Konzertimpressionen und -rezensionen

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    gypsy-tail-wind
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    Zürich, Tonhalle – 15.09.2023

    Tonhalle-Orchester Zürich
    Paavo Järvi
    Music Director
    Kian Soltani Violoncello

    ROBERT SCHUMANN Cellokonzert a-Moll op. 129
    Zugabe: SCHUMANN Abendlied (Cello und Orchester)

    ANTON BRUCKNER Sinfonie Nr. 9 d-Moll

    Saisonauftakt in der Tonhalle – Abschlüsse und Neuanfänge, Entdeckungen und Wiederbegegnungen … Schumanns Cellokonzert habe ich zum ersten Mal gehört. Kian Soltani, der diese Saison in der Reihe „Im Fokus“ läuft (zusammen mit der Organistin Iveta Alpakna – das heisst aber einfach drei, vier Auftritte inkl. Kammermusik – und wenn ich die Liste der Fokus-Künstler*innen seit 2019 durchgucke, blieb davon gar nichts hängen, viele – nicht zuletzt Olli Mustonen – hatte ich gar nie gehört) war der Solist und wusste zu überzeugen, gerade auch im Zusammenspiel mit Rafael Rosenfeld, der den Cello-Solo-Part im Orchester einnahm. Das war eine sehr bewegliche Interpretation, orchestral und doch mit Raum für den Solisten, straff geführt und doch oft im Gestus kammermusikalisch klingend – letzteres zweifelsfrei etwas, was Järvis Approach auszeichnet: da wird geführt, aber auch gefordert. Die Musiker*innen blicken nach vorn, aber hören sich eben auch zu (und blicken sich auffällig oft an beim Spielen).

    Nach der Pause folgte der Abschluss des Bruckner-Zyklus … und nachdem ich gerade mit Blomstedt Nr. 7 wiedergehört hatte und auf CD die Nr. 8 der Tonhalle, passte das perfekt. Es war erschütternd, manches gehämmert, wahnsinnig intensiv, für die Tonhalle da und dort fast etwas zu laut, aber eben auch mit grossen Bögen, auch dynamischen. Töne aus dem Nichts aufsteigend, der Torso am Ende ins Nichts verschwindend. Buchstäblich dem Tod abgerungen, das bei diesem Werk für einmal soweit mit bekannt wirklich kleine Plattitüde ist. Im Programmheft – das bei besonderen Gelegenheiten, wie der Saisonstart natürlich eine ist, auch noch gedruckt ausgehändigt wird, findet sich eine Liste aus dem Archiv mit dem bis Ende der 90er handschriftlich geführten Bogen der Aufführungen des Werks. Nach der Premiere 1907 folgten bis 1951 diverse weitere Aufführungen unter dem langjährigen Leiter Volkmar Andrae, dazwichen 1949 eine unter Schuricht, danach u.a. jeweils eine unter Bruno Walter, Hans Rosbaud, erneut Schuricht, und auch eine unter dem späteren Chefdirigenten „Rudi“ (sic) Kempe (der in Zürich wie mir zu Ohren kam sehr beliebt gewesen sei), eine mitSolti und dem Chicago Symphony Orchestra (1985) usw., und im Februar 1996 gleich vier am Stück unter Herbert Blomstedt (der zuletzt im Juni Bruckners Nr. 5 dirigiert hatte).

    Dass der VR-Präsident der Tonhalle-Gesellschaft, Alt-Stadtrat Martin Vollenwyder, sowie die Intendantin Ilona Schmiel zur Begrüssung ein paar Worte sagten, die hart am Kalauer vorbeischrammten, war angesichts des Gebotenen zu Verschmerzen. Mit Seitenblick auf Luzerns diesjähriges Motto „Paradies“ meinten sie, hier hätten wir die ganze Saison Paradies … und das stimmt ja auch tatsächlich, das Orchester klingt wirklich hervorragend, es zu hören ist jedes Mal eine Freude. Allerdings bin ich bei diesem (dritte von drei Aufführungen) wie beim zweiten Konzert (zweite von zwei, die dritte fand tags drauf als Gastspiel im Tessin statt) über die vielen leeren Plätze erstaunt gewesen.

    Hier als Einschub noch der Link zu den Zeilen über die wunderbare Sonntagsmatinée vom 17.09.2023 mit zwei südafrikanischen Jazzmusikern (McCoy Mrubata und Paul Hanmer), dem aus Südafrika stammenden Solo-Klarinettisten des Orchesters der Oper Zürich (Robert Pickup) und einem Streichquartett von ebendort:
    http://forum.rollingstone.de/foren/topic/2022-jazzgigs-konzerte-festivals/page/3/#post-12155983

    Zürich, Tonhalle – 21.09.2023

    Tonhalle-Orchester Zürich
    Paavo Järvi
    Music Director
    Olli Mustonen Klavier

    LUDWIG VAN BEETHOVEN:
    Ouvertüre «Die Weihe des Hauses» C-Dur op. 124
    Klavierkonzert D-Dur op. 61a (nach dem Violinkonzert op. 61)

    Ludwig van Beethoven Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 36

    In Woche zwei dann gleich die nächste Runde mit Järvi am Pult. Er dirigiert ziemlich viel hier, dünkt mich – und das ist gut so! Die nächsten Konzerte im Oktober verpasse ich (je eine Aufführung mit Bruce Liu mit Chopins ersten Klavierkonzert und Beethoven 5 bzw. Bomsori Kim mit Nielsen und Brahms 1, da gibt es dann wieder die „Weihe des Hauses“ zum Einstieg – Nielsen verpassen ist natürlich bedauerlich, aber ich bin in den Ferien), im Dezember ist er dann mit Wayne Marshall (org/p) zurück und darauf freue ich mich schon (ein neues Stück vom diesjährigen Creative Chair Bryce Dessner, Gershwins Konzert in F, eine Orgel-Improvisation von Marshall und dann Rachmaninoffs Symphonische Tänze).

    Programm Nummer zwei gehörte also ganz Beethoven – und das war hier nicht der grosse Titan sondern ein suchender, unendlich ideenreicher Musiker – dessen Ideen manchmal schier unzumutbar wirkten. Die grosse Ouvertüre hatte ich so richtig aufmerksam noch nie angehört – ein ziemlich tolles, durchaus pompöses („festlich“ sagt man dazu wohl?) Stück mit ein paar interessanten Entwicklungslinien. Danach der Main Event: Olli Mustonen war in der Pandemie so ein „Fokus“-Künstler hier, aber eben: gehört hatte ich ihn damals nicht. Ich hatte eigentlich ein Kurzkonzert besuchen wollen, im Herbst 2020, als es damals noch in der Tonhalle-Maag 40minütige Konzerte gab, bei denen das Publikum im Schachbrettmuster sitzend in Sektoren eingeteilt wurde. Mustonen sagte ab – und zu unser aller Glück sprang Lars Vogt ein und spielte das vierte Klavierkonzert von Beethoven – mein letztes (leider nur zweites) Konzert von ihm, und es war umwerfend gut.

    Dieses Mal war Mustonen also da und spielte auch wirklich die von Beethoven selbst eingerichtete Klavierfassung des Violinkonzerts, die manchmal als Klavierkonzert Nr. 6 zirkuliert. Das Orchester wurde dazu verkleinert, aber auch so schien das Klavier öfter vom Orchester verschluckt zu werden, als das bei der Geige der Fall wäre. Doch gehörte die enge Anbindung von Solopart und Orchester zur Faszination der grandiosen Aufführung dazu. Der Effekt war schon irre, diese ganzen Linien und Melodien – angereichert durch Akkorde natürlich, Beethoven wusste, was er tat – aus den Tasten zu hören. Die Lage oft nicht optimal sondern eher zu hoch, wo das Instrument (ein Steinway) eher etwas dünn und spitz klingt … welche Schnellfingrigkeit da vonnöten ist, welche unfassbare Präzision noch in den irrsten Tempi, in den längsten Läufen. Und wie scheinbar völlig entspannt Mustonen das hinzauberte (sich dann aber den Schweiss aus dem Gesicht wischte). Wirklich umwerfend und enorm beeindruckend, weit übers reine Virtuosentum hinaus. Mustonen spielte dann nach – trotz des zu einem Drittel leeren Saal riesigen Applauses – eine Solo-Zugabe, bei der ich auf eine Scarlatti-Sonate tippe, ohne das zu wissen. Jedenfalls spielte er auch das nicht mit herkömmlich schwerem Klavieransatz sondern leicht, knackig kurz – und erneut umwerfend.

    Nach der Pause dann Nr. 2 von Beethoven, nach dem oben schon beschriebenen Järvi-Muster: straff geleitet, aber auch federnd (es gibt manchmal Momente, in denen er auf dem Podium fast zu tanzen anfängt), flexibel (den Stab klappt er auch mittendrin mal nach hinten und dirigiert nur mit den Händen), und dennoch auch ein hörendes Miteinander fordernd, ein waches Orchester, dessen Musiker*innen nicht nur auf den Dirigenten achten sonder auch einander gut zuhören. In Beethovens zweiter gibt es im zweiten Satz glaub ich diesen Moment, in dem ein kleines schlängelndes Streicher-Motiv sich aus dem Orchester befreit und empor steigt – das ist so ein Moment, mit dem mich jedes Mal hat.

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #152: Enja Records 1971-1973 – 14.05., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
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    #12165457  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Mir war grad nach Schreiben … nach fast vier Stunden im sehr beeindruckenden Musée des Beaux-Arts in Lyon hatte ich gestern nur Zeit für einen kleinen Imbiss und dann musste ich schon wieder los zum Doppelkonzert am Abend. Und vorweg: das hat sich sehr gelohnt, ganz besonders der zweite Teil mit Haydn und persischer Musik. Und die Kapelle ist echt perfekt für Musik – die Seitenkapellen mit dicken Vorhängen abgeschlossen, das ganze also ein offener Raum ohne Hinter- und Nebenräume, die für zu viel Hall sorgen oder die Musik verschlucken. Zudem wie auf dem ersten Foto (die Bühne vor dem zweiten Konzert) zu sehen wirklich schön anzuschauen und auch schön beleuchtet (mit wechselnden Farben nicht nur für Rothko – da werden regelmässig Konzerte veranstaltet, man ist offensichtlich mit der üblichen Konzertsaal-Technik ausgestattet).

    „Ensemble(s) en musique“ – Festival des Ensembles Vocaux et Instrumentaux Spécialisés d’Auvergne-Rhône-Alpes (FEVIS) – Lyon, Chapelle de la Trinité – 02.10.2023

    19:00: Napoli! Ensemble Pulcinella / Bach-Rothko-&-Moi: Ensemble Boréades
    Pulcinella: Ophélie Gaillard violoncelle, Daniel de Morais théorbe et guitare, Pascale Clément violoncelle: ORTIZ: Recuerdas 8 et 4, La Folia; FALCONIERI: La suave melodia y su corrente; SCARLATTI: Sonate n°1
    Boréades: Caroline Adoumbou mezzo/La médiatrice, Anthéa Pichanick contralto/La novice, Pierre-Alain Four voix parlée/Jean-Sébastien Bach, Ophélie Gaillard violoncelle, Daniel de Morais théorbe, Laetitia Toulouse préparation et conception musicale; Texte et mise en espace: Pierre-Alain Four): BACH: Suite pour violoncelle seul et autres cantates (aus BWV 1007–1009 bzw. BWV 4, BWV 11, BWV 508 und BWV 1083)

    21:00: Entre Orient et Occident: Quatuor Debussy (Christophe Collette violon, Emmanuel Bernard violon, Vincent Deprecq alto, Cédric Conchon violoncelle) + Keyvan Chemirani (santour, daf, zarb, tambourin: HAYDN: Les Sept Dernières Paroles du Christ en Croix op.51 (1785); CHEMIRANI: An Indian Way, Soudha, Grybbon

    Zu Beginn von Teil eins gab es noch eine kleine Überraschung: eine Vorschau auf das Freitag erscheinende neue Doppelalbum von Ophélie Gaillards Ensemble Pulcinella, „Napoli!“, das es dann auch bereits beim CD-Stand zu kaufen gab (klar hab ich ein Exemplar mitgenommen, Aparté ist ja eins dieser Label, die nicht so guten Vertrieb haben und deren Auflagen manchmal schnell ausverkauft sind). Das war wirklich nur eine Art Spoiler, ca. zehn Minuten Musik von Diego Ortiz, Andrea Falconieri und Alessandro Scarlatti, gespielt von Gaillard mit Daniel de Morais an Theorbe und Barockgitarre sowie Pascale Clément am zweiten Cello.

    Der Hauptteil bestand dann aus dem angekündigten Stück „Bach, Rothko & Moi“. Ein Sprecher (Bach), zwei Sängerinnen/Sprecherinnen (Pichanick und Adoubmou), zwei Instrumentalist*innen (erneut Gaillard und de Morais), ein etwas affektiertes Ding über zwei Frauen, die über Rothko nachdenken, während ein unsichtbarer Bach (ich sass relativ weit vorn und weiss nicht, wo im Raum er platziert war) Zwischenbemerkungen macht, kommentiert, schwadroniert, und sich für ziemlich nah an Gott hält (wie dem Programmblatt zu entnehmen war – mir sind die Feinheiten wohl zu weiten Teilen entgangen). Auf der Bühne standen fünf leere Leinwände, die mittels Scheinwerfern in unterschiedliche Farben getaucht wurden. Das war hübsch anzuschauen, funktionierte auch insgesamt recht gut, aber ich hielt mich dann doch immer wieder an der Musik fest – nicht nur am knappen Dutzend Sätze aus den Cello-Suiten (alles aus Nr. 1–3), sondern auch an den Sätzen (allesamt Duette) aus verschiedenen Kantaten (da kamen dann zum Cello dazu auch zwei Theorben zum Einsatz – einmal setzte de Morais viel zu früh ein und ich dachte erst, er dürfe auch einen Satz spielen – was ich in dem Rahmen durchaus passend gefunden hätte, war aber leider nicht der Fall). Den musikalischen Teil des Konzerts fand ich jedenfalls sehr gut, Gaillards Ton ist toll, mit einer gewissen Schärfe, aber nie dünn, ihr Spiel gefällt mir überhaupt sehr gut.

    Nach einer Dreiviertelstunde Pause dann der zweite Einlass … das Prozedere war schon vor dem ersten mühsam, die Schlange schon sehr lang als ich dreissig Minuten vor Beginn kam (die Franzosen stehen gerne an … eine vom Météo in Mulhouse bestens bekannte Erfahrung – und es gibt bemerkenswert viele, die gut im Vordrängeln sind, was ich zutiefst verabscheue) und es ging kaum voran, weil das Scannen der Karten Probleme machte. Für alle, die einen schon entwerteten Abend-Pass hatten, ging es beim zweiten Mal gar nicht mehr (weil eben: schon entwertet) – aber ich hatte mir an den frechen Galliern ein Vorbild genommen und meine Tasche einfach auf dem guten Platz liegen gelassen, den ich beim ersten Konzert ergattern konnte. Und jetzt wurde es richtig gut!

    Das Debussy Quartett spielte im Stehen an der Bühnenkante den Prolog zu Haydns sieben letzten Worte – der Dorn des Cellos war nicht ganz lang genug, Conchon krümmte sich daher ein wenig. Der Ansatz der vier überzeugte mich sofort, weniger an einer perfekten Klangmischung interessiert als an einem sehr lebendigen Musizieren, das oft spontan wirkte, unprätentiös – und dabei wurde immer wieder klar, dass das eben doch nur deswegen so gut funktionierte, weil die vier die Klangmischung bestens im Griff hatten. Für die Stücke mit Keyvan Chemirami setzten sich die vier jeweils hin. Im ersten spielte er die Santur, das persische Hackbrett, das Collette in seinen einleitenden Worten nach dem ersten Mal Haydn allerdings als „indisch“ präsentiert hatte; es wird gemäss Wikipedia in der irakischen, der persischen sowie der kaschmiri klassischen Musik gespielt und von letzterer aus habe es in die (hindustanische, also nord-)indische Eingang gefunden (da gab es in der Zeit der Mogulreiche ja eine Nähe zur persischen Kultur). Dieses erste Stück war wie im Programm angegeben “ An Indian Way“, , es bot Chemirami Gelegenheit, zu glänzen, das Streichquartett schlängelte sich um ihn herum, mit immer wieder wechselnden Stimmen im Vordergrund und oft mit Ostinato-Figuren oder stark rhythmisiertem Spiel vom Cello, das den Bass-Part übernahm. Mit der Zeit fand ich das Stück aber etwas lang und gleichförmig – es gab Wiederholungen, verschiedenen Teile, Schein-Enden – und ging eben doch immer wieder weiter. Dann folgte eine ganz bezaubernde Version der Sonate Nr. 5 (Adagio: Sitio/Ach mich dürstet).

    Ab da klappte es dann auch, dass das Publikum nicht mehr jedes Mal dazwischenklatschte und das nächste Stück von Chemirami nahtlos folgen konnte. Er spielte in diesem – vermutlich „Soudha“, wenn die Reihenfolge im Programmheft denn stimmte – die Daf, eine Rahmentrommel, in einer Version ohne Schellenkranz (wie wir ihn von unseren Tamburinen kennen) aber mit losen Metallringen im Innern, mit denen er der Trommel eine Art Snare-Effekt entlocken konnte. Das Stück überzeugte mich nun vollends – wie alles ab hier gespielte. Das Streichquartett war viel stärker eingebunden – die Musik changierte zwischen orientalischen Grooves (ich glaube, dieses Stück war in Sieben, eins in Neun gab es auch), Drones und überaus eingängigen Melodien, die von der Vielstimmigkeit der Streicher aufgefächert wurde. Zweite Geige oder Bratsche legten auch mal Pizzicato-Rhythmen unter die Melodie, während das Cello den Bass-Part übernahm.

    Es schloss gleich das nächste von Zemirami an („Grybbon“?) und er griff nun nach der Zarb (aka Dumbek, Tombak usw.), einer Becher- oder Kelchtrommel, ungefähr von der Grösse eines kleinen Hockers, über das linke Bein gelegt und – wie auch die Rahmentrommel davor, die manchmal buchstäblich in der Luft zu fliegen schien – mit beiden Händen gespielt. Durch die leichte Verstärkung konnte Zemirami auch mit den Fingern über das Fell fahren und dabei einen Klang erzeugen, der gar nicht weit von Besen auf einer Snare (mit geschlossenen Schnarrsaiten) weg war. Mit den vielen verschiedenen Tönen – darunter auch bauchig tiefe – konnte bei den beiden Stücken mit Zarb der Eindruck entstehen, dass da ein kleines Drum-Set gespielt würde. Dazwischen erklang das Largo, die vierte Sonate von Haydn („Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“) – in recht zügigem Tempo, gradaus gespielt und doch tief empfunden, mit singender erster Violine. Wie das folgende vierte Zemirami-Stück geheissen haben könnte, weiss ich nun leider nicht (wie gesagt: die Titel von Nr. 2 und Nr. 3 sind ja auch schon unklar, die standen einfach im Programmheft, nur das erste ist dank Collettes Ansage eindeutig) – es begann mit einem langen Zarb-Solo und dann stieg das Streichquartett ein, in mehreren Tempi und unterschiedlichen Ostinati aufgeschichtet, und mit sich freispielenden und dann wieder im Ensemble verschwindenden Melodien.

    Haydn kehrte mit der Sonate Nr. 2 zurück, dem Grave e cantabile “ Sonata II (Grave e cantabile): „Fürwahr, ich sag es dir“ – betörend schön, und wirklich perfekt auf die Musik Zemiramis abgestimmt. Und von da ging es bruchlos in den Abschluss über: Zemirami öffnete mit einem grossen, liegenden und mit grossen Schlägeln gespielten Tamburin den letzten Satz von Haydn, „Il terremoto“, mit der Überschrift „Presto e con tutta forza“. Das Quartett liess sich nicht zweimal bitten und als Zemirami für die letzten Takte dazu stiess, war das wirklich wuchtig – und ein perfekter Abschluss eines umwerfenden Konzertes.

    Eine Zugabe musste dann auch noch her – eigentlich schade in diesem Fall, fand ich. Zemirami setzte sich nochmal an die Santur und wenn ich mich nicht verhört hatte folgte ein kurzer Auszug aus „An Indian Way“. Alles in allem ein wirklich umwerfendes, hervorragend funktionierendes Konzert – nach dem durchaus hörenswerten ersten.

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #152: Enja Records 1971-1973 – 14.05., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
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    kurganrs

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    @gypsy-tail-wind: Sehr schöner Bericht. Danke.

    #12165489  | PERMALINK

    soulpope
    "Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"

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    @ „gypsy“ : Dank für Deine Impressionen …. freut mich, dass das Debussy Quartett eine erfreuliche „Entdeckung“ war …..

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      "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
    #12175367  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Ich bin wieder daheim seit gestern Nachmittag … und es ist echt irre, was ich in den zweieinhalb Wochen alles hören (und sehen, vgl. Film-Thread) konnte. Meine Reiseroute wurde durch die drei Konzerte in diesem Post sowie die drei von und mit Eve Risser festgelegt, das Konzert oben ergab sich dann zusätzlich noch. Ein paar Zeilen zu den drei Konzerten der letzten Woche:

    Beaune, Hospices/Hôtel de Dieu – 07.10.2023

    La Palatine – Au fil de la nuit
    Marie Theoleyre Sopran; Noémie Lenko Viola da gamba; Nicolas Wattine Theorbe, Barockgitarre, Blockflöte; Guillaume Haldenwang Cembalo

    GUILLAUME CHASTILLON DE LA TOUR: Cueillant la violette / FRANçOIS RICHARD: Amarante / Manuscrit Cassel: Sarabande; Gavotte / Traditionnel du Béarn: Fillette, de l’autre rive / Man. Cassel: Bansles de Mr du Manoir / Trad. du Bourbonnais / Man: Philidor: Les nimphes de la Grenouillière / PIERRE GUÉDRON: Si tu veux apprendre les pas à danser / Man. Philidor: Les Ombres; ETIENNE MOULINIÉ: Concert de différents oyseaux / François FRANçOIS DUFAUT/Man. Cassel: Suites de trois courantes / Trad. du Béarn: Dans le tombeau, ô ma bien-aimée / DU BUISSON: Prélude / GUÉDRON: Aux plaisirs, aux délices bergères / Man. Philidor: Les Bergers / ANTOINE BOËSSET: Je voudrais bien ô Cloris + drei Chansons aus dem 20. Jahrhundert und als Zugabe nochmal Guédrons „Si tu veux apprendre les pas à danser“

    Was mich hier erwarten würde, war mir überhaupt nicht klar. Ich kannte das Ensemble La Palatine nicht, muss aber demnächst mal beim Vertrieb die erste CD holen („Il n’y a pas d’amour heuruex“, Ambronay, 2022). Auf dem Programm standen airs de cour und chansons de bergères (sagt man denen so?), dazwischen instrumentale Tanzsätze (all die Stücke aus unbekannter Hand aus den Manuskripten sowie die Prélude von Du Buisson) – und drei Überraschungen, die sie einstreuen würden, wie Haldenwang in seiner längeren Ansage nach dem ersten Stück sagte.

    Das Ambiente – im Armensaal des einstigen Hôtel Dieu – war sehr besonders, die Akustik für die Musik sehr gut, für die Stimme etwas hallig, doch zum Glück singt Theoleyre (diese Namen – immerhin gab’s auch im Programm einen Fehler, wo sie „Theolere“ heisst) mit grösster Klarheit, fast ohne Vibrato. Der Saal ist lang und relativ Schmal, aber ganz ohne Unterteilungen, Säulen usw. (ähnlich wie die Kapelle in Lyon also). Und der Abend war ausverkauft, es mussten Leute ohne Karten weggewiesen werden.

    Eine wunderbare Stimme stand also die meiste Zeit im Zentrum, sehr warm, sehr biegsam, für die höfischen Lieder ebenso geeignet wie für die Chansons aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Für diese griff Wattine übrigens stets zur Theorbe, nicht etwa zur (kleinen) Barockgitarre. Mehrmals spielte er zudem Blockflöte (Tenor). Manche Stücke folgten nahtlos aufeinander, andere Male setzten sie etwas zu lange ab (oder mussten nachstimmen) und Applaus schob sich dazwischen. Das Programm dauerte etwa eine Stunde und alles fügte sich hervorragend zusammen – ein wunderbares Konzert.

    Opéra de Dijon – 10.10.2023

    La Néréide – Luzzaschi: Il concerto segreto
    Julie Roset, Camille Allérat & Ana Vieira Leite Sopran; Ronan Khalil Cembalo; Gabriel Rignol Theorbe & Laute; Manon Papasergio Viola da gamba, Harfe

    LUZZASCO LUZZASCHI: Non sa che sia dolore / FRANCESCA CACCINI: Le tre sirene / LUZZASCHI: Deh vieni ormai; Cor mir; Ch’io non t’amoi; T’amo mia vita; O dolcezze amarissime; Stral pugente; Aura soave / CLAUDIO MONTEVERDI: Come dolce hoggi l’auretta / LUZZASCHI: Troppo ben può / LUCA MARENZIO: Belle ne fe natura / LUZZASCHI: O Primavera / CACCINI: Le 3 Damigelle / LUZZASCHI: Io mi son giovninetta; Occhi del piano mio / CACCINI: Coro delle piante incantate

    Ein paar Tage später, am Dienstag – dem Tag, an dem in Dijon fast alles geschlossen hat – gab es in der alten Oper (fast wäre ich zum neuen Konzertsaal am Rand des Stadtzentrums spaziert) ein Konzert mit Musik des „concerto delle dame“ in Ferrara. Drei Sängerinnen und Instrumentalistinnen waren es, die unter der Leitung von Lorenzo Luzzaschi (er spielte Cembalo, die drei Sängerinnen die Harfe, die Laute und die Gambe) exklusiv für den Fürst Alfonso II. d’Este auftrat – und manchmal für dessen Gäste. Erst 1601 wurde ein Teil der „geheimen“ Musik erstmals publiziert, und La Néréïde haben auf ihrem ersten Album, im September bei Ricercar erschienen, einen neuen Anlauf genommen, diese Stücke zu präsentieren (mein Favorit ist wohl die Einspielung auf Zig Zag unter Denis Raisin Dadre von 2007, es gibt auch eine von La Venexiana auf Glossa von 2009 – beide und auch die neue von La Néréïde sind sehr gut).

    In solche Gesangsmusik für mehrere Sopranstimmen am Übergang von der Renaissance zum Barock habe ich mich relativ früh in meinen Klassik-Erkundungen ziemlich heftig verliebt – zu meiner eigenen Überraschung, mag ich anfügen. Vor den Stücken Luzzaschis waren es besonders Kantaten von Luigi Rossi („Canterine Romane“ von Tragicomedia unter Stephen Stubbs – immer noch eine heiss geliebte Einspielung). Das Konzert von La Néréïde war die erste Gelegenheit, dass ich so etwas auch mal live hören konnte. Und das war wie erhofft sehr, sehr schön. Die Instrumentalbegleitung blieb hier mehr im Hintergrund (eben: die Sängerinnen begleiteten sich damals selbst), da und dort eine kurze kantable Linie der Gambe, sonst dienten die Instrumente wirklich eher dem Auffüllen der Akkorde und der farblichen Ergänzung des Cembalos, das den Hauptteil der Begleitung stemmte, aber auch mal für eine Strophe aussetzte.

    Die drei Sängerinnen gefielen mir sehr gut. Julie Roset ist mir als einzige schon mehrfach begegnet und überzeugte mich auch live am meisten. Camille Allérat (noch gar nie gehört) und Ana Vieira Leite (auf einer relativ neuen Fiocco-Einspielung bei Ramée zum bisher einzigen Mal gehört) waren aber ebenfalls sehr gut. Einzig das Austarieren der drei Stimmen – sie sangen auch selten einzeln und öfter in allen möglichen Zweierkombinationen – gelang live nicht immer so perfekt wie auf der CD. Über fünf Viertelstunden wurde das da und dort etwas eintönig, weil die Stimmen und die Musik halt auch dann ähnlich blieben, wenn sie anders kombiniert wurden – und der Wechsel von Harfe zu Gambe machte auch nicht den grossen Unterschied. Dennoch: allen in allem wunderbar!

    Philharmonie de Paris, Grande Salle Pierre Boulez – 13.10.2023

    Ensemble Intercontemporain
    Odile Auboin
    Viola
    Orchestre du Conservatoire de Paris
    Pierre Bleuse
    Leitung

    GÉRARD GRISEY: Les Espaces acoustiques

    Der krönende Abschluss dann am Freitag im grossen Boulez-Saal der Pariser Philharmonie. Dieser Saal ist das Herzstück der Cité de la Musique am Boulevard périphérique (der sich in der Aussenhaut ziemlich toll spiegelt – erst beim Näherkommen war klar, was das für Lichteffekte sind, die man dort sieht) und wurde im Januar 2015 eröffnet. Ohne den Architekten Jean Nouvel, der sich nach den üblichen Kostenexplosionen, Geschachern, Anpassungen, Prozessen etc. schon vor Fertigstellung distanziert hatte. Der Saal bietet für 2400 Menschen Platz – und blieb bei dem Programm wie erwartet halb leer. Wir hatten perfekte Plätze mit gutem Blick auf die Bühne (nur die Hammondorgel und die hintersten beiden Violinen konnten wir nicht sehen) – und waren allesamt (meine Eltern kamen mit) schwer beeindruckt. Das einzige kleinere Problem: die relative Enge und Intimität des Saals – die maximale Distanz zwischen Publikum und Dirigentenpult beträgt laut Wiki 32 Meter, das ist für so einen riesigen Saal echt beeindruckend – , seine völlig offene Form, führt dazu, dass jeder Huster (und es gab leider viele) und jedes Geraschel ebenfalls ungedämpft im ganzen Saal zu hören ist.

    Auboin öffnete im Kegel eines Scheinwerfers, der Rest des Saals abgedunkelt. Immer wieder spielte sie die gleichen Linien, variierte sie, wechselte zur nächsten, kehrte zurück, brach plötzlich aus und war unversehens wieder bei diesen ewig gleichen Linien. Der Aufbau des Werkes klang für meine Ohren über die ganzen ca. 100 Minuten stringent und nachvollziehbar – ohne dass Grisey dabei übliche Muster von An- und Abschwellen oder von Spannung und Lösung/Entspannung nutzen würde. Es ist wahnsinnig viel los in diesen sechs Stücken – von denen ich vor einigen Jahren in Turin „Modulations“ unter Metzmacher gehört hatte, meine allererste Grisey-Begegnung, eingebettet in eine sehr logische Rückwärtschronologie mit dem zweiten Violinkonzert des Grisey-Schülers Magnus Lindberg und zum Schluss dann „Amériques“ von Varèse. Die Klangwelt ist enorm reich, die ganzen „erweiterten“ Spieltechniken sorgen dafür ebenso wie die grosse Besetzung, in der Akkordeon, Kontrafagott, Saxophone, Klavier, Celesta, Hammond-Orgel, E-Gitarre und eine grosse Schlagzeugbatterie (inkl. Vibraphon und Marimba, die wie die Gitarre auch mal mit einem Geigenbogen gespielt werden) gefragt sind.

    Wie Bleuse das leitete (ab Teil 2) und wie – in den Teilen vier bis sechs – das sehr junge Konservatoriumsorchester (mit einzelnen Mitgliedern des Ensemble intercontemporain in seinen Reihen) das spielte, war gleichermassen beeindruckend. Sehr locker wirkte das und doch sehr fokussiert. Der Zyklus kommt nicht ganz ohne Slapstick aus und das konnte in dem besonderen Saal auch gut inszeniert werden. Dadurch, dass es keine Pause gab, nur einen kurzen grossen Personalwechsel nach dem dritten Teil (davor sassen 19 Musiker*innen – im Dunkeln, wenn sie nicht spielten – auf der Bühne, der Klarinettist von Teil 2 pausierte in Teil 3 und blieb sitzen für Teile 4-6) wurde der doppelte verhinderte Beckenschlag (am Ende von Teil 3 und am Anfang von Teil 4) quasi auf zwei Minuten eingedampft – doch als er dann einiges später (in Teil 5 glaube ich?) stattfindet, ging kurz das Licht aus, bis auf einen Scheinwerfer auf den Schlagzeuger. Die Solo-Bratschistin kehrte für den Schluss auf dem Balkon hinter dem Orchester zurück (in der Besetzung von Teilen 4-6 war sie sonst nicht dabei) … und die vier Hornsolisten im Epilog waren Jean-Christophe Vervoitte, Pierre Rémondière, Jean-Noël Weller und Arthur Régis dit Duchaussay.

    Ein unvergessliches Konzert, das mich völlig plättete … und meine Eltern auch, was mich enorm freute. Dem alten Herrn sagt solche Musik sonst sehr wenig, aber auch er war fasziniert. Und wie oft ich noch die Gelegenheit zu solchen gemeinsamen Unternehmungen habe, steht in den Sternen – jedenfalls kaum je wieder ausserhalb von Zürich und Umgebung.

    PS: falls ich mich je umbenennen sollte, möchte ich einen bretonischen Namen und so ein „dit“ haben … und ich glaube, das Konzert wurde aufgezeichnet – wer weiss, ob’s davon vielleicht dereinst sogar mal eine Veröffentlichung geben wird.

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #152: Enja Records 1971-1973 – 14.05., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
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    soulpope
    "Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"

    Registriert seit: 02.12.2013

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    @ „gypsy“ : verbindlichen Dank für Deine gesammelten Impressionen ….

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      "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
    #12175387  | PERMALINK

    kurganrs

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    @gypsy-tail-wind: Danke auch von mir für den schönen Bericht. Thx.

    #12175465  | PERMALINK

    yaiza

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    Ich danke auch für die interessanten Konzertberichte.

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    #12175517  | PERMALINK

    vorgarten

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    ja, vielen dank! ich habe die „espaces acoustiques“ ja noch nie live gehört und bin auf die kairos-einspielung angewiesen. ich kannte allerdings den „prologue“ für solo-bratsche vorher, der existiert ja auch unabhängig in einer version mit hinzugefügten (verschalteten) elektronischen resonatoren, die das monochordische des stücks nach art einer viola d’amore polyphon umspielen. davon gibt es eine aufnahme, auf accord, die ziemlich faszinierend ist. aber auch im gesamtwerk ist dieser einstieg magisch. mir fehlt allerdings die erfahrung der allmählichen erweiterung des klangs durch die sich vergrößernde besetzung, das stelle ich mir live sehr beeindruckend vor.

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    #12175553  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Es war wirklich der Hammer – mir fehlen völlig die Worte, das adäquat zu Beschreiben … eine unglaubliche Maschinerie, die da angeworfen wird, und die doch völlig organisch auf- und abebbt, zu atmen scheint noch in der grössten Verdichtung – die ja genauer gesagt wirklich eine Auffächerung ist.

    Es gibt ja noch eine etwas ältere Einspielung unter Valadé bzw. Cambreling (und mit Caussé an der Bratsche):
    https://www.discogs.com/master/272379-G%C3%A9rard-Grisey-Frankfurter-Museumsorchester-Sylvain-Cambreling-Ensemble-Court-Circuit-Pierre-Andr%C3%A9-
    Interessant, dass beide in zwei (bzw. mehr) Teilen entstanden sind, bei der auf Kairos gibt’s in Teilen 2 und 3 keinen Dirigenten – danach Asbury, das war ja die Aufnahme, die in der Sendung mit Metzmacher auszugsweise gespielt wurde.

    --

    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #152: Enja Records 1971-1973 – 14.05., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #12179917  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Zürich, Opernhaus – 21.10.2023

    La rondine – Commedia lirica in drei Akten von Giacomo Puccini (1858-1924)
    Text von Giuseppe Adami nach einem Librettoentwurf von Artur Maria Willner und Heinz Reichert, Schweizerische Erstaufführung

    Musikalische Leitung Marco Armiliato
    Inszenierung Christof Loy
    Bühnenbild Etienne Pluss
    Kostüme Barbara Drosihn
    Lichtgestaltung Fabrice Kébour
    Choreinstudierung Ernst Raffelsberger
    Choreografie Thomas Wilhelm
    Dramaturgie Kathrin Brunner

    Magda Ermonela Jaho
    Lisette Sandra Hamaoui
    Ruggero Benjamin Bernheim
    Prunier Juan Francisco Gatell
    Rambaldo Vladimir Stoyanov
    Périchaud Andrew Moore
    Gobin/un giovane/Adolfo Nathan Haller
    Crébillon Stanislav Vorobyov
    Yvette/Georgette Yuliia Zasimova
    Bianca/Gabriella Meeta Raval
    Suzy/ LoletteSiena Licht Miller
    Butler Valeriy Murga
    Rabonnier Amin Ahangaran
    Die Kellnerin Annabelle Kern
    Der Kellner Yannick Bosc
    Philharmonia Zürich
    Chor der Oper Zürich

    Gestern hörte ich also endlich auch die Schweizerische Erstaufführung von Puccinis „La Rondine“ – und was soll ich sagen, das war wirklich eine umwerfende Angelegenheit und eine grosse Entdeckung! Auch wenn das Stück unfertig blieb, in Varianten vorliegt, also Entscheidungen getroffen werden müssen vor einer Aufführung, auch wenn mit Blick aufs Ganze vielleicht nicht alles perfekt funktioniert, so ist das ein unendlich reiches, faszinierendes Stück Musiktheater. Natürlich ist es keine Operette, natürlich kann man drüber fluchen – wie Puccini es tat – dass es dramaturgische Schwächen hat, Lücken, Probleme … aber wenn es so überzeugend und so hochkarätig aufgeführt wird, wie in Zürich gerade der Fall (ich war in der zweitletzten Aufführung, die Dernière ist nächsten Samstag und wie schon die gestrige Vorstellung längst ausverkauft), dann ist das wirklich umwerfend!

    Dass die ersten beiden Akten einen leichteren Ton haben – eben: operettenhaft finden manche –, am Vorbild vom „Rosenkavalier“ geschult, ist nun wirklich kein Grund, diese Oper für ein Leichtgewicht zu halten. Denn wie Puccini das komponiert hat, fand ich wahnsinnig beeindruckend. Ein unglaublicher Reichtum an Klängen in der Instrumentierung (auch da schimmert manchmal Strauss durch – auch im tragischen dritten Akt), der Witz in Libretto und Musik, das hat eine Schlagfertigkeit, ist wirklich stets auf der Kante, jeden Moment perfekt umgesetzt, fabelhaft getimt. Es wird auch öfter mal knallig – schon im Prolog, später z.B. in der Szene, in der Lisette ihr Scheitern als Sängerin beklagt: der Dichter – der auch so etwas wie der Seelenverwandte der Titelfigur ist und so das Gefüge mit dem hohen und dem niederen Paar durchbricht – will seine Geliebte formen und erheben, doch er muss die Lächerlichkeit und Vergeblichkeit seines Unterfangens einsehen – bleibt aber, er ist im Kern ein guter Mensch, seiner Liebe treu.

    Nicht nur gewalzert wir hier heftig (ob Ravel sich in Kenntnis von „La rondine“ zur Fertigstellung seiner schon 1960 begonnenen „La valse“ anregen liess?), es schleichen sich auch, so Anselm Gerhard in seinem Text fürs Programmheft, „an vielen Stellen Splitter von Modetänzen der Gegenwart wie Tango, one-step, Foxtrott oder Polka“ ein. Die Walzer-Rhythmen werden gerne durch Duolen gebrochen, die Instabilität von Magdas Welt – sie ist auf Gedeih und Verderb den Männern ausgeliefert, die sie aushalten – wird auch musikalisch verdeutlicht. Die Partitur, so Gerhard, „oszilliert auf verstörende Weise zwischen Traumbild und Zeitstück, zwischen leichter Ironie und herbem Schmerz, zwischen leisen Tönen und einer Instrumentationskunst auf dem letzten Stand der Avantgarde“. Das bringt’s für mich sehr gut auf den Punkt. Dass Gerhard auch Debussys Namen einwirft, wenn es um die Instrumentierung und den Farbenreichtum von „La Rondine“ geht, leuchtet mir ebenfalls ein.

    Um den Faden vom Timing, dem „auf der Kante“ spielen, wieder aufzunehmen: umso wichtiger, dass Christof Loys Figurenführung ebenso perfekt und auf den Punkt ist. Loy war es, der überhaupt den Anstoss für die Produktion gab. Das Bühnenbild muss kaum verändert werden, die Figuren (im zweiten Akt mit dem Chor und Tänzer*innen) bewegen sich präzise. „Menschen in Zeit und Raum – das ist mein Element“, so Loy im Gespräch fürs Programmheft. Das hat er wirklich im Griff, da sitzt wirklich alles. Anderswo im Gespräch sagt er: „La rondine ist einfach ein sehr gutes Stück, bei dem jeder Takt erfordert, dass man genaue szenische und musikalische Entscheidungen fällt, damit die grosse Feinmechanik erhalten bleibt. Man muss alles gut dosieren, darf die Momente von Glück und Seligkeit für einen Moment auch ruhig zulassen, um im nächsten Moment wieder bewusst dagegen anzuarbeiten.“

    Dieselbe Präzision wie auf der Bühne gab es aus dem Graben. Ich bin ja – wer hier mitliest, weiss das – ein grosser Fan der Philharmonia Zürich, des Orchesters der Oper, das so beweglich ist, so vielseitig zwischen Klassik, Romantik und Musik des 20. Jahrhunderts hin- und herwechselt kann, zwischen grosser Sinfonik und kammermusikalischem Spiel stets den richtigen Ton findet. Marco Armiliato stand nicht „am Pult“, denn da war kein Pult – er hat die Oper ohne Partitur dirigiert. Ich glaube nicht, dass ich das (abgesehen vom in Zürich verehrten Nello Santi, der gerne statt ein Pult ein Upright-Klavier vor sich hatte, an dem er die Rezitative gleich selbst begleitete) bisher je erlebt habe. Und grad bei dieser so nuancierten, detailreichen, in der Instrumentierung sich ständig verändernden Musik beeindruckt mich das umso mehr.

    Auf der Bühne agierte ein ebenfalls trefflich zusammengestelltes Ensemble. Das „hohe“ Paar, Magda und Ruggero – bei Magda ist immerhin die Fallhöhe gross, sonst ist da nicht viel „hohes“ dabei – bot mir die erste Gelegenheit, Ermonela Jaho in Aktion zu erleben. Und ein Erlebnis war das tatsächlich. Ihr erster Einstieg nach Hamaoui wirkte etwas herb – und so ist ihre Stimme auch. Aber wie sie Figur gestaltete, berührte sehr. Und die Pianissimi, mit denen sie ganz zart und in der höchsten Lage den Raum füllte – betörend schön! Benjamin Bernheim fand ich allerdings leider ziemlich enttäuschend – gerade nachdem er mir als Roméo bei Gounod im Mai noch hervorragend gefallen hatte. In den Momenten, in denen er leiser sang, fand ich ihn gut, aber sobald er über ein Mezzoforte hinaus ging, war kein Fliessen mehr in seinem Gesang, wirkte die Stimme irgendwie etwas hohl. Fast so, als sei damit etwas nicht mehr in Ordnung, was echt bedauerlich wäre. Das „niedere“ Paar, der als d’Annunzio-Karikatur vorgestellte Dichter Prunier (auch der Name, „Pflaumenbaum“, ist natürlich eine Anspielung, „prugna“ steht im Italienischen auch für die Vulva) und Lisette, die Zofe von Magda, wurden von Juan Francisco Gatell und Sandra Hamaoui hervorragend gegeben. Hamaouis Stimme ist feiner als die von Jaho, was einen durchaus schönen Kontrast ergibt, besonders im zweiten Akt, in dem die Frauen quasi die Rollen tauschen – Magda taucht als „einfaches Mädchen“, Lisette in Kleidern ihrer Herrin als elegante Dame beim Tanz auf. Auch Vladimir Stoyanov als Rambaldo war überzeugend – und sehr berührend fand ich das Hausdebut der jungen Annabelle Kern

    (Auf dem Foto v.l.n.r. etwa in der Mitte: im hellblauen Anzug – neben den grauen – Gatell, dann in s/w Hamaoui, Bernheim, Armiliato und in dunkelblau Jaho und Stoyanov.)

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    #12179987  | PERMALINK

    soulpope
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    @ „gypsy“ : Dank für die vermittelten Eindrücke ….

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    #12184701  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Zürich, Tonhalle – 25.10.2023

    Kammerorchester Basel
    Philippe Herreweghe
    Leitung
    Vilde Frang Violine

    WILLIAM STERNDALE BENNETT Konzertouvertüre «Die Najaden» op. 15
    ROBERT SCHUMANN Violinkonzert d-Moll WoO 1

    FELIX MENDELSSOHN Sinfonie Nr. 5 d-Moll op. 107 MWV N 15 «Reformations-Sinfonie»

    Vilde Frang mit dem Konzert von Schumann war sensationell – und fand im Kammerorchester Basel und Philippe Herreweghe kongeniale Partner. Das klang für meine Ohren nochmal völlig anders als bei den beiden Aufführungen, die ich mit Isabelle Faust hörte: mit dem Tonhalle-Orchester unter einem mässig involvierten Jakub Hrusa (es machte den Eindruck, als kenne er das Konzert kaum und wolle dran auch nichts ändern) und dann mit dem Zürcher Kammerorchester unter Roger Norrington – letzteres war um Welten besser. Beide Konzerte sind länger her, aber in meiner Erinnerung spielte Faust das Konzert fast schon glatt, glänzend … während ich tippe läuft die alte Einspielung mit Menuhin und Barbirolli (NYPhil, 1938) – und so zerklüftet, atmend, ja organisch, dialogisierend – so klang auch Frang für mich. Als Zugabe spielte sie dann eine „Giga senza Basso“ von Antonio Montanari (wie der Veranstalter netterweise als Information nachreichte).

    Das Programm war um Mendelssohn herum konstruiert, Teil 2 des Symphonien-Zyklus, den das Kammerorchester Basel seit der letzten Saison mit Philippe Herreweghe erarbeit (und hoffentlich einspielt). Es lief zumindest bei der dritten Aufführung in Basel unter dem Titel „Denkmal für Luther“ (am 24.10. wurde es in Ludwigshafen, am 25. in Zürich und am 28. in Basel aufgeführt – da ich es in zwei meiner Abos hatte, verzichtete ich auf das Konzert in Basel und liess mir dafür eine Karte für ein anderes Konzert geben – die sind da super grosszügig … und kriegen den Platz vermutlich weg, da die Konzerte des KOB im Stadtcasino, wofür ich eben ein Abo habe, fast immer ausverkauft sind). Das KOB trat in so grosser Besetzung an wie selten (Streicher: 8-7-6-5-3, ob, fl, cl, bsn, horn, tp, tb allesamt doppelt bzw. bsn/tb sogar dreifach).

    Kaum in Leipzig wurde Mendelssohn auf den ein Jahr jüngeren Schumann aufmerksam gemacht – das Violinkonzert führte er natürlich nicht auf, da war Mendelssohn schon gestorben und die leidige Geschichte um das Konzert ist ja inzwischen bekannt. Mendelssohn genoss zu Lebzeiten in England einiges Ansehen (dank der „Hebriden“-Ouvertüre und dem „Sommernachtstraum“ bzw. auch da von dessen Ouvertüre), Bennett hatte vermutlich schon Musik von Mendelssohn gehört, als dieser ihn 1836 zum Düsseldorfer Musikfest einlud. Bennett hörte dort die Uraufführung von „Paulus“ unter Mendelssohns eigener Leitung und wurde vom älteren Komponisten auch unterrichtet. In Leipzig führte Bennett dann sein drittes Klavierkonzert und die „Najaden“-Ouvertüre auf, bei der er sich vom „Sommernachtstraum“ habe inspirieren lassen. Und auch in Leipzig freundete Bennett sich mit Schumann an. Beider Werke fanden Eingang ins Repertoire des Gewandhauses. Die Ouvertüre – meine leise Skepsis gegenüber dieser oft plakativen, lauten, aufmerksamkeitsheischenden Form ist wohl noch in Erinnerung – gefiel mir sehr gut. Durchaus bunt, schmissig, mit bildhaften Passagen – aber eben auch, wie Schumann bemerkte, eine „sprechende Bruderähnlichkeit mit Mendelssohn“, die sofort auffallen würde: „Dieselbe Formschönheit, poetische Tiefe und Klarheit“ (sie seien „dennoch zu unterscheiden“, folgt in dem Zitat, das ich dem Programmheft aus Basel entnehme).

    Nach der Pause die „Reformation“ von Mendelssohn – eine seiner drei Symphonien, zu denen ich nicht unmittelbar Zugang fand. Doch unter Herreweghe klang das seltsame, 1829/30 entstandene, aber erst 1832 uraufgeführte Werk (chronologisch keineswegs die Fünfte von Mendelssohn) sehr frisch. Die kirchenhaften Ecksätze mit den spielerisch-tänzerischen Mittelsätzen zu verbinden gelang hervorragend – mit dem bombastischen Schluss nach dem Lutherchoral im letzten Satz war das auch ein klasse Abschluss für ein tolles Konzert.

    Ich freue mich auf die nächste Begegnung mit Vilde Frang Anfang Februar, wenn sie beim Tonhalle-Orchster unter Järvi das (zweite) Violinkonzert von Bartók spielen wird. Und auf die vermutlich drei noch anstehenden Mendelssohn-Konzerte mit dem Kammerorchester Basel und Philippe Herreweghe freue ich mich auch sehr (Runde 1 war im Dezember 2022, als nach einer Ouvertüre von Fanny Hensel das erste Klavierkonzert mit Nelson Goerner und die „Schottische“ erklangen).

    Zürich, Kleine Tonhalle – 29.10.2023 – Literatur und Musik

    Hendrik Heilmann Klavier
    Anna Rosenwasser Einführung
    Alicia Aumüller Lesung

    FRANZ LISTZ «Consolations» S 172
    DORA PEJAČEVIČ Sechs Fantasiestücke op. 17
    ANNEMARIE SCHWARZENBACH Auszüge aus «Eine Frau zu sehen» (1929, verlegt 2008)

    Heute ging ich spontan in ein Konzert der Reihe „Literatur und Musik“ – gestern Abend beim Scrollen am Handy gesehen, dass die frisch gewählte queere Nationalrätin (MdB heisst das in DE) Anna Rosenwasser ein paar Worte über Annemarie Schwarzenbach und besonders deren Text „Eine Frau zu sehen“ sagen werde – und dass Hendrik Heilmann, seit ein paar Jahren der Tastenmann des Tonhalle-Orchesters als Solist mit Liszt und Pejacevic zu hören sein würde. Leider musste ich so kurzfristig mit einem Platz weit hinten vorlieb nehmen, aber gelohnt hat sich das sehr. Wie fast immer (das Hosokowa/Bouvier-Programm im Februar war die Ausnahme) lohnte für mich v.a. die Musik – ich mag Lesungen irgendwie nicht so gern … aber auch als ganzes funktionierte das heute bestens. Nach zwei der sechs Consolations sprach Rosenwasser, erläuterte, warum sie Schwarzenbachs Text nicht nur queer lesen möchte, sondern in ihm ein universelles Thema sieht: das nämlich, dass jeder Mensch zu sich finden, sich selbst sein können solle. In der Folge wechselten sich Textausschnitte, gelesen von der Schauspielerin Alicia Aumüller, und die weiteren vier „Consolations“ sowie die Sechs Fantasiestücke von Pejacevic ab. Gerade letztere waren eine echte Entdeckung – und ergaben einen guten Kontrast zu Liszt. Das erste Pejacevic-Stück erklang vor dem letzten von Liszt – beide nicht in der Reihenfolge der jeweiligen Publikation gespielt, dafür allerdings perfekt auf die Textpassagen abgestimmt.

    Grad ordentlich Klavier. Daheim Richter, im Konzert heute der Hendrik und morgen der Maurizio – der Grandseigneur aus der Fabrik … ich freue mich!

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    @ „gypsy“ : wie immer Dank für den Bericht ….

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    Zürich, Tonhalle – 30.10.2023

    Maurizio Pollini Klavier
    Germán Toro-Pérez Klangregie (Nono)

    ARNOLD SCHÖNBERG: Sechs kleine Klavierstücke op. 19
    LUIGI NONO: «… sofferte onde serene …» für Klavier und Tonband

    FRÉDÉRICH CHOPIN:
    Mazurka c-Moll op. 56 Nr. 3
    Barcarolle Fis-Dur op. 60
    Scherzo Nr. 1 h-Moll op. 20
    E: Polonaise Nr. 1 cis-Moll op. 26 Nr. 1 Ballade Nr. 1 g-Moll op. 23

    Ein denkwürdiger Abend gestern in der Tonhalle. Nur eine gute Dreiviertelstunde Programm war angekündigt – und das warf schon die Frage auf, wie es um Pollini denn stehe, nachdem das letzte Konzert (am 26. Februar 2023) abgesagt werden musste, wo exakt dasselbe Programm angekündigt war.

    Dieses mal klappte es also wieder. Leicht gebückt aber zügig lief der im Januar 81 Jahre alt gewordene Meister zum Flügel, einen grossformatigen Notenband unterm Arm – doch davor ein kleiner Lacher: der für die Tür zuständige Mann hatte diese etwas zu früh geöffnet, Pollini stand schon dahinter aber rief „un momento!“ und die Tür ging nochmal für zehn Sekunden zu. Dann setzte er sich hin und begann unverzüglich, die sechs Schönberg’schen Miniaturen zu spielen – quasi musikalische Aphorismen, streng, verknappt, und doch enorm reich – faszinierend! Gemäss dem Programmheft hatte er sie 1991 erstmals und 2019 zuletzt in der Tonhalle gespielt – ob dazwischen noch jemand diese oder andere Klaviermusik von Schönberg spielte, weiss ich leider nicht. Beim gleichen Konzert am 19. November 1991 führte Pollini auch zum bisher einzigen Mal Nonos Elegie in der Tonhalle auf.

    Dann schob er unangekündigt Chopins Mazurka Op. 56/3 ein – und da nahm das zweite Drama (neben dem musikalischen) seinen Lauf: die Notenblätterin war irgendwie neben den Schuhen, immer etwas zu früh (vielleicht so, wie man’s ja im Unterricht lernt: immer einen oder zwei Takte voraus lesen), er fuhr ihr in die Hand, sprach sie an, fragte, wo er grad sei … brach ab, blätterte selbst und spielte dann die letzte Doppelseite durch. Musikalisch war das dennoch faszinierend: die Mischung aus Klarheit und Zartheit, eine grosse Wärme darin, nichts von dieser Kälte, die ihm so gerne vorgeworfen wird. Und vor allem eine andere Gewichtung der Stimmen, da wurden Bewegungen und Mittelstimmen hörbar, die selten so schön herausgearbeitet werden. Danach eilte eine Frau (seine Ehefrau, wie ich inzwischen ergoogelt hatte) nach vorn und zitierte ihn zu sich an die Bühnenkante, flüsterte mit ihm – ich tippe auf: reiss dich gefälligst etwas zusammen!

    Dann kam die querformatige, riesige Partitur für Nono zum Vorschein (sowas wie A3 im Querformat) – und das Publikum schwitze schon mit der Notenblätterin, bevor es losging – sie musste die Noten nicht nur blättern sondern auch noch nach links und rechts schieben, damit Pollini in etwa gradaus gucken konnte – und er gab manchmal Zeichen, wann er geblättert haben wollte – es lief also einigermassen reibungslost . Das Ding live zu hören, wer ein echt irres Erlebnis. Eine „ergreifende Trauerarbeit“ nennt Heidi Rogge es im Programmheft, 1976 für Pollini komponiert, als dieser eins seiner Kinder – und Nono in kurzer Zeit beide Elternteile – verloren hatte. Echos, Resonanzen, Hall – ein Werk, das in seiner Differenziertheit und auch in der Art und Weise, wie das Klavier mit dem Tonband (auf dem auch – soweit ich sagen kann ausschliesslich – Klavierklänge zu hören sind) interagiert, entwickelt es einen Sog und eine kalte Wucht – es wird spürbar, wie Nono damals meinte, dass „ein harter Todeswind das unendliche Lächeln der Wellen in meiner und Pollinis Familie hinweggefegt“ habe. Bewegend, berührend, berückend, erschlagend.

    Danach kam Pollini wieder hervor, hatte schon die nächsten Noten aufs Klavier gestellt … doch die Frau eilte wieder nach vorn, als er schon auf den Schemel sitzen wollte und sagte: Jetzt ist erstmal Pause. Nach der Pause gab es viermal Chopin – wobei ich leider nicht sagen kann, ob nochmal das Mazurka gespielt wurde (ich glaube nicht, die Noten waren auf einem flachgekippten Notenpult hinterm Klavier aufgelegt in der Reihenfolge, wie sie benötigt wurden, und die vom ersten Konzertteil nahmen Pollini bzw. die Notenblätterin jeweils mit nach hinten). Es gab jedenfalls einen zarten Einstieg, auf den die Beobachtungen von davor erneut zutrafen. Auch die Barcarolle begann warm und zart, doch jetzt entwickelte die Musik einen zusätzlichen Sog, der sich im ersten Scherzo weiter verdichtete. Dass manch ein Lauf nicht ganz korrekt gelang, spielte keine grosse Rolle, denn die Gestaltung der Stücke war tatsächlich bezwingend.

    Und das Nebendrama mit dem Notenblättern klappte in der ganzen zweiten Hälfte perfekt. Pollini wirkte gelöst, fast heiter, gab der jungen Frau dann beim Schlussapplaus auch demonstrativ die Hand – und scheute sie davon, als sie bei der Zugabe – der ersten Polonaise – die Noten aufs Klavier legen wollte. Er spielte das Ding auswendig, erneut überzeugend und mit einer ausgetüftelten Klanggestaltung – und auch wieder mit dem einen oder andern zwischenzeitlich leicht entgleisten rasenden Lauf. Vor und nach der Zugabe stehende Ovationen – und leise der Gedanke, dass das ein Abschied sein könnte.

    Es ist tatsächlich berührend, diesen einst technisch unfehlbaren Pianisten im Alter ringen zu sehen – und es bleibt, sonst sollte er ja aufhören, bereichernd, seine Sicht auf die Werke zu hören, die er auswählt (ich hatte ihn im Februar 2018 mit Chopin und Schumann gehört und dann im Februar 2022 mit Schumann und Beethovens „Hammerklavier“-Sonate wieder). So zwiespältig und dramatisch der Abend gestern war, so toxisch Pollinis Benehmen ein paar Male wirkte (sein Verhalten blieb für mich unlesbar, er hatte – ausser beim Aufgang nach der Pause und beim letzten Applaus nach der Zugabe, als er auch ungelenk winkte – das Gesicht einer Sphinx aufgesetzt, ernst und regungslos) – das war ein Erlebnis, hatte irgendwie auch etwas Heroisches. Das Beharren, das Weitermachen wollen, müssen – und dann eben auch das Anspielen gegen das Ende, den Tod, der in Schönbergs Miniaturen so präsent ist wie bei Nono.

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