Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Ein paar Auszüge aus der NZZ:

Neben dem Ausfall von Chailly fiel also auch Argerich aus und wurde von Igor Levit ersetzt – die drei Einspringer erhalten gute Noten. Und ehrlich: wären Järvi von Beginn an angekündigt gewesen, hätte ich vielleicht noch einen Besuch mehr in Luzern gemacht.

Mit dem Tod Abbados Anfang 2014 verlor das LFO die künstlerisch wie auch menschlich prägende Figur an seiner Spitze. Seit 2016 hat man in Riccardo Chailly zwar einen hochkarätigen Dirigenten als Nachfolger gefunden, eine ähnlich eingeschworene Künstlergemeinschaft wie mit Abbado ist jedoch nicht entstanden. Die unglücklichen Unterbrechungen der Zusammenarbeit während der Corona-Jahre spielen dabei eine Rolle, aber auch gesundheitliche Probleme Chaillys. Sie zwangen ihn nun auch in diesem Sommer, gänzlich auf eine Mitwirkung in Luzern zu verzichten. Vielleicht ist das Modell mit nur einer prägenden Figur an der Spitze aber ohnehin ein Auslaufmodell.

Der Gedanke drängt sich in diesem Jahr besonders auf. Denn anstelle Chaillys stehen gleich drei unterschiedliche Dirigenten am Pult des LFO. Und die Herausforderung für das Orchester, sich jeweils auf deren individuelle künstlerische Handschriften einzulassen – sie entpuppt sich als Gewinn. Nicht nur bei der Zusammenarbeit mit Zürichs Musikdirektor Paavo Järvi, der kurzfristig die beiden Eröffnungskonzerte übernahm und vor allem am zweiten Abend zu einem intensiven musikalischen Austausch mit den Musikern fand. Auch dem Kanadier Yannick Nézet-Séguin und dem Kolumbianer Andrés Orozco-Estrada begegnet das Orchester mit beeindruckender Flexibilität.

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Levit spielt den Solopart in Beethovens 1. Klavierkonzert mit fast klassizistisch abgeklärtem Ton und feinem Gespür für Beethovens Witz – die Orchesterbegleitung bleibt dagegen behäbig und erdenschwer. Bei Brahms’ 2. Sinfonie jedoch beginnt die Musik zu singen und dunkel zu glühen – so schwelgerisch breit, wie dies heute kaum noch ein Brahms-Interpret wagt. Doch bei Barenboim, dem erklärten Bewunderer Wilhelm Furtwänglers, wirkt diese erzromantische Lesart vollkommen stimmig, ja magisch. Wie er diese Magie erreicht, nur mit den Augen und kargen Gesten – es bleibt sein Geheimnis. Aber es ist ganz grosse Kunst.

(Christian Wildhagen, 22.8.)

Im Jahr 2003 von Pierre Boulez begründet und nach dessen Tod von Wolfgang Rihm übernommen, werden durch die Akademie junge Talente in der Interpretation zeitgenössischer Musik unterwiesen und junge Komponierende betreut. Als Pendant zum Lucerne Festival Orchestra mischt dabei seit 2021 auch das Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO) mit. Das Alter der Mitglieder reicht bis 32 Jahre. Das alles ist einzigartig: Kein anderes führendes, grosses Musikfestival der Klassikwelt bietet eine vergleichbare Initiative.

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Für Poppe ist diese selten aufgeführte Komposition ein «Jahrhundertwerk» [Mathias Spahlingers «passage/paysage» für grosses Orchester von 1988/1990 – die Aufführung habe ich leider verpasst], und das darf auch über sein eigenes «Fett» gesagt werden. Die exemplarische Ausgestaltung von «passage/paysage» durch das LFCO mit Poppe am Pult machte zugleich deutlich, warum sich Poppe dieses Werk von Spahlinger im Rahmen seiner Luzerner Residenz ausdrücklich gewünscht hatte: weil es viel über Poppe selber verrät. So wird auch in Poppes «Fett» in jedem Moment hörbar, wie Ordnung und Orientierung zusehends infrage gestellt werden.

Einzelne Akkordfolgen werden in den Raum gestellt oder Tonhöhen linear allmählich verändert, die Mikrotonalität unterhöhlt die wohltemperierte Ordnung der Klänge. Im Mai 2019 hatte Mälkki in Helsinki bereits die Uraufführung von «Fett» dirigiert. Die dortigen Philharmoniker wirkten damals etwas überfordert mit der vielschichtigen Mikrotonalität, ganz anders jetzt in Luzern der LFCO-Nachwuchs: Die jungen Musikerinnen und Musiker erreichten eine unerhört dramatische und zugleich klangsinnliche Durchdringung, die schier endlose Assoziationsräume eröffnete.

Zehn Monate nach der Uraufführung von «Fett» brach eine Pandemie aus, zu deren Eindämmung Auflagen und Massnahmen verfügt wurden, welche die freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung auf eine harte Probe stellten. Sie mag offiziell für beendet erklärt worden sein, die Auswirkungen aber sind es längst nicht. Vieles erscheint noch in der Schwebe, und dafür bietet Poppes «Fett» den beklemmend passenden, geradezu prophetisch anmutenden «Soundtrack»: jedenfalls in der fesselnden Deutung des LFCO.

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Dafür war es eine Freude, zu erleben, wie kenntnisreich und stilsicher das LFCO unterschiedlichste Klangwelten ergründet. Dieser Eindruck setzte sich unter Mälkki mit der Schweizer Erstaufführung von Unsuk Chins «Šu» von 2009/2010 für die altchinesische Mundorgel Sheng und Orchester mit dem Solisten Wu Wei sowie Igor Strawinskys «Le Sacre du printemps» fort. Das Lucerne Festival Contemporary Orchestra ist die letzte grosse Vision der Lucerne-Intendanz von Haefliger. Wer diesen wertvollen Schatz nicht hegt und pflegt, mit liebendem Verstand, riskiert den Verlust an Identität und Relevanz.

(Marco Frei, 3.9.)

Es gab noch mehr solche Erfüllungsmomente in dieser dritten Festivalwoche. Namentlich, als Herbert Blomstedt mit dem Gewandhausorchester Leipzig Anton Bruckners 7. Sinfonie zur Aufführung brachte. Der schwedisch-amerikanische Maestro mit Wohnsitz in Luzern ist mit 96 Jahren nicht nur der älteste aktive Dirigent der Welt, er ist auch einer der besten. Wie einst der grosse Bruckner-Deuter Günter Wand musste Blomstedt sehr alt werden, bevor sich dieser Ausnahmerang herumsprach. Dem Gewandhausorchester ist er durch eine siebenjährige Amtszeit vertraut, seither ist er dessen Ehrendirigent.

Man spürt die Vertrautheit in jedem Moment der beglückenden Aufführung. Nach einem Sturz dirigiert Blomstedt, der ewig muntere Methusalem, zwar nicht mehr im Stehen; aber gerade der Umstand, dass er den Orchestermitgliedern gegenübersitzt, prägt die Atmosphäre des Konzerts – die abgegriffene Formal «auf Augenhöhe» gewinnt da ihren Sinn zurück. Tatsächlich dirigiert Blomstedt vor allem mit den Augen und mit seiner beredten Mimik. Wenn er doch einmal zu einer grösseren Geste ausholt, ist die Wirkung enorm. Man hat diesen Minimalismus noch gut von einem anderen Doyen der Zunft in Erinnerung: von Bernard Haitink, der 2019 mit demselben Werk in Luzern seinen Abschied nahm.

Bei den beiden können sich jüngere Dirigenten die Kunst abschauen, wie man als Interpret ganz in (oder hinter) der Musik verschwindet, indem man sie scheinbar für sich sprechen lässt. Dennoch hält Blomstedt, der die Partitur ungeöffnet vor sich liegen lässt, die Zügel zu jedem Zeitpunkt fest in der Hand. In diesem Widerspruch liegt das Geheimnis ganz grosser Dirigierkunst. Er gestaltet, ohne dass der Gestaltungswille je als Prätention erkennbar wäre. Er leitet die Musiker nicht nur mit Blicken an, sondern sogar mit bewusstem gemeinsamem Atmen: Das Ergebnis ist ein Musizieren in vollendet natürlichem Einklang, so organisch, wie man es selten erlebt.

Und so ereignet es sich wieder, das wundersame Paradox, dass die Zeit selbst gleichsam zu atmen beginnt: Mal hält sie staunend inne wie im Adagio, mal scheint sie beschleunigt zu vergehen wie im herrlich leichtfüssig klingenden Finale, das sonst oft in Episoden zerfällt. Hier bewährt sich nicht nur Blomstedts souveräner Sinn für das Ganze, sondern auch die Ensemblekultur des Orchesters. Weitgehend befreit vom starren Metrum, also dem klassischen Taktschlag des Dirigenten, nutzen die Gewandhausmusiker den Spielraum, um sich untereinander viel intensiver abzustimmen und aufeinander zu hören. Die Maxime Claudio Abbados, wonach auch Orchesterwerke nichts anderes sind als im Massstab vergrösserte Kammermusik, war hier exemplarisch verwirklicht.

Einer, der sich offenbar viel von Blomstedt abgeschaut hat, ist sein Nachfolger in Leipzig, Andris Nelsons. Als Nelsons 2014/15 im Gespräch war für die Leitung des Lucerne Festival Orchestra, illustrierte er noch jede Wendung in der Musik mit ausufernden Gebärden. Inzwischen formt er die Interpretation ähnlich gelassen wie Blomstedt – eine beeindruckende künstlerische Entwicklung. Nach Luzern kam Nelsons mit seinem anderen Ensemble, dem Boston Symphony Orchestra. Das Programm blieb allerdings hinter den Leipziger Höhenflügen zurück.

[…]

Gleichwohl gab das Niveau des derzeit besten amerikanischen Orchesters anderntags den Massstab vor für die Auftritte der Berliner Philharmoniker. Sie hielten nicht nur mühelos mit, sie setzten der mitunter kühlen Präzision der amerikanischen Kollegen auch eine genuine Spielfreude entgegen, die durch herausragende Solisten wie die neue Konzertmeisterin Vineta Sareika-Völkner noch befeuert wurde.

Kirill Petrenko gibt dem inzwischen deutlich mehr Raum als früher, was auch die zwei anspruchsvollen Programme mit Max Regers Mozart- und Arnold Schönbergs Orchestervariationen erfreulich zugänglich machte. Wie bei Nelsons ist bei Petrenko eine Entwicklung erkennbar: weg von dem Wunsch, alles zu kontrollieren – hin zu mehr interpretatorischer Freiheit und einem Musizieren «auf Augenhöhe». Bei Herbert Blomstedt hört man, wie das in Vollendung klingt.

(Christian Wildhagen, 6.9.)

Es gab noch weitere Artikel über Konzerte, die ich allesamt verpasst habe – u.a. mit höchstem Lob für Mirga Grazinyte-Tyla und ihre Interpretation von Mahler 2$, auch für Klaus Mäkelä, aber weniger für Yuja Wang – und gleich zwei über die Unterbrechung vom Konzert der Bayern und Jurowskis souveräne Reaktion …

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