vor allem am zweiten Abend zu einem intensiven musikalischen Austausch mit den Musikern fand. Auch dem Kanadier Yannick Nézet-Séguin und dem Kolumbianer Andrés Orozco-Estrada begegnet das Orchester mit beeindruckender Flexibilität.

    […]

    Levit spielt den Solopart in Beethovens 1. Klavierkonzert mit fast klassizistisch abgeklärtem Ton und feinem Gespür für Beethovens Witz – die Orchesterbegleitung bleibt dagegen behäbig und erdenschwer. Bei Brahms’ 2. Sinfonie jedoch beginnt die Musik zu singen und dunkel zu glühen – so schwelgerisch breit, wie dies heute kaum noch ein Brahms-Interpret wagt. Doch bei Barenboim, dem erklärten Bewunderer Wilhelm Furtwänglers, wirkt diese erzromantische Lesart vollkommen stimmig, ja magisch. Wie er diese Magie erreicht, nur mit den Augen und kargen Gesten – es bleibt sein Geheimnis. Aber es ist ganz grosse Kunst.

    (Christian Wildhagen, 22.8.)

    Im Jahr 2003 von Pierre Boulez begründet und nach dessen Tod von Wolfgang Rihm übernommen, werden durch die Akademie junge Talente in der Interpretation zeitgenössischer Musik unterwiesen und junge Komponierende betreut. Als Pendant zum Lucerne Festival Orchestra mischt dabei seit 2021 auch das Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO) mit. Das Alter der Mitglieder reicht bis 32 Jahre. Das alles ist einzigartig: Kein anderes führendes, grosses Musikfestival der Klassikwelt bietet eine vergleichbare Initiative.

    […]

    Für Poppe ist diese selten aufgeführte Komposition ein «Jahrhundertwerk» [Mathias Spahlingers «passage/paysage» für grosses Orchester von 1988/1990 – die Aufführung habe ich leider verpasst], und das darf auch über sein eigenes «Fett» gesagt werden. Die exemplarische Ausgestaltung von «passage/paysage» durch das LFCO mit Poppe am Pult machte zugleich deutlich, warum sich Poppe dieses Werk von Spahlinger im Rahmen seiner Luzerner Residenz ausdrücklich gewünscht hatte: weil es viel über Poppe selber verrät. So wird auch in Poppes «Fett» in jedem Moment hörbar, wie Ordnung und Orientierung zusehends infrage gestellt werden.

    Einzelne Akkordfolgen werden in den Raum gestellt oder Tonhöhen linear allmählich verändert, die Mikrotonalität unterhöhlt die wohltemperierte Ordnung der Klänge. Im Mai 2019 hatte Mälkki in Helsinki bereits die Uraufführung von «Fett» dirigiert. Die dortigen Philharmoniker wirkten damals etwas überfordert mit der vielschichtigen Mikrotonalität, ganz anders jetzt in Luzern der LFCO-Nachwuchs: Die jungen Musikerinnen und Musiker erreichten eine unerhört dramatische und zugleich klangsinnliche Durchdringung, die schier endlose Assoziationsräume eröffnete.

    Zehn Monate nach der Uraufführung von «Fett» brach eine Pandemie aus, zu deren Eindämmung Auflagen und Massnahmen verfügt wurden, welche die freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung auf eine harte Probe stellten. Sie mag offiziell für beendet erklärt worden sein, die Auswirkungen aber sind es längst nicht. Vieles erscheint noch in der Schwebe, und dafür bietet Poppes «Fett» den beklemmend passenden, geradezu prophetisch anmutenden «Soundtrack»: jedenfalls in der fesselnden Deutung des LFCO.

    […]

    Dafür war es eine Freude, zu erleben, wie kenntnisreich und stilsicher das LFCO unterschiedlichste Klangwelten ergründet. Dieser Eindruck setzte sich unter Mälkki mit der Schweizer Erstaufführung von Unsuk Chins «Šu» von 2009/2010 für die altchinesische Mundorgel Sheng und Orchester mit dem Solisten Wu Wei sowie Igor Strawinskys «Le Sacre du printemps» fort. Das Lucerne Festival Contemporary Orchestra ist die letzte grosse Vision der Lucerne-Intendanz von Haefliger. Wer diesen wertvollen Schatz nicht hegt und pflegt, mit liebendem Verstand, riskiert den Verlust an Identität und Relevanz.

    (Marco Frei, 3.9.)

    Es gab noch mehr solche Erfüllungsmomente in dieser dritten Festivalwoche. Namentlich, als Herbert Blomstedt mit dem Gewandhausorchester Leipzig Anton Bruckners 7. Sinfonie zur Aufführung brachte. Der schwedisch-amerikanische Maestro mit Wohnsitz in Luzern ist mit 96 Jahren nicht nur der älteste aktive Dirigent der Welt, er ist auch einer der besten. Wie einst der grosse Bruckner-Deuter Günter Wand musste Blomstedt sehr alt werden, bevor sich dieser Ausnahmerang herumsprach. Dem Gewandhausorchester ist er durch eine siebenjährige Amtszeit vertraut, seither ist er dessen Ehrendirigent.

    Man spürt die Vertrautheit in jedem Moment der beglückenden Aufführung. Nach einem Sturz dirigiert Blomstedt, der ewig muntere Methusalem, zwar nicht mehr im Stehen; aber gerade der Umstand, dass er den Orchestermitgliedern gegenübersitzt, prägt die Atmosphäre des Konzerts – die abgegriffene Formal «auf Augenhöhe» gewinnt da ihren Sinn zurück. Tatsächlich dirigiert Blomstedt vor allem mit den Augen und mit seiner beredten Mimik. Wenn er doch einmal zu einer grösseren Geste ausholt, ist die Wirkung enorm. Man hat diesen Minimalismus noch gut von einem anderen Doyen der Zunft in Erinnerung: von Bernard Haitink, der 2019 mit demselben Werk in Luzern seinen Abschied nahm.

    Bei den beiden können sich jüngere Dirigenten die Kunst abschauen, wie man als Interpret ganz in (oder hinter) der Musik verschwindet, indem man sie scheinbar für sich sprechen lässt. Dennoch hält Blomstedt, der die Partitur ungeöffnet vor sich liegen lässt, die Zügel zu jedem Zeitpunkt fest in der Hand. In diesem Widerspruch liegt das Geheimnis ganz grosser Dirigierkunst. Er gestaltet, ohne dass der Gestaltungswille je als Prätention erkennbar wäre. Er leitet die Musiker nicht nur mit Blicken an, sondern sogar mit bewusstem gemeinsamem Atmen: Das Ergebnis ist ein Musizieren in vollendet natürlichem Einklang, so organisch, wie man es selten erlebt.

    Und so ereignet es sich wieder, das wundersame Paradox, dass die Zeit selbst gleichsam zu atmen beginnt: Mal hält sie staunend inne wie im Adagio, mal scheint sie beschleunigt zu vergehen wie im herrlich leichtfüssig klingenden Finale, das sonst oft in Episoden zerfällt. Hier bewährt sich nicht nur Blomstedts souveräner Sinn für das Ganze, sondern auch die Ensemblekultur des Orchesters. Weitgehend befreit vom starren Metrum, also dem klassischen Taktschlag des Dirigenten, nutzen die Gewandhausmusiker den Spielraum, um sich untereinander viel intensiver abzustimmen und aufeinander zu hören. Die Maxime Claudio Abbados, wonach auch Orchesterwerke nichts anderes sind als im Massstab vergrösserte Kammermusik, war hier exemplarisch verwirklicht.

    Einer, der sich offenbar viel von Blomstedt abgeschaut hat, ist sein Nachfolger in Leipzig, Andris Nelsons. Als Nelsons 2014/15 im Gespräch war für die Leitung des Lucerne Festival Orchestra, illustrierte er noch jede Wendung in der Musik mit ausufernden Gebärden. Inzwischen formt er die Interpretation ähnlich gelassen wie Blomstedt – eine beeindruckende künstlerische Entwicklung. Nach Luzern kam Nelsons mit seinem anderen Ensemble, dem Boston Symphony Orchestra. Das Programm blieb allerdings hinter den Leipziger Höhenflügen zurück.

    […]

    Gleichwohl gab das Niveau des derzeit besten amerikanischen Orchesters anderntags den Massstab vor für die Auftritte der Berliner Philharmoniker. Sie hielten nicht nur mühelos mit, sie setzten der mitunter kühlen Präzision der amerikanischen Kollegen auch eine genuine Spielfreude entgegen, die durch herausragende Solisten wie die neue Konzertmeisterin Vineta Sareika-Völkner noch befeuert wurde.

    Kirill Petrenko gibt dem inzwischen deutlich mehr Raum als früher, was auch die zwei anspruchsvollen Programme mit Max Regers Mozart- und Arnold Schönbergs Orchestervariationen erfreulich zugänglich machte. Wie bei Nelsons ist bei Petrenko eine Entwicklung erkennbar: weg von dem Wunsch, alles zu kontrollieren – hin zu mehr interpretatorischer Freiheit und einem Musizieren «auf Augenhöhe». Bei Herbert Blomstedt hört man, wie das in Vollendung klingt.

    (Christian Wildhagen, 6.9.)

    Es gab noch weitere Artikel über Konzerte, die ich allesamt verpasst habe – u.a. mit höchstem Lob für Mirga Grazinyte-Tyla und ihre Interpretation von Mahler 2$, auch für Klaus Mäkelä, aber weniger für Yuja Wang – und gleich zwei über die Unterbrechung vom Konzert der Bayern und Jurowskis souveräne Reaktion …

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    yaiza

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    … ich habe mich mal vom gypsy-Fleiß inspirieren lassen und einen kleinen Blick auf das Young Euro Classic nicht weiter aufgeschoben:

    In diesem Jahr war ich seit 2019 mal wieder beim Young Euro Classic (4.-27.08.2023) im Konzerthaus Berlin. Nach Blick auf den Konzertplan hatte ich mich sehr schnell für die Abende der Jugendorchester von Rumänien und Frankreich entschieden… und zwei Abende mit internationalen Jugendorchestern kamen während des Festivals noch hinzu. Die Stimmung bei diesen vier Konzerten empfand ich wieder als eine ganz besondere. Die Auslastung wird wieder sehr hoch gewesen sein. Einige Konzerte waren bei meinem Blick ins Programm bereits ausverkauft. Dlf Kultur hatte 5 Konzerte aufgezeichnet (JO Ukraine, Rumänien, Georgien, Usbekistan und NYO Jazz) und später ausgestrahlt, der rbb hatte das des Concertgebouw Young übernommen und auch später im Rahmen des ARD Festivals gesendet. Schön, dass dieses Festival weiterhin auch im Radio präsentiert wird. Beim NYO Jazz weiß ich es nicht, aber alle Orchester mit Radioübertragung hatten Werke, die in den letzten Jahren komponiert wurden, im Gepäck. Die Sendungen (gut mit Erklärungen und Interviews aufbereitet) zu Georgien und Usbekistan und die Einblicke in die Klangwelten der neuen Werke fand ich besonders interessant.

    Hier kurz Eindrücke von den besuchten Aufführungen.

    13.08.2023 — Jugendorchester Rumänien, Ltg. Cristian Mandeal
    ALIN CHELĂRESCU: „Panicandemica“(2021); POULENC: Konzert für zwei Klaviere und Orchester (Oxana Corjos, Cristian Niculescu, p.); SCHUBERT: Symphonie C-Dur „Die Große“ D 944

    (Hierzu hatte ich kurz im Hörfaden geschrieben und hierfür herausgesucht.)
    „Panicandemica“ von Alin Chelărescu erinnerte an die Stimmung zu Anfang der Pandemie (war alles dabei… flirrende Klänge, Klopfen auf die Streichinstrumente als „Einschläge von Sargnägeln“, verschiedene Klagegesänge vom Konzertmeister gespielt…). Ich vermisse aktuelle Werke im Programm und freute mich, dass die Rumänen eines mitbrachten. Das Poulenc Konzert für zwei Klaviere kannte ich noch nicht, aber ich hatte viele interessante Eindrücke und mir auch schon eine CD zum Weiterhören besorgt. Die Zugabe („Brasileira“ aus Milhauds „Scaramouche“) war toll arrangiert; erst die beiden Pianisten und dann stiegen Mitglieder des Orchesters nach und nach ein. Im zweiten Teil die „Große C-Dur“ von Schubert. Im Saal war es so still, die Stimmung so konzentriert. Ich fand es interessant, das Werk mit einem Jugendorchester zu hören und Satz für Satz mit den jungen Musikern „mitzulaufen“. Ich bekam einen Eindruck zu sehr schwierigen Stellen und im Scherzo litt ich auch ein bisschen mit (wohl keine Kürzung durch Streichung von Wdh). Im Finale gaben sie dann nochmal alles. Am Ende langer Applaus und ein gerührter Cristian Mandeal , der sich für die „große Spende an Energie“ bedankte und dem Publikum mit der Musik zum 3. Aufzug aus „Rosamunde“ noch etwas zur Beruhigung zum Abend mitgab.

     

    23.08.2023 — Gustav Mahler Jugendorchester, Ltg. Jakub Hrůša
    GUSTAV MAHLER: Symphonie Nr. 9 D-Dur

    Zu Mahler 9 überlegte ich, ob es für mich nicht doch zu früh ist, eine Aufführung im Saal zu hören. Sehr viel Bezug hatte ich noch nicht aufgebaut und ich war längere Zeit sogar auch auf der Suche nach einer Aufnahme, die mich so richtig packt. (Hat sich mit CZ Phil./Ancerl ja geklärt.)
    Die Gelegenheit, diese Sinfonie im Konzerthaus zu hören, wollte ich mir dann doch nicht entgehen lassen. Sie passt vielleicht nicht so in den Sommer, aber das Timing war dann doch nicht schlecht. Das Publikum bei diesem Festival kommt mir sehr ruhig und wertschätzend vor und dass die Erkältungskrankheiten im August noch nicht weit verbreitet sind, kann ja nur ein Gewinn sein. Ich kann gar nicht viel zur Aufführung schreiben. In meinen Ohren hörten sich alle vier Sätze spannend an und es gab für mich keinen Moment, in welchem mein Hörinteresse abriss oder gar schwand. In diesem Fall war der Konzertbesuch schon auch Türöffner zum intensiveren Hören.

     

    25.08.2023 — Concertgebouworkest YOUNG, Ltg. Andrés Orozco-Estrada
    TSCHAIKOWSKI: Fantasie-Ouvertüre zu „Romeo und Julia“; BRUCH: 1. VK g-Moll op. 26, Maria Dueñas, v.; CARLIJN METSELAAR: „the muscle that raises the wing” (2023, DEA); MUSSORGSKI: „Bilder einer Ausstellung“ (orch. Ravel)

    Mitten im Festival bekam ich dann mehr Lust, noch ein Konzert zu besuchen. Als ich auf den Sitzplan für dieses Programm schaute, waren gar nicht mehr viele Sitzplätze frei, aber immerhin gab es welche. Andrés Orozco-Estrada erklärte vor dem Konzert, dass 14-17 Jahre alte Musiker*innen aus verschiedenen europäischen Ländern für die Arbeitsphase im Sommer (ca. 2 Wochen) und anschließenden zwei Konzerten ausgewählt wurden. Sie spielten ihr Programm erst in Amsterdam und dann in Berlin (im VAN-Magazin von August wurde das Projekt, das seit Herbst 2018 läuft, näher vorgestellt und auch kurz beschrieben, dass eher Jugendliche, die nicht schon auf andere Art und Weise gefördert werden, eine Einladung erhalten). Ich saß mit auf den letzten Plätzen im Haus… hinterer Bereich im 2. Rang, aber ich hatte ein unglaubliches Klangerlebnis. Ich denke, dass die wirklich noch sehr jungen Musiker*innen ein ganz wunderbares Konzert spielten und es kann zusätzlich auch sein, dass sich der Klang dort in der Ecke gut mischt. Jedenfalls wird mir das als so Klangrausch-Abend in Erinnerung bleiben. Die junge Geigerin Maria Dueñas zu hören, fand ich auch interessant. Live hat sie schon eine große Bühnenpräsenz — auch von der hintersten Ecke zu spüren. Im online „El Pais“ hatte ich schon zu ihr gelesen, ebenfalls mitbekommen, dass sie einen Vertrag bei der DG erhielt usw. In Interviews spricht sie auch vom Interesse an zeitgenössischer Musik. Nach den „Bildern“ von Mussorgski sprang das Publikum im Schlussapplaus euphorisiert auf. Sowas hatte ich noch nie erlebt. Das Orchester spielte noch „Nimrod“ aus den Enigma-Variationen von Elgar als Zugabe und danach gab’s kein Halten mehr. Der Beifallssturm begann. Ich selbst muss auch sagen, dass ich richtig begeistert war, obwohl drei der gehörten Werke nicht so meiner Hörauswahl entsprechen. Da das Konzert schon um 19.00 Uhr begann, hatte ich mich vorher noch mit zwei Freunden verabredet, verließ dann auch den Saal (da war auf der Bühne eigentlich nur noch ein großes Menschenknäuel zu sehen) und wurde draußen gleich gefragt, was denn da drinnen los sei. Durch die offenen Türen konnte man den Applaus weiterhin hören. Keine Ahnung, wie lange das noch ging. :)

     

    27.08.2023 — Orchestre Français des Jeunes, Ltg. Michael Schønwandt
    HARTMANN: Symphonie Nr. 5 „Symphonie concertante“; RAVEL: Konzert für Klavier und Orchester (Alexandre Tharaud, p.); TSCHAIKOWSKI: Symphonie Nr. 4 f-Moll

    Als ich sah, dass eine Hartmann-Sinfonie auf dem Programm steht, war ich gleich dabei. Selbst hatte ich mir mal die #1-4 ausgeliehen, bin aber mit dem Hören nicht weit voran geschritten. Michael Schønwandt war von 1992-98 Chefdirigent des Berliner Sinfonie-Orchesters (später umbenannt in „Konzerthausorchester“). Für einige im Publikum war das also ein „altbekannter“ Dirigent des Schlussabends des Festivals. Mir ist er erst in diesem Frühsommer mit den Nielsen-Sinfonien (Aufn. DNSO) „begegnet“. Die Aufnahmen haben in mir dann doch Interesse für den Zyklus ausgelöst und mir gefallen sie bei jedem Hören mehr (sehr fein, nicht gefühlsverstärkt). Die 5. Sinfonie von Karl Amadeus Hartmann ist vermutlich gar nicht einfach zu spielen. (Aufstellung vorn 6 Celli frontal zum Publikum und dahinter die Bläser und Schlagwerk; ich hatte Weill VK-Assoziationen und weiß gerade nicht mehr, ob auch Kontrabässe beteiligt waren). Der 2. Satz heißt „Melodie (Hommage à Strawinsky)“ und Hauptdarsteller ist dann auch das Fagott. Das Orchester kämpfte sich durch einige Passagen, das Hören fand ich auch nicht immer einfach, die Neugier bei mir ist aber geweckt. Gut, dass nicht nur die Klassiker gespielt werden. Beim anschließenden Ravel KK dann ein ganz anderes Bild. Da verbanden sich Solist Alexandre Tharaud, Dirigent und Orchester in wahrer Spielfreude. Auf die Tschaikowski-Sinfonie war ich dann gespannt. Mit der #4 im Programm konnte ich auch gut leben und ich erwartete viele Farben, aber nichts Aufgedrängtes und wurde nicht enttäuscht. Mich spricht es an, wenn sich Dirigent und Orchester nicht in eine Schwelgerei begeben. Michael Schønwandt nahm ganz feine Abstufungen vor. Mich hat‘s beeindruckt. Zum Schluss drehten sie dann aber doch bei den Zugaben auf: Tschaik Blumenwalzer und eine „Nummer“ aus „L’Arlésienne“-Suite (Bizet).

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    #12150713  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Schön, vielen Dank! Da kam ja einiges ungewöhnliches Repertoire zusammen – auch so einiges, was ich nicht kenne (darunter auch Hartmann). Und Tharaud möchte ich irgendwann auch mal noch erleben, seine Einspielungen (und sein Film-Auftritt bei Haneke) schätze ich sehr.

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    yaiza

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    gypsy-tail-wind  ….  Es gab noch weitere Artikel über Konzerte, die ich allesamt verpasst habe – u.a. mit höchstem Lob für Mirga Grazinyte-Tyla und ihre Interpretation von Mahler 2$, auch für Klaus Mäkelä, aber weniger für Yuja Wang – und gleich zwei über die Unterbrechung vom Konzert der Bayern und Jurowskis souveräne Reaktion …

    zu letzterem berichtete der BR (11.09.23)

    https://www.br.de/nachrichten/kultur/reden-lassen-klimakleber-eklat-beim-bayerischen-staatsorchester,TpIg8R2

    darin der Intendant der Bayerischen Staatsoper Serge Dorny:

    „Ich war sehr erstaunt, dass das Orchester so konzentriert blieb“, sagte Dorny dem BR. „Das ist ja eigentlich interessant und kommt schon mal vor, aber man muss sich vorstellen, da sitzen Musiker auf der Bühne bei einem Werk, das unglaubliche Konzentration erfordert. Es geht also darum, wie man sie in so einer Situation dabei unterstützen kann.“ Dorny erinnerte daran, dass Aktivisten auch schon auf Filmfestivals und bei anderen Anlässen für ihre jeweiligen Anliegen, ob Klima, Genderfragen oder MeToo, Veranstaltungen gestört hatten.

    Möglicherweise, vermutete Dorny, sei es zu dem Vorfall gekommen, weil Jurowski in einer Veröffentlichung der Festspiele betont hatte, wie wichtig ihm das Engagement für den Klimaschutz sei: „Keiner kann ohne intakte Natur leben.“

     

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    #12151009  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    yaiza
    zu letzterem berichtete der BR (11.09.23)
    https://www.br.de/nachrichten/kultur/reden-lassen-klimakleber-eklat-beim-bayerischen-staatsorchester,TpIg8R2
    darin der Intendant der Bayerischen Staatsoper Serge Dorny:

    „Ich war sehr erstaunt, dass das Orchester so konzentriert blieb“, sagte Dorny dem BR. „Das ist ja eigentlich interessant und kommt schon mal vor, aber man muss sich vorstellen, da sitzen Musiker auf der Bühne bei einem Werk, das unglaubliche Konzentration erfordert. Es geht also darum, wie man sie in so einer Situation dabei unterstützen kann.“ Dorny erinnerte daran, dass Aktivisten auch schon auf Filmfestivals und bei anderen Anlässen für ihre jeweiligen Anliegen, ob Klima, Genderfragen oder MeToo, Veranstaltungen gestört hatten.

    Möglicherweise, vermutete Dorny, sei es zu dem Vorfall gekommen, weil Jurowski in einer Veröffentlichung der Festspiele betont hatte, wie wichtig ihm das Engagement für den Klimaschutz sei: „Keiner kann ohne intakte Natur leben.“

    Hahaha, weniger als Victim Blaming gibt’s von den Bayern einfach nicht ;-)

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