Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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07.09.2023 – Luzern, Lukaskirche – Debut Isidore String Quartet

Isidore String Quartet:
Phoenix Avalon Violine | Adrian Steele Violine | Devin Moore Viola | Joshua McClendon Violoncello

JOSEPH HAYDN: Streichquartett C-Dur, Op. 20 Nr. 2, Hob. III:32
ARMAN GUSHCHYAN: Forever Is Composed of Nows (Uraufführung)
FELIX MENDELSSOHN: Streichquartett Es-Dur, Op. 44 Nr. 3

Der Epilog geht relativ schnell: ein letzter Tag in Luzern, Mittags-, 40min- und Abendkonzert, zweimal das Isidore String Quartet und zum Abschluss das Stifterkonzert der EvS Musikstiftung.

In der Lukaskirche mit ihrem knarrenden (modernen) Sitzgebälk debütierte das 2019 von vier Studenten der Juilliard School gegründete Isidore String Quartet. Der Name ist von Isidore Cohen entliehen, einem der frühen Mitglieder des Juilliard String Quartet, und wie dieses möchte das Isidore Quartet auch bekanntes Repertoire so spielen, als sei es neu. Das Quartett spielt auch Konzerte für Menschen, die nur begrenzten Zugang zu (klassischer) Musik haben. Erst 2021 konnte das Isodore String Quartet seine Konzerttätigkeit aufnehmen, gewann bald ein paar Preise und wurde nun auch nach Luzern eingeladen.

Ein beschwingtes Quartett von Haydn und das „rothaarige Stiefkind“ unter Mendelssohns Quartetten, wie Bratschist Moore, der sich um die Ansagen kümmerte, es nannte, umrahmten dabei eine Uraufführung vom 1981 geborenen Arman Gushchyan, „Forever Is Composed of Nows“. Im Programmheft wurde die Spieldauer als „ca. 8 Minuten“ angegeben – es dauerte aber fas 20 Minuten. Jedenfalls war das ein substantielles Werk in mehreren Teilen. Der Titel ist einem Gedicht von Emily Dickinson entnommen und „lässt sich als Plädoyer für ein intensives, hellwaches Erleben des Jetzt lesen, doch auch die komplementäre Sichtweise klingt darin an: Die Gegenwart gewinnt ihren Sinn erst durch den Bezug zum Fortdauernden“ (Programmheft). Dissonante Liegetöne, sich allmählich gegeneinander verschiebend, sich auffächernd. Daraus steigt ein einfaches Motiv, das die nächsten Minuten dominiert. Dann eine Generalpause, ein stiller Neuanfang. Über liegenden Cellotönen verwachsen die anderen drei Streicher zu einer engen Einheit, die phasenweise wie eine Orgel oder ein Akkordeon klingt. Allmählich schleichen sich einzelne disharmonische Töne ein, eins der Instrumente wird eher geschabt als gestrichen, die Irritationen nehmen zu. Eine weitere, kürzere Generalpause, und der erste Ton des ursprünglichen Motivs erklingt. Doch dann wieder Liegetöne, gefächert, mit der Zeit absinkend, aus dem Ruder laufend, die Form verlierend, dissonanter, manchmal fast gegeneinander sägend. Gegen Ende scheint eine Art Auflösung einzutreten, gefunden oder erreicht zu werden. Einzelne Stimmen steigen aus dem Ganzen heraus, wagen ein Motiv, eine Melodie. Wie sich am Anfang das einfache Motiv aus einem ungeordneten Klangwelt erhebt, so taucht es am Ende fragmentarisch wieder auf, um mit dem Chaos gewissermassen Eins zu werden.

Was er hier vertont, so der Komponist im Programmheft, ist „die Verwundbarkeit des ungeschützten Seins und der Wille zum Kampf. Es ist die stille Betrachtung der Welt in dir und ausserhalb von dir und das laute Feiern des Lebens. Es ist die Komplexität und Einfachheit der Dinge in ihrer engsten Koexistenz. Aber die Unausweichlichkeit des Jetzt erhält nur im Licht des Bildes der Ewigkeit Tiefe und das Potenzial von Bedeutung … des Bildes, das du sehe kannst … – jetzt.“

Gushchyan weiter: „Dieses Werk ist eine Erkundung der Poetik des gegenwärtigen Augenblicks, der Art und Weise, wie wir ihn und uns selbst darin wahrnehmen und erleben – im Fliessen der Schatten von Bedeutungen, Energien von Gefühlen und Empfindungen anderer Realitäten, die in Klängen und Musik entstehen. Wenn du in dieser turbulenten Zeit lebst, in der tektonische Verschiebungen stattfinden und die Geschichte der kleinen und grossen Dinge, der Menschen und Konzepte, zusammenbricht, während dein persönliches Leben gezwungenermassen neue Züge annimmt und du nur versuchen kannst, eine Erkennbarkeit für dich selbst aufrechtzuerhalten, dann ist im Wirbelsturm der Veränderungen nichts wichtiger für dich als der Moment des Jetzt.“ – Zeilen, die nachdenklich stimmen (und die stimmen, leider – und Zeilen, die mich wünschen lassen, das Programm wäre zweisprachig, der „Wirbelsturm“ war wohl einst ein „maelstrom“?).

Mendelssohn bot danach einen wunderbaren, natürlich deutlich harmonischeren Ausklang – und mich dünkte, das Kontrasprogramm erlaubte durchaus einen neuen, unverstellten Blick oder besser: ein frisches Ohr darauf.

07.09.2023 – KKL Luzern, Luzerner Saal – 40min 9:
«Auf sechzehn Saiten»

Isidore String Quartet:
Phoenix Avalon Violine | Adrian Steele Violine | Devin Moore Viola | Joshua McClendon Violoncello

JOHANN SEBASTIAN BACH: Contrapunctus I aus «Die Kunst der Fuge» BWV 1080
FELIX MENDELSSOHN: Streichquartett Es-Dur, Op. 44 Nr. 3

Um 20 nach 6 spielte das Isidore String Quartett dann noch einmal, aber jetzt im Luzerner Saal des KKL. Angekündigt waren, wenn ich mich nicht irre (die Website ist wie gesagt weg und im Festivalprogramm gibt es zu den 40min-Konzerten nur eine Überblickseite) die ersten vier Contrapuncti aus Bachs „Kunst der Fuge“. Dass das Quartett sich mit dem ersten begnügte, war sinnvoll, denn das danach erneut gespielte Mendelssohn-Quartett dauert eine halbe Stunde – und noch etwas länger, wenn nach jedem Satz applaudiert wird (was die vier sichtlich gelassen nahmen).

07.09.2023 – KKL Luzern, Konzertsaal – räsonanz, Stifterkonzert

Les Siècles
François-Xavier Roth
Dirigent
Sarah Maria Sun Sopran
Isabelle Faust Violine

ENNO POPPE: Öl, für Ensemble
Augen, 25 Lieder für Sopran und Kammerorchester (Worte von Else Lasker-Schüler) (Schweizer Erstaufführung)

GYÖRGY LIGETI: Violinkonzert

Das letzte Konzert, das ich beim Festival hörte, bot dann einen durchaus krönenden Abschluss. Zwei Stücke von Enno Poppe standen auf dem Programm, darunter „Augen“, das erst 2022 in Witten uraufgeführt wurde (auch mit Sarah Maria Sun), und nach der Pause noch Ligetis Violinkonzert. Die Begleittöne waren allerdings nicht so erfreulich. Wegen schlechten Verkaufs wurde ich ein paar Tage davor angerufen, um umplatziert zu werden. Mein schöner Sitz an der Bühnenkante auf dem zweiten Balkon blieb leer, ich musste mit der Parkettgalerie Vorlieb nehmen – oder hätte ins Parkett dürfen, wo ich noch weniger gesehen hätte. Sehen wäre hier durchaus spannend gewesen, denn es gab schon bei „Öl“ auf der Bühne so einige ungewöhnliche Instrumente: ein Akkordeon, zwei Klaviere, Saxophon (Bariton und Alt), Wagnertuben (als Zweitinstrumente der beiden Hörner), in den Liedern kamen Mandoline (einen Drittelton tiefer gestimmt) und Gitarre (einen Sechstelton tiefer), Hafe, Harmonium und Celesta zum Einsatz. Im Publikum schienen in erster Linie Leute des Sponsors zu sitzen, jedenfalls hatte die Veranstaltung ein wenig den Touch eines Betriebsausflugs, man kannte sich, wechselte ein paar Worte … und irgendwo am Rand sassen dann die Leute, die wegen des Konzerts da waren – im vielleicht zu zwei Dritteln gefüllten Parkett. Sehr schade!

„Öl“ besteht an der Oberfläche aus zwei Teilen, grob gesagt einem schnellen und einem langsameren – doch stabile Tempi sucht man über weite Strecken vergeblich, unterschiedliche Metren und Tempi überlagern sich. Instrumentenpaare – zwei Wagnertuben, zwei Bassklarinetten, zwei Klaviere, zwei Schlagzeuge) bleiben einigermassen beieinander, spielen dieselben Melodien, umflechten sich gewissermassen, gehen aber doch auch ihres eigenen Weges, etwa indem sie dasselbe Material in unterschiedlichen Tempi spielen. Ein ähnliches „Schimmern“, wie Ligeti es mochte (und wie es mich manchmal vom „Huschen“ im davor gehörten Quartett Mendelssohns gar nicht so weit weg dünkte) ist auch bei Poppe immer wieder zu hören. Es passieren „einfach zwei Dinge zur gleichen Zeit“ meinte Poppe mal lakonisch zu der Frage, ob die Duos in „Öl“ zweistimmig sind oder ob es sich nur um jeweils „eine einzige Stimme mit aufgelösten Rändern“ handelt (Programmheft, nur das erste Zitat ist von Poppe selbst). Den ersten Teil fand ich ziemlich toll, doch im zweiten, mehrheitlich langsameren, schien das Stück manchmal etwas auszufransen.

In der danach nötigen grösseren Umbaupause sprach Poppe ein paar Worte zum Publikum, schmierte dem Sponsoren ein wenig Honig ums Maul und sagte ein paar Sätze zu den beiden Werken. Das zweite, „Augen“, ein Zyklus von 25 kurzen (teils nur ein paar Sekunden dauernden) Lieder über Text(fragment)e von Else Lasker-Schüler, faszinierte mich dann enorm und war sicherlich meine grosse Entdeckung des Festivals. Dunkle Texte über die Liebe, die enttäuschte Liebe, kongenial begleitet mit stets wechselnden Besetzungen. Hier passte für meine Ohren alles: Vorn stand die wohl derzeit beste Sängerin für solches Repertoire, die grossartige Sarah Maria Sun. Les Siècles unter ihrem Gründer und Leider François-Xavier Roth spielten (denn ganzen Abend hindurch) absolut souverän, Text und Musik griffen perfekt ineinander über, liessen sich auch den jeweils nötigen Raum – im Programmheft lese ich den Satz: „Wie in der Madrigalkunst schweigen die Instrumente, wenn ein Herz bloss liegt.“ So ist das. Nämlich.

Die Schwipsgesellschaft braucht natürliche eine Pause (die schwerstarbeitenden Musiker*innen ebenfalls, das einzige Argument, das ich pro Pausen gelten lasse). Danach setzte Isabelle Faust mit ihrer Interpretation des Violinkonzerts von Ligeti einen nächsten Glanzpunkt. Ein Werk, das zwischen Unordnung und Ordnung schwankt, in dem die Solostimme gegen das Orchester ankämpft, in einen Dialog tritt, der nun wirklich kein klassischer ist. Luzide klang Fausts Ansatz, von grösster Klarheit, während das Orchester ebenso präzise zu Werk ging wie die Solistin (wieder mit grossen Bögen, auf die sie Notenschnipsel zusammengeklebt hatte, so war sie schon beim ersten Konzert ausgerüstet, der Aufführung der ganzen Solo-Bach-Werke in der Kölner Philharmonie im Herbst 2015). Nichts weniger als phänomenal – wie überhaupt der ganze Abend, von den Längen gegen Ende von „Öl“ mal abgesehen.

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