Konzertimpressionen und -rezensionen

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    gypsy-tail-wind
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    Basel, Stadtcasino – 20.12.2022 – „Magnificat“

    Sunhae Im Sopran
    Coline Dutilleul Mezzosopran
    Carlo Vistoli Altus
    Fabian Strotmann Tenor
    Yannick Debus Bass
    Zürcher Sing-Akademie (Einstudierung: Michael Gläser)
    Kammerorchester Basel
    René Jacobs
    Leitung

    Domenico Scarlatti Salve Regina für Mezzosopran, Streicher und Continuo
    Johann Sebastian Bach Kantate BWV 147 «Herz und Mund und Tat und Leben»

    Johann Sebastian Bach Magnificat in D-Dur BWV 243

    Jahresendspurt … das Weihnachtskonzert in Basel war wieder ausverkauft. Und am Ende hat es sich sehr gelohnt. Los ging es mit Coline Dutilleul als Solistin in Scarlattis Salve Regina. Wunderbar gesungen mit warmer Stimme – aber manchmal vom Orchester etwas zu sehr zugedeckt, fand ich. Vielleicht war der Raum für diese Musik zu grosse? In der Bach-Kantate – mit den vier anderen Solist*innen – verhielt sich das ähnlich: es wurde wunderbar musiziert und gesungen, aber das Gleichgewicht zwischen Solistenquartett, Chor und Orchester schien irgendwie nicht ganz zu stimmen. In der Pause war ich daher ein klein wenig enttäuscht oder eher: irritiert.

    Doch dann kam alles anders. Für das Magnificat gesellten die fünf Solist*innen sich zum Chor und kamen für ihre Auftritte jeweils nach vorn. Und nun stimmte alles, die Austarierung des Klangs war perfekt, die Musik – die ist ja bekannt – grossartig. Die Aufführung konnte für meine Ohren mit meinen liebsten Aufnahmen mithalten (wenn ich eine nennen muss, ist es die von Pierlot mit dem Ricercar Consort; die von Herreweghe 1990 habe ich gerade nicht mehr im Ohr).

    PS: Der Bass-Solist, Yannick Debus, ist derselbe, den ich neulich in der Titelrolle von Rihms Lenz gesehen und gehört habe.

    Theater Basel – 28.12.2022

    Der wunderbare Mandarin / Herzog Blaubarts Burg
    Pantomime und Oper von Béla Bartók (1881-1945)

    Prolog aus „Herzog Blaubarts Burg“
    „Der wunderbare Mandarin“. Tanzpantomime (Libretto: Menyhért Lengyel)
    „Auferstehung“ (Tanzerzählung von Christof Loy; Musik: 1. Satz aus „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“)

    „Herzog Blaubarts Burg“. Oper in einem Akt (Libretto: Béla Balázs)

    „Der wunderbare Mandarin“:
    Der Mandarin – Gorka Culebras
    Das Mädchen – Carla Pérez Mora
    Die drei Strolche – Joni Österlund, Nicky van Cleef, Jaroslaw Kruczek
    Die beiden Freier – Nicolas Franciscus, Mário Branco

    „Auferstehung“:
    Gorka Culebras, Carla Pérez Mora

    „Herzog Blaubarts Burg“:
    Blaubart – Christof Fischesser
    Judith – Evelyn Herlitzius
    Prolog – Nicolas Franciscus

    Sinfonieorchester Basel
    Chor des Theater Basel

    Musikalische Leitung – Ivor Bolton
    Inszenierung und Choreographie – Christof Loy
    Bühne – Márton Ágh
    Kostüme – Barbara Drosihn
    Lichtdesign – Tamás Bányai
    Chorleitung – Michael Clark
    Dramaturgie – Niels Nuijten
    Musikalische Assistenz/Nachdirigat – Roderick Shaw

    Dann zwei letzte Termine zwischen der bouffe und dem Jahreswechsel – und beide davon umwerfend gut! Ivor Bolton und das Basler Sinfonieorchester übernahmen die heimliche Hauptrolle des Bartók-Abends im Theater Basel, in dem der „Mandarin“ mit dem „Blaubart“ kombiniert wurde. Der Prolog wurde beiden Hälften vorangstellt, als Coda zum „Mandarin“ erklang noch der Anfang der „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“ – und allein der Musik wegen hätte sich der Besuch schon gelohnt. Die beiden Hauptwerke des Abends hatte ich zuvor noch gar nicht gekannt und war von beiden schwer beeindruckt. Die Choreographie der Gewalt im ersten Teil und die stille, unsichtbare und deshalb eher noch heftigere Gewalt des „Blaubart“ ergänzten sich kongenial. Die Bühne kehrte am Ende des Blaubart zurück zu den Anfängen mit dem stilisierten Walt (der davor von einer stilisierten Burg verdeckt wurde).

    Den Tanz mag ich nicht beurteilen – ich hatte ehrlich gesagt etwas Mühe, die drei Strolche und die beiden Freier auseinanderzuhalte. Wenigstens einer der fünf Tänzer schien in beiden „Gruppen“ mitzutanzen. Vielleicht war ich aber auch einfach zu sehr von der wahnsinnig tollen Musik absorbiert. Im zweiten Teil prägten dann zwei hervorragende Stimmen das Geschehen, Herlitzius so gut wie erhofft. Ich hatte die zwei vor ein paar Jahren schon zusammen in Strauss‘ „Elektra“ gehört – einer von Herlitzius‘ Paraderollen. Auch im „Blaubart“ passten die Stimmen hervorragend zusammen. Und die Musik ist ja von einer Kraft und vor allem einem Farbenreichtum, wie ich sie noch fast nie erlebt habe. Sehr, sehr eindrücklich. Kontinuität wurde neben der Bühne auch durch die Kostüme erzeugt. Und die Telefonkabine, die im ersten Teil noch steht und von Pérez Mora auch tänzerisch genutzt wird, ist im Innern der Burg als aus dem Boden ragende Ruine auch im zweiten Teil dabei (ich tippe mal darauf, dass das in Basel unweigerlich als Reminiszenz an die Telefonkabinen auf dem direkt nebenan gelegenen Barfüsserplatz gelesen wird – oder wie man in Basel sagt: Delifoonkabine, die vor ein paar Jahren ausrangiert wurde, nachdem sie in der Vor-Handy-Zeit eine zentrale Lokalität im Stadtleben war).

    Hier gibt es eine schöne (auch bebilderte) Rezension vom SWR, die das alles viel besser in Worte fasst, als dass ich es gerade könnte:
    https://www.swr.de/swr2/buehne/gelungene-verschmelzung-von-bela-bartoks-werken-am-theater-basel-100.html

    Zürich, Opernhaus – 30.12.2022

    Eliogabalo
    Dramma per musica in drei Akten von Francesco Cavalli (1602-1676), Libretto: Aurelio Aureli

    Musikalische Leitung Dmitry Sinkovsky
    Inszenierung Calixto Bieito
    Bühnenbild Anna-Sofia Kirsch, Calixto Bieito
    Kostüme Ingo Krügler
    Lichtgestaltung Franck Evin
    Video Adria Bieito Camì
    Dramaturgie Beate Breidenbach

    Eliogabalo Yuriy Mynenko
    Anicia Eritea Siobhan Stagg
    Giuliano Gordio Beth Taylor
    Flavia Gemmira Anna El-Khashem
    Alessandro Cesare David Hansen
    Atilia Macrina Sophie Junker
    Zotico Joel Williams
    Lenia Mark Milhofer
    Nerbulone Daniel Giulianini
    Tiferne Benjamin Molonfalean
    Un console Aksel Daveyan
    Altro console Saveliy Andreev

    Orchestra La Scintilla
    Statistenverein am Opernhaus Zürich

    Ein bisschen Crossdressing und vor allem Hosenrollen sind in der Oper ja häufig anzutreffen – aber mit dem „Eliogabalo“ von Cavalli hat die Oper Zürich wie Christian Wildhagen in der NZZ schrieb „das Stück der Stunde gefunden“. Ein Herrscher, der in erster Linie an Sex (und Religion, aber die kommt im Libretto eher kurz) interessiert ist, Frauen und Männer liebt, sich gerne auch als Frau kleidet, seine Dienerin (Amme) von einem Tenor gesungen. Auch der Cousin und Rivale des Kaisers Alessandro wird von einem Countertenor gesungen. Er ist mit Gemmira verlobt, deren Bruder Giuliano wiederum für eine Altstimme als Hosenrolle gesetzt ist. Wie bringt man Genderfluidität auf die Bühne? Ganz einfach: man inszeniere Cavallis „Eliogabalo“.

    Doch einfach ist das nicht. Und dass es überhaupt möglich ist, grenzt schon an ein kleines Wunder, denn Die Oper, die für den Karneval 1667/68 komponiert wurde, wurde damals nicht aufgeführt. Womöglich, so die Hypothese von Silke Leopold in ihrem Beitrag zum Programmheft, aus politischen Gründen: Venedig brauchte auf Kreta die Unterstützung des Kirchenstaates, machte Zugeständnisse – und eine so beissende Oper über einen so durchgeknallten Kaiser wäre womöglich nicht mehr opportun gewesen. Die Obrigkeit gabe den Auftrag an den Komponisten Giovanni Antonio Boretti weiter, Aureli schrieb das Libretto um – und statt einen hoffnungslosen Sündenpfuhl darzustellen gab es ein Ende mit Reue und Einsicht – dem jesuitischen Dogma folgend (den über ein paar Jahrzehnte verbannten Jesuiten war ein paar Jahre davor – eins der Zugeständnisse der Zeit – die Wiederansiedlung in Venedig gestattet worden und sie nahmen grossen Einfluss auf das intellektuelle und religiöse Klima der Serenissima).

    Cavalli aber – sehr ungewöhnlich für die damalige Zeit – hob seine Oper auf. Oder eher: er hob das Particell auf. Zwei „Linien“, „Melodien“ gibt es darin: die des Gesanges und die des Basso continuo. Den Rest – die Art der Instrumentierung vor allem – überliess man den jeweiligen Theatern, abhängig vom vorhandenen Rahmen, der Grösse des Orchesters usw. Dmitry Sinkovsky war in dieser Hinsicht ein Glücksfall für die Produktion in Zürich. Er erstellte eine Spielfassung, die etwas gekürzt wurde (es heisst, vollständig würde die Oper ca. vier Stunden dauern, im Programmheft ist von 2 Stunden 50 Minuten die Rede, online war auf 3 Stunden 10 erhöht worden, gestern dauerte es sehr 3:20 Stunden, und das obwohl es nur ein einziges Mal Zwischenapplaus gegeben hatte: für die Einlage von Sinkovsky als Countertenor zum Einstieg in den dritten Akt nach der Pause, als er „Dammi morte o libertà“ aus Cavallis „Artemisia“ singt. Vor allem zu Beginn der Oper griff er auch häufig zu seiner Violine spielte ein paar Kadenzen und Verzierungen bei Orchesterüberleitungen, die er für das Stück ergänzt hat. Gekürzt wurden vor allem rezitative Teile, die nicht nötig seien, um der Handlung zu folgen.

    Die Handlung? Kurz: der Kaiser steigt den Frauen nach. Er herrschte ab dem Alter von 14 für 4 kurze Jahre, die Grossmutter – die ihn eingesetzt hatte, liess danach ihn und seine Mutter (ihre Tochter) beseitigen, weil alles so aus dem Ruder lief. Der Kaiser steigt also den Frauen nach und ist nicht zufrieden, bevor er nicht jede hübsche junge Frau der Stadt in seinen Armen gehabt hat. Los geht es mit der Vergewaltigung von Eritea, die mit Giuliano verlobt ist und daraufhin von Eliogabalo die Ehe fordert. Alessandro, der Cousin, ist mit Gemmira verlobt, doch dieser steigt Eliogabalo nun nach – während Giuliano verzweifelt. So zumindest die wichtigsten Stränge, es gibt wie aus der Dramatis personae ersichtlich ist, noch weitere Mitwirkende, unter anderem den meist nur mit Unterhose bekleideten Zotico. Wieviel davon einigermassen verbürgt ist und wieviel aus den apokryphen „Historia Augusta“ stammt, die wohl sehr viel dazu erfunden haben (und sowieso erst ca. 200 Jahre später entstanden ist), ist nicht so klar – das dröselt im Programmheft ein Aufsatz von Harry Sidebottom auseinander. Alles ziemlich „juicy“, wie man in Sidebottoms Sprache sagen könnte – guter Opernstoff halt.

    Viel interessanter ist aber das Stück selbst. Cavalli ist an Monteverdi geschult (dessen „Poppea“ ja einen recht ähnlichen Stoff behandelt hat – die umwerfende Zürcher Inszenierung von vor ein paar Jahren stammte auch von Bieito und der Counter David Hansen wirkte da auch schon mit) – aber was soll’s, statt lange zu paraphrasieren tippe ich einfach ein paar Sätze aus dem letzten Abschnitt des Texts von Silke Leopold im Programmheft ab:

    Cavalli, 1602 geboren, als Kapellknabe im Markusdom von Monteverdi musikalisch geprägt, später als Organist und Kirchenmusiker tätig, gehörte zu den bekanntesten Opernkomponisten seiner Zeit. 1639, noch bevor Monteverdi sich für das Teatro S. Cassiano in Venedig erneut auf das Abenteuer Oper einliess, hatte er seine erste Oper präsentiert und dann im Lauf von mehr als drei Jahrzehnten dreissig Opern geschrieben, die letzte 1673. Auch diese wurde vor der Uraufführung mit der Begründung abgesetzt, sie enthielte zu wenig muntere Lieder („mancante di briose ariette“). Könnte dies auch eine Erklärung für seinen Eliogablo sein? Cavalli hatte seinen musikalischen Stil an Monteverdi geformt, für den das dramatische Rezitativ, der theatralische Gestus des Gesangs im Vordergrund gestanden hatte. Cavalli seinerseits hatte für eine Reihe von Szenetypen musikalische Standards entwickelt, die auch für andere Opernkomponisten seiner Zeit als Vorbild dienten – allen voran die grossen Lamenti, die mal rezitativ, mal ariosen Klagegesänge der Protagonisten beiderlei Geschlechts, aber auch Schlafszenen, Beschwörungsszenen, Wahnsinnsszenen und mehr. Eliogabalo wirkt keineswegs wie die Pflichtübung eines müde gewordenen Komponisten, sondern eher wie das Alterswerk eines erfahrenen Musikdramatikers, der gelernt hat, die Akzente so zu setzen und die unterschiedlichen musikalischen Sensationen so zu verteilen, dass sie, jede für sich, zur Geltung kommen konnten. Dabei lag ihm mehr an einer Musik, die dem Drama, dem inneren wie dem äusseren, gerecht wurde, als an einer, die sich den geläufigen Gurgeln der Sänger andiente. Darin unterschied er sich tatsächlich von einer jüngeren Generation, wie sie Boretti repräsentierte. Und so ist Eliogabalo auch so etwas wie der Abgesang auf einen Operntypus, der seine Zeit hinter sich hatte.

    Bieito ist für die Inszenierung ebenso ein Glücksfall wie Sinkovsky. Dieser lässt La Scintilla in unglaublichen Farben schillern, hat die Musik für grosses Ensemble gesetzt, in dem neben den üblichen Streichern u.a. Gamben, Blockflöten, Zinken, ein Dulcian, Sackbutts, eine Harfe, Tasteninstrumente und gleich zwei Theorben/Gitarren sowie eine Laute vertreten sind. Auf der Bühne dominiert die Präzision, das hervorragende Ensemble agiert prägnant, fast alles wirkt schlüssig. Und der Skandal, den manche herbeigeschrieben haben, fehlt völlig. Auch wenn der Zotico von Joel Williams wie schon erwähnt meist nur in einer Unterhose über die Bühne läuft, das Stück mit einer Vergewaltigung beginnt: die Sexualität bleibt angedeutet, für Bieitos Verhältnisse ist das alles eher zurückhaltend. Vor allem wird der Abend getragen von den hervorragenden Darsteller*innen, nicht nur Mynenko (er stammt übrigens aus der Ukraine, Syinkovky aus Russland – zum Glück wurde der nicht mit vorschnellem Opportunismus geopfert). Um Mynenko kreisen die anderen Figuren, da ist die als alternde Dragqueen inszenierte Lenia von Mark Milhofer (die Rockrolle ist von Cavalli vorgegeben), da sind die zwei arg gebeutelten Frauen Eritea (Siobhan Stagg) und Gemmira (Anna El-Kashem), aber auch die kleineren Rollen (nicht zuletzt Sophie Junker bei ihrem Hausdebut – Rollendebuts sangen natürlich alle – als Atilia Macrina, die unglücklich in Alessandro verliebt ist), fügen sich hervorragend in das Ganze ein.

    Das ist ein hervorragender Musiktheaterabend, der sich vielleicht weniger als der Bartók-Abend in Basel aus der Musik und aus dem Graben ergibt – aber im Endeffekt darin, wie alles zusammenfindet vielleicht am Ende noch etwas überzeugender ausfällt – selbst wenn ich in der langen ersten Hälfte angesichts des wirren Plots und der vielen Sänger*innen manchmal Mühe hatte, dem Geschehen zu folgen. Bei den Übertiteln jeweils die Namen der singenden Figuren zu ergänzen wäre da ganz hilfreich – aber es ist nicht leicht, diese aus dem Parkett zu lesen – wo ich erneut sass, weil aufgrund der schlechten Verkaufszahlen der zweite Rang geschlossen und Leute wie ich umplatziert wurden. Ein „leider“ wie neulich bei Wagners „Walküre“ ist dieses Mal nicht angebracht, im Gegenteil: wenn La Scintilla, das hauseigene Originalklangensemble im Graben ist, ist das überhaupt kein Problem – und ich sass ein paar Reihen weiter hinten und hatte im Gegensatz zum Wagner-Abend auch einen perfekten Blick.

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
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    Winterthur, Stadthaus – 12.01.2023

    Musikkollegium Winterthur
    Barbara Hannigan
    Leitung und Sopran

    Regie und Video Barbara Hannigan, Denis Guégin, Clemens Malinowski
    Live-Video Clemens Malinowski
    Ton: Joulian Bourin
    Korrepetition und musikalische Assistenz: Delphine Dussaux

    Richard Strauss „Metamorphosen“ Studie für 23 Solo-Streicher (1945)
    Francis Poulenc „La Voix humaine“ Tragédie lyrique in einem Akt, Dichtung von Jean Cocteau (1958)

    Fotos: (C) Janto Film GmbH

    Der Auftakt ins neue Konzertjahr war fulminant. Barbara Hannigan habe ich bisher zweimal gehört, zuerst bei einem nur teilweise überzeugenden Konzert in der Tonhalle (2017, noch vor dem Umbau, es gab Ligeti, Berg, Debussy, Stravinsky und der Teil ohne Gesang, besonders Debussy, wirkte nicht so richtig ausgestaltet – ich habe damals leider nichts geschrieben, soweit ich sehen kann) und dann ein paar Jahre später in einem Konzert der Extraklasse beim Lucerne Festival, bei dem sie mit dem LSO unter Rattle Abrahamsens „let me tell you“ sang). Auf CD habe ich sie in der Zwischenzeit verfolgt, es gab ja nicht zuletzt die sehr berührenden letzten Aufnahmen mit Reinbert de Leeuw. Dass ich für ihr Konzert nach Winterthur gehen will, war also schon lange klar. Und ich habe auch wieder die Kombi Museum plus Konzert gewagt und war zum ersten Mal (zumindest seit meiner Kindheit) in der Sammlung Reinhart am Stadtgarten, die direkt neben dem Stadthaus liegt, in dem das Musikkollegium auftritt. Dort läuft die Tage „Kunst und Krieg – Von Goya bis Richter“, eine heftige aber beeindruckende Ausstellung zu einem leider sehr aktuellen Thema mit Druckgrafiken von Dürer, Goya und Callot, Gemälden von Dix, Kollwitz, Vallotton usw. und einer Video-Installation Harun Farocki.

    Danach etwas benommen rüber ins Konzert – und los geht es mit Richard Strauss, dem alten Nazi-Andiener und Opportunisten und seiner irren Klagemusik über den Niedergang der schönen alten Welt. Ich schätze die „Metamorphosen“ schon lange sehr (es war eine Karajan-Einspielung für die Deutsche Grammophon, gekoppelt mit den Vier letzten Liedern mit Janowitz und „Tod und Verklärung“, die mir wohl dank @clasjaz früh in meinen Klassikerkundungen über den Weg lief, diese hier), aber im Konzert hören und zuschauen, wie das mit dem ganzen Stimmengeflecht funktioniert, wie eben auch die Musiker*innen am zweiten oder dritten Pult ihre Momente im Rampenlicht haben, ihre solistischen Einwürfe, dass das mit den „23 Solostreichern“ wirklich wörtlich zu verstehen ist: das war eine ganz neue Erfahrung. Und eine sehr beeindruckende. Auch wurde schnell klar, dass Hannigan als Dirigentin an einem ganz anderen Ort angekommen ist, als ich sie 2017 wahrgenommen hatte: sie führte souverän durch das Werk. Doch das alles war ja nur quasi das verlängerte Vorspiel für das Hauptwerk des Abends: „La Voix humaine“ von Poulenc.

    Diesen Abend, der in Winterthur zweimal – und erstmals in der Schweiz – aufgeführt wurde, hat Hannigan 2021 für Radio France gemeinsam mit Denis Guégin entworfen, nachdem sie das Stück ein paar Jahre davor unter Krszysztof Warlikowski schon an der Pariser Oper aufgeführt hatte. Die Videoprojektion – im recht kleinen Stadthaus Winterthur füllte sie die komplette Wand hinter der Bühne – wurde für Strauss im Lauf der bisherigen Aufführungen gestoppt, weil sie zu sehr abgelenkt habe. Das kann ich nachvollziehen, doch danach, für Poulenc, war das ein geniales – ein genial-einfaches und ein genial-effektives – Konzept, das perfekt umgesetzt wurde.

    Drei Kameras standen auf der Bühne, eine frontal auf die Dirigentin/Sängerin gerichtet, zwei seitlich platziert. Hannigan war in der Totale oder im Close-Up (ein paar Mal im extremen Close-Up, so dass nur ihre Augenpartie oder ihr Mund zu sehen war) zu sehen, oder eben von der Seite, mit Überblendungen, Doppel- und Dreifachbelichtungen, manchmal wurde die Leinwand in der Mitte gespiegelt und Hannigans Hände – in der Höhe über ihrem Kopf – führten eine Art Schattenballett auf. Zwischendurch fror das Bild auch ein, Hannigan in einer expressiven, ja expressionistischen Haltung, davor die lebendige in Farbe: denn die Bilder waren in Schwarzweiss, was den expressiven – und eben: manchmal nahezu expressionistischen – Effekt noch steigert und dem ganzen einen leichten Film-Noir-Touch gab, zu dem die kühle Blonde natürlich auch perfekt passt – alles eine Inszenierung, aber eben eine, die so wirklich niemand anders als Hannigan machen kann.

    Was jetzt noch viel klarer wurde: nebst ihrem sowieso überragenden Gesang (keine Überraschung!) war ihr Dirigat: sie schien das oft aus dem Handgelenk zu leiten – bis in die Fingerspitzen war jede kleinste Geste von einer unfassbaren Präzision, die sich auf das Orchester übertrug, das an diesem Abend wirklich Weltklasse war. Ein Taktstock kam da natürlich nicht zum Einsatz, der hätte da auch nichts mehr weiter verdeutlichen können.

    Hannigan stand die meiste Zeit mit dem Rücken zum Publikum, bewegte sich in einer vollkommen stimmig und ebenfalls enorm präzise wirkenden Choreographie auf dem relativ grossen, halbrunden Dirigent*innenpodest – während ihre Hände eine Art eigenen Tanz aufführten, der dem Dirigat galt. Die Verschmelzung von Dirigentin, Sängerin, Orchester, von Ton und Bild, war wirklich atemberaubend.

    Und natürlich war dafür kein Telefon notwendig, erst recht keins mit Kabel – denn eine devote Frau in Opferrolle wurde hier nicht dargestellt. In diesem Noir-Psychothriller wurde das Telefonat (ob am anderen Ende der Leitung überhaupt jemand ist, scheint ja zumindest bei Poulenc nie ganz klar?) als Videocall inszeniert. „Was ich mir nicht vorstellen kann, existiert nicht.“ Und „Oder es existiert, aber in einer vagen Wirklichkeit“, sagt die Frau. Hannigan dazu im Gespräch mit Marco Frei im Programmheft:

    Cocteau hat uns im Grunde alle Hinweise gegeben, dass nichts von alledem wahr ist. Das gilt übrigens auch für die Frage, ob sie Selbstmord begeht oder nicht. Für mich hat die Frau einen ziemlich starken Charakter. Ich denke nicht, dass sie sich am Ende umbringt. Sie wird vielmehr ständig dasselbe Szenario erleben, stets abgewandelt. Es ist eine Art obsessive Kraft, die Energie ihrer eigenen Fantasie. In diesem Sinn stellt sich die Frage, ob es überhaupt einen Geliebten gibt. Meine Interpretation stellt auch das infrage.

    Es geht also um Sein und Schein, Fakt und Fake?
    Wobei dei Grenzen in der eigenen Wahrnehmung fliessend sein können. Im Kern geht es um die Ehrlichkeit der Gefühle. Es ist ein sehr starker Stoff mit vielen stark Gefühlen, erschaffen von der Fantasie und Imagination der Frau. Sie erfindet Szenen und Situationen, die sie vielleicht einmal er- und durchlebt hat. Oder bei denen sie sich wünscht, sie hätte sie er- und durchlebt. Die Emotionen können wahr sein, die Situation an sich aber nicht. Das einzig Wahre und Echte in diesem Stück sind die Gefühle. Die Frau erlebt tatsächlich Verlust und Isolation, Furch und Angst, Leidenschaft und Zweifel. Diese Gefühle sind 100-prozenti echt.

    Hier kann man sich das Programm in der Originalfassung aus Paris anschauen – mit viel grösserer Bühne und kleinerer Leinwand (im Verhältnis) und inklusive der später bei Strauss gestrichenen Bilder:

    Und hier gibt es eine Bildstrecke aus Winterthur, von der ich die Fotos entliehen habe:
    https://www.musikkollegium.ch/ueber-uns/news-aktuelles/view/impressionen-der-follow-woche-mit-barbara-hannigan

    Zürich, Kleine Tonhalle – 15.1.

    Kosmos Kammermusik – Ksenija Sidorova

    Ksenija Sidorova Akkordeon
    Klaidi Sahatçi Violine
    George-Cosmin Banica Violine
    Gilad Karni Viola*
    Sasha Neustroev Violoncello
    Kamil Łosiewicz Kontrabass**

    *) ausser bei Dvorák
    **) Akhunov, Angelis, Encore

    Wolfgang Amadeus Mozart
    Adagio und Rondo c-Moll KV 617
    Antonín Dvořák
    Fünf Bagatellen op. 47
    Sergey Akhunov
    «Two Keys to One Poem by J. Brodsky»: I. The Moon / II. The River
    Pietro Roffi
    Nocturne «A Kind of Lullaby of the Times We Have Not Yet Lived»
    «Is There a Place in Your Heart?»
    Ástor Piazzolla
    «Asleep», «Anxiety», «Fear» aus «Five Tango Sensations»
    Franck Angelis
    Fantasie über das Thema «Chiquilín de Bachín» von Á. Piazzolla
    Encore: Ástor Piazzolla
    Adiós Nonino

    Zwei Tage später konnte ich in der vollgestopften kleinen Tonhalle endlich doch noch Ksenija Sidorova hören. Das Konzert, bei dem ich sie im März 2020 erstmals hören wollte, war eines der ersten, das der Pandemie zum Opfer gefallen ist. In der Zwischenzeit hat sie aber im November 2021 auch unter Paavo Järvi ein Werk von Tüür aufgeführt (Youtube) – da war ich allerdings nicht dabei. Den Kammermusikabend mit einem Konzertmeister und ein paar Stimmführern de Tonhalle-Orchesters wollte ich mir aber nicht entgehen lassen, auch weil das Programm sich teils mit ihrer alpha-CD „Piazzolla Reflections“ überschnitt, die ich gerne mag. Los ging es aber mit zwei älteren Werken, einer Adaption von Mozarts letztem Kammermusik-Stück, komponiert für Glassharmonika, Flöte, Oboe, Bratsche und Cello, sowie Dvoráks Fünf Bagatellen für Harmonium (adaptiert für Akkordeon und Streichquartett), zwei Violinen und Cello.

    Dann folgten die zeitgenössischen Werke für das sowieso erst seit 1960 existierende klassische Akkordeon – Sidorova sprach zu fast allen Stücken ein paar Worte, erklärte auch kurz ihr Instrument – natürlich nicht ohne den Unterschied zum Bandoneon zu erwähnen. Bei den zwei „Schlüsseln“ zu einem Gedicht von Brodsky kam erstmals der Kontrabass dazu, Pietro Roffis beiden Stücke waren dann wieder für Akkordeon und Streichquartett, ebenso die drei Stücke aus Piazzollas „Five Tango Sensations“, die gegenüber dem gedruckten Programm vorgezogen wurden, damit der Abschluss mit Angelis Piazzolla-Fantasie wieder mit allen Musikern vonstatten gehen konnte. Es gab zwar nicht den tosenden Applaus wie davor in Winterthur und sehr viele Leute sprangen sofort auf und verschwanden vor der Zugabe (eine mich enorm störende Respektlosigkeit, die in Zürich leider weit verbreitet ist), die das Programm wunderbar abrundete, „Adiós Nonino“ von Piazzolla, auch wieder mit Kontrabass.

    Die Musik kann ich gar nicht gut in Worte fassen, böse Zungen würden von globaler Wohlfühlmusik reden mögen, aber auf dem Niveau und mit der sichtbaren Freude dargeboten war das wirklich klasse. Und ja, das ist schon Musik, die eher in Herz und Magen geht als in den Kopf, aber nichtsdestotrotz war das ein sehr schöner sonntäglicher Spätnachmittag (Beginn um 17 Uhr, Dauer um die 90 Minuten, wie zuvor bei Hannigan auch hier ohne Pause).

    Heute geht es nach Basel zu einem Konzert, das zumindest auf dem Papier ganz hervorragend aussieht: Francisco Coll dirigiert das Kammerorchester Basel, Sol Gabetta spielt die Uraufführung seines Konzerts für Cello und Orchester, davor gibt es Turinas „La oración el torero“, nach der Pause das Doppelkonzert von Martinu und die Suite aus Fallas „El amor brujo“.

    Am Sonntag springt dann Markus Stenz im Opernhaus für Simone Young ein, da gibt es Strauss („Tod und Verklärung“), Bartóks Violakonzert mit Nils Mönkemeyer und das Adagio aus Mahlers 10. Symphonie.

    Und am Dienstag tritt Lucienne Renaudin Vary im Rahmen der Neuen Konzertreihe Zürich in der Tonhalle mit dem Zürcher Kammerorchester auf (Trompetenkonzerte von Marcello und Neruda, Symphonien von CPE Bach, Mozart und Haydn).

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    20.01.2023 – Basel, Stadtcasino – „Liebeszauber“

    Kammerorchester Basel
    Francisco Coll García
    Leitung
    Sol Gabetta Violoncello

    JOAQUÍN TURINA: „La Oración del Torero“ für Streichorchester Op. 34 (1927)
    FRANCISCO COLL GARCÍA: Konzert für Violoncello und Orchester (2022)

    BOHUSLAV MARTINU: „Doppelkonzert“, Konzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken (1938)
    MANUEL DE FALLA: El amor brujo (Ballet Suite) (1915, Ballet Suite 1924)

    Schon wieder drei Konzerte her, seitdem ich letztes Mal berichtet habe. Zwei davon haben mir ausserordentlich gut gefallen, aber auch das dritte hatte sehr viel zu bieten. Am Freitag vor einer Woche bin ich in Basel zuerst ins Museum und habe die Ausstellung über die Ankäufe „entarterer Kunst“ gesehen, mit der das Kunstmuseum Basel seine Lücke bezüglich deutscher Moderne (Expressionismus, Neue Sachlichkeit) schliessen konnte. Ein zwiespältiges Vergnügen, aber immerhin- ist das weder Raub- noch Fluchtkunst sondern Kunst, mit deren Verkauf das Nazi-Regime Devisen ins Land holte. Zu jedem Gemälde war in den Saaltexten die Provenienz nachzulesen, manchmal vollständig, manchmal die wichtigsten Stationen. Es waren auch diverse Gemälde zu sehen, die die Basler Einkäufer damals auf dem Wunschzettel hatten, die sie aber nicht kaufen konnten, weil der gewährte Kredit dafür nicht reichte – darunter auch ein oder zwei Gemälde, die von den damals durch die Nazis enteigneten deutschen Museen in der Nachkriegszweit wieder zurückgekauft wurden. Von den Werken her ist das für mich eine enorm lohnenswerte Angelegenheit, weil mich diese Phase der Malerei sehr anspricht bzw. interessiert. Darunter gab es auch einige grossartige Werke von Malerinnen zu sehen (klick). Auf dem Foto oben von links: Franz Frank (1897-1986), „Die Arbeitslosen (Proletarier)“ (1928/29, aus Darmstadt geliehen), Christoph Voll (1897-1939), „Joseph“ (1923/24, aus dem Lenbachhaus) und Otto Nagel (1894-1967), „Wochenmarkt im Wedding“ (um 1926, aus der Berliner Akademie der Künste).

    Danach ging es ins Konzert, schon das fünfte der aktuellen Reihe im Stadtcasino mit dem Kammerorchester Basel (eines habe ich krankheitshalber leider verpasst) – und einmal mehr war das grosse Klasse. Ein toll zusammengestelltes Programm mit einer (Fast-)Uraufführung: das Cellokonzert von Coll wurde bei diesem vom KOB gemeinsam mit Radio France und BBC Radio 3 in Auftrag gegeben und kam Ende November schon in Paris zur Aufführung (mit Gabetta, Coll und dem Orchestra Philharmonique de Radio France). Los ging es mit dem wunderbaren Tongedicht von Turina, das dem Gebet der Toreros vor dem Stierkampf, der nervösen Anspannung vor dem Auftritt gewidmet ist. Die Volksfeststimmung aus der Arena dringt zwischendurch von draussen herein, doch die Musik entsteht aus dem Piano heraus und verschwindet am Ende auch wieder im Nichts. Ich kannte das Stück natürlich noch nicht – und fand das so viel interessanter, als wenn da die übliche Ouvertüre von Mozart/Beethoven/Mendelssohn gestanden wäre (gilt natürlich nicht für Fanny Hensel neulich in Basel, das war auch superb und abseits des Üblichen). Dann das Hauptevent: Colls neues Konzert, etwa vierundzwanzig Minuten lang, kraftvoll und dramatisch (so Colls Lehrer Thomas Adès über seinen einzigen Schüler), sehr abwechslungsreich und reich an überraschenden Klängen – die Schlagzeuger hatten viel zu tun, u.a. immer wieder an der Marimba. Das Stück ist viersätzig nach dem Schema schnell-langsam-langsam-schnell, die Sätze tragen die Überschriften Giocoso, Lento, Misterioso und Festoso. Der Einstieg ist ziemlich wuchtig, neben dem vielen Schlagwerk kommt auch ein Klavier zum Einsatz. Das Cello wird immer wieder von Attacken des Orchesters verschluckt, muss ich immer wieder aus den heftigen Klangein- oder -ausbrüchen herausschälen, entwinden, schraubt sich aber immer wieder in die Höhe, klingt dabei selten im klassischen Sinn schön, eher schroff, recht kantig – um dann im ersten langsamen Satz in eine Cantabile zu fallen, das zunächst von sphärischen hohen Violinen begleitet wird, die mich für einen kurzen Moment tatsächlich an das neue Violinkonzert von Adès erinnern, dessen Uraufführung durch Anne-Sophie Mutter ich im August in Luzern beiwohnen konnte. Eine grosse Kadenz, ein kurzes Trompetensolo … ein wuchtiger Schluss, der den Bogen zum Anfang spannt – toll! Gabetta kann das natürlich alles. Sie ist eine Musikerin, bei der für mich erst die Live-Erlebnisse das ganze Potential offen legten.

    Faurés „Élégie“, die ganz zu Beginn (letzten Frühling) auch noch im Programm stand, wurde wohl gekippt, weil Colls Konzert recht lang wurde – und es ging ja nach der Pause nochmal mit zwei längeren Werken weiter, von denen mich das erste gleich wieder sehr beeindruckte. Der Pianist Riccardo Bovino sass nun in der Mitte, links und rechts von ihm die beiden „Orchester“ (zweimal 3-3-2-2-1 – das dürfte wohl in etwa die Maximalgrösse sein, in der das KOB auftritt). Entstanden ist das Stück in Pratteln bei Basel im Haus von Paul Sacher, dem Mäzen und Auftraggeber, dem Martinu das am Vorabend der Unterzeichnung des Münchner Abkommens fertiggstellte Werk widmete. Ich finde da nicht die passenden Worte, möchte das Stück aber die Tage in der einen mir vorliegenden Aufnahme anhören. Kahánek/Netopil auf Supraphon ist hier, ausserdem nur eine Aufnahme unter Kubelík von 1950 – ich glaube ich habe es im Konzert wirklich zum ersten Mal gehört. Ich fand es in seiner formalen und rhythmischen Strenge jedenfalls mitreissend und sehr überzeugend. Ich hatte hie und da die Illusion, dass das ein Stück für Klavier, Pauken und Orgel sei – so sehr verschmolzen die Streicher und so wirkte der Klang auf mich.

    Den Ausklang machte dann Falla – eine Rückkehr in spanische Gefilde, mit dem das Programm zum Einstieg Turina zurück verwies. Das war dann trotz der wenig freundlichen Geschichte, die dem Werk zugrunde liegt. Dieses war in der ersten Fassung für eine Flamencotänzerin, einen Sänger und ein kleines Instrumentalensemble 1915 erst einmal durchgefallen. Falla machte daraus eine symphonische Suite, der ebenfalls kein Erfolg beschieden war – erst die knapp zehn Jahre später erfolgte Umarbeitung in diese zwölfsätzige Ballet Suite sollte sich durchsetzen. Insofern wäre es natürlich heute spannend, die früheren Fassungen auch mal zu hören … was jetzt keine komplette Kritik an der schmissigen, farbenfrohen Musik der Suite sein soll, aber vom düstern Plot fand ich da nicht viel wieder – muss ja auch nicht sein, wie das Stück von Turina funktioniert auch „Al amor brujo“ für sich selbst, ohne die programmatischen bzw. Handlungs-Ideen dazu zu kennen. Nach dem eher dunklen Mittelteil mit Coll und Martinu war das jedenfalls ein schöner Aufheller zum Abschluss eines wirklich tollen Konzerts.

    22.01.2023 – Zürich, Opernhaus

    Philharmonia Zürich
    Markus Stenz
    Dirigent
    Nils Mönkemeyer Viola

    RICHARD STRAUSS: Tod und Verklärung Op. 24 (1889)
    BÉLA BARTÓK: Konzert für Viola und Orchester Op. posth. Sz 120 (1945) (ergänzt/instrumentiert von Tibor Serly, 1949)

    GUSTAV MAHLER: Adagio aus dern 10. Sinfonie (1910)

    Ich merke gerade beim Abtippen der Informationen, dass hier natürlich nicht das ganze Programm aus dem 20. Jahrhundert war: „Tod und Verklärung“ ist älter, und ich denke das ist auch gut zu hören. Dafür war in Basel alles aus dem 20. und sogar 21. Jahrhundert – und für manche Leute im Publikum war zumindest Coll wohl auch schwierig. Für mein Empfinden hingegen sollten solche Programme heutzutage ganz normal sein.

    In der Oper, am Sonntagabend (nicht wie bei Konzerten sonst of um 11:15 Uhr), war ganz grosser Bahnhof. Der Graben hochgefahren, der Bühnenraum bis weit hinten mit um die 100 Musiker*innen besetzt – die Streicher ausser bei Bartók mit 16-14-12-10-8 so üppig bestückt, wie es auch in der Tonhalle eher selten ist (die Violinen hatte ich von meinem Platz nicht im Blick, aber für einmal gab es ja nur eine Aufführung, d.h. die im Programmheft angegeben Namen – allenfalls mit ein paar Vertretungen, sind ja alle dauernd krank, obwohl die Pandemie dank kollektiven magischen Denkens anscheinend ja vorüber ist ;-) – waren auch alle dabei). Dazu zahlreiche Bläser, zwei Harfen, einiges Schlagzeug. Da kamen viele Zuzüger*innen und auch Mitglieder der seit den Neunzigern beim Opernhaus geführten Orchesterakademie zum Zug.

    Ich habe drüben ja schon ein paar Zeilen zum aus der Zeit gefallenen Dirigierstil von Stenz geschrieben – doch wie erwähnt: die gebotene Musik war so hervorragend, dass das alles unbedeutend wurde. Im Graben mit Sänger*innen auf der Bühne ist so ein Stil vermutlich sehr hilfreich, damit auch alle immer mitkriegen, was geht – aber so prominent auf der Bühne platziert dachte ich an die vielen Karikaturen von sich verrenkenden Dirigenten im Frack (auch so einen trug Stenz natürlich). Der Strauss zum Einstieg war brillant, der Streicherklang warm und flirrend, das Pathos nahm nicht überhand – und der Kontrast zu den „Metamorphosen“ neulich war immens und lehrreich.

    Dann kam Nils Mönkemeyer auf die Bühne – schon zum zweiten Mal diese Saison und einmal mehr hervorragend. Bartóks Violakonzert lag bei seinem Tod als Particell vor – und die Experten scheinen sich einig zu sein, dass darin in erster Linie die Solostimme notiert war. An den Auftraggeber, William Primrose, hatte Bartók im September 1945 geschrieben, das Konzert sei „im Entwurf fertig“, es brauch „bloss noch die Partitur geschrieben zu werden […], was gewissermassen nur eine mechanische Arbeit ist.“ Fünf Wochen schätzte er die benötigte Zeit, doch zweieinhalb Wochen später war Bartók tot. Tibor Serly, der Schüler, der die Fertigstellung übernahm, hatte jedenfalls einige Arbeit, der Zusatz „Zur Veröffentlichung nach der originalen Handschrift des Komponisten vorbereitet von Tibor Serly“ scheint eher beschönigend zu sein, denn Bartók hat weder Angaben zur Instrumentierung noch zur Harmonik hinterlassen (dafür verblüffend präzise Angaben zur Zeitdauer der Sätze). „Transparenz“ und ein „dunkler, maskuliner Charakter“ waren wohl die einzigen Hinweise, die Serly als Vorgabe vorlagen. Im Programmheft schriebt Holger Noltze am Ende: „Wieviel Bartók steckt in Bartóks Violakonzert? Man mag es, hört man die Einwürfe aus dem Orchester, als ein Gespräch eines Meisters mit einem ziemlich begabten Schüler sehen.“ Mönkemeyer spielte das jedenfalls wie üblich ohne grosse Gesten, ganz auf die Musik fokussiert, mit wunderbarem Ton und grosser Überzeugungskraft. Im Gegensatz zu Gabetta spielte er eine Zugabe – wie schon bei der Uraufführung mit Ruzicka im Herbst einen Satz aus einer der Cellosuiten von Bach (vermutlich denselben, das habe ich nicht zu überprüfen versucht).

    Dann folgte die Pause, die ich im Vorfeld angesichts der drei ca. zwanzigminütigen Werke des Programmes für überflüssig, im Nachhinein aber für unbedingt richtig empfand. Das Adagio aus Gustav Mahlers letzter, nicht vollendeter Symphonie, mit prominenter Rolle für die Bratschen auch in der Hinsicht gut an Bartók anknüpfend – für mich, der ich mich noch immer nicht eingehend mit Mahlers Symphonien befasst habe, war das nahezu ein Naturereignis. Das Werk beginnt so, wie die Neunte endet (die Neunte mit dem LSO unter Rattle zählt zu meinen prägenden Konzerterlebnissen): eben mit den Bratschen. Marco Frei schreibt im Programmheft dazu: „Dieses erste Thema wird später in gewandelter Gestalt in den katastrophischen Höhepunkt des Kopfsatzes übergeleiten. Diese ‚vollendete Entropie als Allegorie des Todes‘, so der 2018 verstorbene Komponist Dieter Schnebel, hebt zunächst mit einem orgelhaften Choral an. Es folgt ein zweimal intonierter kühner Neunton-Klang: ein Novum, nicht nur im Schaffen Mahlers.“ Es gibt natürlich auch ein paar andere Geschichten, die man erzählen kann: vom „Liebes-Showdown im Südtirol“, im Particell finden sich Randbemerkungen wie: „Der Teufel tanzt es mit mir, fass mich an, Verfluchten! Vernichte mich!“. Es ist Musik der letzten Dinge – aber das war die Neunte ja auch bereits. Und so etwas im Konzert, in so einer Güte gespielt, erleben zu können, empfinde ich, so platt das jetzt klingen mag, tatsächlich als transformatorisch.

    24.01.2023 – Zürich, Tonhalle – Neue Konzertreihe Zürich

    Zürcher Kammerorchester (Willi Zimmermann, Konzertmeister)
    Lucienne Renaudin Vary Trompete

    CARL PHILIP EMANUEL BACH: Sinfonie G-Dur Wq 182 „Hamburger Sinfonie Nr. 1“ (1773)
    JOHANN BAPTIST GEORG NERUDA: Trompetenkonzert Es-Dur (ca. 1750)
    WOLFGANG AMADEUS MOZART: Sinfonie Nr. 11 D-Dur KV 84 (1770)

    JOSEPH HAYDN: Sinfonie Nr. 44 e-Moll Hob. I:44 „Trauersinfonie“ (1770/71)
    ALESSANDRO MARCELLO: Trompetenkonzert c-Moll (1717 – Transkription des Oboenkonzerts d-Moll)

    Den Abschluss dieses kleinen Konzertclusters machte dann – zum Glück möchte ich fast sagen – ein leichteres Programm. Allerdings war auch das hervorragend: für meine Ohren vielleicht der beste Auftritt des Zürcher Kammerorchesters, den ich bisher zu hören bekam. Vor der Pandemie hatte ich da auch mal ein Wahlabo, fand aber nicht zuletzt die Zusammenstellung der Konzertprogramme immer etwas zu wenig mutig, zu viel Klassik, Romantik und passende eher leichtere jüngere Musik dabei – gerade im Vergleich der Konkurrenz aus Basel. Entsprechend waren meine Erwartungen mässig, auch die Solistin sagte mir nichts – da wird eine Vermarktung betrieben, die mich eher davon abhält, ihr ein Ohr zu leihen. Wäre das nicht in meinem Abo für die Neue Konzertreihe enthalten gewesen, hätte ich das Konzert also definitiv verpasst – und hätte damit tatsächlich etwas verpasst.

    Im ersten Konzertteil fand ich vor allem tatsächlich das ZKO herausragend, mit CPE Bach (die Hamburger Sinfonien hatte ich zufällig ein paar Tage davor bei der Heimarbeit mit Amandine Beyer und Gli Incogniti wieder angehört) und dem jugendlichen Mozart, dessen schönes Zitat zu Italien ich neulich drüben schon teilte: „addio, lebe wohl: meine einzige lustbarkeit besteht dermallen in englischen schritten und Caprioll und spaccad machen. Italien ist ein schlafland, es schläffert einen imer. addio, lebe wohl.“ (aus dem Programmheft, Kontext ist, dass diese Symphonie möglicherweise eine von denen ist, in denen da auch die Rede ist, er erwähnt nämlich auch, dass er „4 itallienische Sinfonie componirt“ habe (vermutlich KV 81, KV 84, KV 95 und KV 97). Für KV 84 wurden in Ermangelung von Handschriften zeitweise auch Moszarts Vater und Carl Ditters von Dittersdorf als Komponisten gehandelt. Mein Fazit aus dem Konzert, besonders auch nach der gewichtigeren Haydn-Symphonie nach der Pause, ist, dass das ZKO sich absolut mit dem KOB messen kann. Und dass es überhaupt ein Glück ist, neben den grossen Orchestern auch solche Formationen hören zu können.

    Das erste der beiden Trompetenkonzerte fand ich etwas langweilig – die junge Solistin spielte es allerdings mit wunderbarem Ton und gestaltete das alles sehr schön. Das deutlich ältere zweite Konzert, das seit Maurice André auch an der Trompete gespielt wird, fand ich dann allerdings klasse. Lucienne Renaudin Vary spielte es auf einer Piccolo-Trompete, die wohl der Lage der Oboe etwas näher kommt. Im Jazz sind ja verschattete und auch brüchige Trompetentöne durchaus populär (auch bei mir) und den Kontrast fand ich da schon sehr gross: voller Ton, rund und satt fast ganz ohne Kanten, und dazu ein unglaublicher Fluss, selbst bei schnellsten Verzierungen. Bei Neruda war mir all das wohl einfach zu viel Wohlklang, aber Marcello fand ich klasse. Und die Zugabe war dann ebenfalls umwerfend – wieder an der normalen Trompete gespielt. Der Mann am Cembalo, Jermaine Sprosse, zog den Lautenzug und gesellte sich zu den Pizzicato-Streichern … leider kam ich bisher noch nicht drauf, was für ein Stück das war, ich tippe auf Piazzolla. Jedenfalls äusserst charmant.

    Mit Piazzolla (María de Buenos Aires) und anderem ging es eine Viertelstünde später im Foyer noch weiter – und das war für meine Ohren für die Einschätzung von Lucienne Renaudin Vary eine hervorragende Sache. Mit Félicien Brut am Akkordeon (einem Schüler von Richard Galliano, den ich kommenden Dienstag in der Tonhalle hören werde) spielte sie leichtere Musik und Virtuosinnenstücke, und so rundete sich das Bild nochmal ganz anders ab. Ihr Auftreten war dabei übrigens völlig normal – abgesehen davon, dass sie auf der grossen Bühne barfuss spielte, weit weg von den Marketing-Antics, die durchs Netz geistern, beim Entgegennehmen des Applauses wirkte Lucienne Renaudin Vary fast schon linkisch. Jedenfalls überaus sympathisch und buchstäblich mit den Füssen auf dem Boden, auch wenn die Musik den Himmel stürmen möchte.

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    #11981067  | PERMALINK

    yaiza

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    hallo gypsy, da glaube ich gern, dass das tolle Abende waren… bevor ich noch etwas schreibe, mache ich mir einen Kaffee und wollte nur kurz mal rückmelden, dass das Interview mit Herbert Blomstedt noch hörbar ist… anfangs zu Bruckner, aber dann schwenkt er allg. zu Komponisten über und später zur Arbeit der Dirigenten etc. Vielen Dank für den Link. Ich fand’s schön, Herbert Blomstedt in solch ausführlichem Interview zu hören.

    gypsy-tail-wind Hier gibt es auch eine Tonaufzeichnung (bin nicht sicher, ob das exakt dasselbe ist), auch zum Konzert von Juni – er spricht ja sehr gut Deutsch (und hat in Luzern eine Zweitwohnung, das war mir bis dahin auch nicht klar): https://www.tonhalle-orchester.ch/konzerte/kalender/herbert-blomstedt-dirigiert-bruckner-1438316/

     

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    #11981099  | PERMALINK

    yaiza

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    gypsy-tail-wind    ZKO-Haus, Zürich – 26.11.2022 Jakob Lenz Kammeroper von Wolfgang Rihm, Text von Michael Fröhling frei nach Georg Büchners «Lenz» Musikalische Leitung Adrian Kelly Inszenierung Mélanie Huber Ausstattung Lena Hiebel Lichtgestaltung Dino Strucken Dramaturgie Fabio Dietsche Lenz Yannick Debus Oberlin Jonas Jud Kaufmann Maximilian Lawrie 6 Stimmen Chelsea Zurflüh, Bożena Bujnicka, Freya Apffelstaedt, Simone McIntosh, Amin Ahangaran, Gregory Feldmann Kinder Nina Gringolts, Lavinia Scorsin, Noelia Finocchiaro Zürcher Kammerorchester

    hierzu nur kurz, dass ich die Oper auch nicht kannte; vor kurzem wurde in der Festival-Nachlese auf BR-Klassik der Mitschnitt von der konzertanten Aufführung in Salzburg im Juli 2022 gesendet… mit einem hörbar tollen Georg Nigl… was die Handlung betrifft – da bin ich leider nicht im Bild… behalte ich aber mal für die Anschaffung eines Reclam-Heftchens im Kopf

    https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/salzburger-festspiele-rihm-jakob-lenz-kammeroper-kritik-100.html

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    #11981143  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Der Text von Büchner ist irre, ein Lieblingstext von mir seitdem ich ihn entdeckte (irgendwann am Gymnasium). Ich hab die Sätze aus der Oper jetzt nicht mehr so genau im Kopf, aber ich denke, da ist vieles ein direktes Zitat (vielleicht teils auch von der nicht-literarischen Vorlage Büchners, dem Bericht von Oberlin, der in der Oper ja auch vorkommt – und bei Büchner natürlich auch).

    Ich hab mir dafür inzwischen den Gesprächsband mit Blomstedt schenken lassen @yaiza – aber bin hörend grad sehr tief im Jazz und hab da gerade auch andere Lektüre, die so halb im Zusammenhang steht. Freue mich aber, mehr von/über Blomstedt zu lesen, das Interview fand ich auch klasse (es dürfte bis Juni oder Juli stehen bleiben; nach Saisonende verschwindet leider bei der Tonhalle jeweils alles, ein Online-Archiv fehlt da, nicht mal der Konzertkalender ist nachträglich noch einsehbar, wenn die neue Saison losgeht).

    Trivia: vor dem Konzert mit Hannigan in Winterthur stand ich auch noch vor Friedrichs „Kreidefelsen“, als ich in der Sammlung Reinhart auch noch ein paar Minuten durch die Sammlung schlenderte. Bisschen älter als Büchner, aber kam mir in dem Zusammenhang gerade wieder in den Sinn:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Kreidefelsen_auf_Rügen

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    #11981229  | PERMALINK

    yaiza

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    gypsy-tail-wind  Theater Basel – 28.12.2022 Der wunderbare Mandarin / Herzog Blaubarts Burg Pantomime und Oper von Béla Bartók (1881-1945) Prolog aus „Herzog Blaubarts Burg“ „Der wunderbare Mandarin“. Tanzpantomime (Libretto: Menyhért Lengyel) „Auferstehung“ (Tanzerzählung von Christof Loy; Musik: 1. Satz aus „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“) — „Herzog Blaubarts Burg“. Oper in einem Akt (Libretto: Béla Balázs) „Der wunderbare Mandarin“…

    vielen Dank für Deinen Bericht zum Bartók-Abend und den Link zur SWR-Seite. Eine Blaubart/Mandarin-Kombi – das klingt schon großartig. Bzgl. „Der wunderbare Mandarin“  — hast Du da zufällig ein Programmheft und wird da näher auf die Intention Bartóks eingegangen, warum er sich diesem Stoff widmete? allg. wird das die Darstellung des Widerlichen sein (?) Die „Strolche“ werden wohl immer so genannt werden, sind doch aber Zuhälter.

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    #11981271  | PERMALINK

    yaiza

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    @gypsy: das Blomstedt-Gesprächsbuch ist dünn genug, um es einfach irgendwann mal für eine lange Fahrt oder Lektüre in der Mittagspause einzustecken bzw. kann auch gut in den Urlaub genommen werden… es läuft ja nicht weg und ich habe da vieles schon drei-oder viermal gelesen, da die Gespräche doch sehr detailliert widergegeben werden.

    & habe gerade gelesen, dass Du Museum und Konzert in Winterthur kombiniert hast  :good:   Die „CDF-Kreidefelsen“-Bilder finde ich toll… das  spätere „Gegenbild“ (ohne Menschen, alles verdörrt) müsste auch in der Sammlung sein (?)

     

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    #11981431  | PERMALINK

    gruenschnabel

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    gypsy-tail-wind
    Lucerne Festival – KKL, Luzern – 18.08.2022
    Igor Levit Klavier
    Johannes Brahms (1833–1897)
    Sechs Choralvorspiele für Orgel aus op. 122, auf das Klavier übertragen von Ferruccio Busoni BV B 50
    Fred Hersch (*1955)
    Variations on a Folk Song (Schweizer Erstaufführung)

    Richard Wagner (1813–1883)
    Vorspiel zu Tristan und Isolde, arrangiert für Klavier von Zoltán Kocsis
    Franz Liszt (1811–1886)
    Klaviersonate h-Moll S 178
    Ein grossartiger Auftakt meiner drei Besuche am diesjährigen Lucerne Festival. Brahms/Busoni (oder anders rum? im gedruckten Programm war’s Busoni/Brahms) und Hersch ergaben zusammen eine ca. 35minütigen, meiste getragenen Einstieg in den Abend. Die Hersch-Variationen beruhen auf „Oh, Shenandoah“, die meisten sind auch eher ruhig, lyrisch, aber es gibt einige Verdichtungen und Akkorde, die quasi auf dem Umweg über den Jazz von Hersch zurück zur Klassik kommen: will sagen da und dort klingt das impressionistisch, irgendwo an der Schnittstelle von Debussy, Ravel und dem Jazz eines Bill Evans oder eben: Fred Hersch. Levit nennt Hersch ein Vorbild (am deutlichsten hier), im Programmheft aus Luzern (ich hab’s leider bereits erfolgreich verlegt oder aus versehen entsorgt gestern) stand auch, dass Levit den Ratschlägen Herschs viel verdanke, und „Er nahm mir die Furcht vor dem Weg, den ich gehe.“
    Die erste Konzerthälfte wurde für meine Ohren durch die zweite dann quasi vollkommen verständlich, erst am Ende erschloss sich die Dramaturgie des Abends ganz. Das Arrangement vom Tristan-Vorspiel diente Levit tatsächlich als Vorspiel für die grosse Sonate von Franz Liszt: deren erste, einzelne Töne ergaben sich nahtlos aus Wagners Musik – allein dieser Übergang war schon magisch, doch der Einstieg nach der Pause mit Wanger war das sowieso: karg, geheimnisvoll, dunkel – extreme Dehnungen, da konnte das Atmen beinah vergessen gehen, wenn man sich fragte: Was folgt nun? Wie kann das denn weitergehen? Wohin? Und dann aus den letzten Tönen der Übergang zu Liszt. Bamm … Bamm …… Bamm … Zerdehnung, Verdichtung, Explosivität und berückender Lyrismus. Wie Levit diese irre Sonate interpretierte, erzeugte den Eindruck, sie entstünde im Augenblick zum ersten Mal. Das wirkte spontan und völlig frei. Dabei ging Levit mit der höchsten Konzentration zur Sache, phrasierte gewisse Passagen auch anders, als ich sie im Ohr hatte, scheute nicht vor gelegentlichen Zuspitzungen, schöpfte die Dynamik des Instruments aus. Die Musik hatte etwas Getriebenes, ja Irres – aber immer wieder Momente grosser Zartheit, in denen der dichte Strom der Musik aufgebrochen wurde, Atem geschöpft werden konnte, in der Stille die nächsten Attacken vorbereitet wurden. Es war jedenfalls der Wahnsinn – für mich wird es in Sachen Listz-Sonate ein Davor und ein Danach geben, und es wird einige Zeit brauchen, bis ich mich zuhause ab Konserve dem Stück mal wieder widmen kann.
    Eine Zugabe folgte dann auch noch – ich bin peinlicherweise nicht sicher, was es war, tippe auf Bach/Busoni („Nun komm der Heiden Heiland“?). Ich fand das einerseits überflüssig – wie auch den Applaus, mit dem die davor über eine Dreiviertelstunde aufgebaute, magische Stimmung zerbrach – aber andererseits halt der Form geschuldet auch eine sehr schöne Abrundung eines wunderbaren und mich am Ende in jeder Hinsicht überzeugenden Abend.

    Darauf wollte ich (eigentlich schon früher) nochmal kurz eingehen. Ich habe dieses Programm im Dezember ebenfalls gehört (Hamburg, Laeiszhalle). Die Anzahl meiner besuchten Konzerte in 2022 ist zwar verhältnismäßig überschaubar, aber der Levit-Abend war ganz eindeutig mein Live-Erlebnis des Jahres. Er war wie aus einem Guss auf einem überwältigenden musikalischen Niveau. Für mich stimmte an diesem Recital alles (Zugabe war ein Hersch-Stück) – und so entstand auch eine deutlichst zu spürende enge Verbindung zwischen Künstler und Publikum, die sich in der Art, wie man sich voneinander verabschiedete, nochmal zusammenfassend ausdrückte. Eine beglückende Sternstunde, die ich nicht erlebt hätte, wäre ich nicht über Gypsys Konzertimpressionen gestolpert. Herzlichen Dank dafür!

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    #11981467  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    @gruenschnabel Solche Rückmeldungen sind natürlich die besten – freut mich sehr zu hören! Morgen geht der Vorverkauf für das von Levit programmierte Klavierfestival in Luzern im Mai los und ich werde Karten für Freitag und Samstag kaufen. Levits eigenes Rezital und das Trio von Fred Hersch am Freitag geht leider nicht, weil ich da schon für was anderes Karten habe … aber Hersch solo und Levit im Schlusskonzert sind auch dabei, zudem Johanna Summer und Anna Vinnitskaya – und ich freue mich sehr:
    https://www.lucernefestival.ch/de/programm/klavier-fest-2023

    @yaiza Das Programmheft aus Basel ist dünn (keins dieser Bücher, wie man sie von grossen Häusern kennt – Basel ist ja ein Mehrspartenhaus und die Programme sind eher im Umfang, wie ich sie von Sprechtheatern kenne als von Opernhäusern). Ich habe es gestern noch gesucht (und gefunden) und gucke heute Abend rein (und in den Reclams-Opernführer kann ich auch noch gucken). Was die Strolche/Zuhälter angeht, ja, davon gehe ich auch aus … mir war in der Basler Aufführung die Abgrenzung von diesen und den Freiern aber etwas schleierhaft (es tanzten quasi vier gegen einen – den einen halt, um den es v.a. geht, nebst aber es sind ja nur drei und der vierte ist der Freier von davor, wenn ich das richtig im Kopf habe?) … Wikipedia ist da jedenfalls nicht aufschlussreich. Ich weiss zu Bartók leider eh sehr wenig.

    Was Caspar David Friedrich in Winterthur angeht, das „Gegenbild“ kenne ich leider nicht, sehe es aber in der online absuchbaren Sammlung auch nicht (oder erkenne es nicht?) – hoffe der Link geht (sonst via Sammlung oben im Menu, dann ist eine Suche möglich):
    https://kmw.zetcom.net/de/collection/?q=caspar%20david%20friedrich
    Mir ist aber nicht klar, ob die Seite die ganze Reinhart-Sammlung beinhaltet – es gibt zwei Häuser, Am Stadtgarten, wo ich war (Stadt Winterthur) und am Römerholz, wo ich wohl als Kind zuletzt war (gehört dem Bund, also der Schweiz, so unsere Terminologie). Hier gibt es Pressematerial, da ist auch nur der bevölkerte Kreidefels drin, inkl. altem Foto, wie er damals am Römerholz hing:
    https://www.roemerholz.ch/dam/sor/de/dokumente/sor/presse/pressebilder.3.pdf.download.pdf/pressebilder.pdf
    Und ich weiss auch gar nicht, wie die Bestände der Museen sich zueinander verhalten … Winterthur liegt so nah, und doch gehe ich so selten dort hin (vor 10-20 Jahren regelmässig ins Fotomuseum, danach hie und ins Konzert beim Musikkollegium und auch an einzelne Jazzkonzerte, aber eben nie ins Museum … weiss nur, dass ich als Kind hie und da dort war).

    Edit: gerade rasch Wiki geguckt, nachdem ich auf der Römerholz-Seite dazu nichts fand:

    Den Teil seiner Sammlung, welcher vor allem aus deutscher, österreichischer und schweizerischer Kunst besteht, überliess er bereits 1951 der Stadt Winterthur. Diese Werke sind heute im Museum Oskar Reinhart in Winterthurer Stadtzentrum zu sehen. Zu den Spitzenwerken dieses Museums gehören Caspar David Friedrichs Kreidefelsen auf Rügen genauso wie Wilhelm Leibls Dorfpolitiker.

    Ins Römerholz muss ich dann auch bald mal :-)

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    gypsy-tail-wind
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    Zu „Der wunderbare Mandarin“ schreibt Matthias Schmidt im Programmheft aus Basel:

    Bereits vor der Uraufführung des ‚Blaubart“, zu Jahresbeginn 1917, erschien in der Monatsschrift ‚Nyugat‘ die Geschichte ‚Der wunderbare Mandarin‘ (‚A csodálatos mandarin‘) des ungarischen Dramatikers Menyhért Lengyel. Sie fesselte den Komponisten erneut so unmittelbar, dass er unverzüglich an die Vertonung ging und bereits wenige Monate später weite Teile der Musik für eine Tanzpantomime fertiggestellt hatte. Auch hier bedurfte es aber wieder fast eines Jahrzehnts und zahlreicher Arbeitsschritte, bis das Werk 1926 erstmals gespielt werden konnte. Ein Mädchen dient als Lockvogel, um den Mandarin zu betören, der daraufhin von drei Schurken ausgeraubt und buchstäblich dreimal ermordet – erstickt, erstochen und erhängt wird. Gleichwohl lebt er weiter, denn erst, als das Mädchen sich ihm in ehrlicher Zuneigung zuwendet und ihn schliesslich küsst, darf er sterben. Das Stück folgt einer Logik von schockierender Wildheit, die die Uraufführung in Köln zu einem masslosen Publikumsskandal machte. Das Zeitlose der Erinnerung aus Märchen und Mythos findet keinen Platz mehr in einer Musik. Sie widmet sich vielmehr der kruden Wirklichkeit: der Gegenwart der Grossstadt, der gesellschaftlichen Aktualität udn der modernen Lebenskraft. Es ist der Lärm, der vom Alltag auf die Bühne tritt: „ein Höllenlärm, Rasseln, Klirren und Hupen“, und das „wirbelnde Strassengetümmel“ (Bartók, 1917), das Bartók klanglich entfesselt.

    Bartóks expressionistische Darstellung einer Deformation der modernen Welt macht die Musik dabei zwar noch dynamischer als früher. Doch zwischen dem explosiven Allegro-Beginn und dem Lento-Schluss, zwischen dem urbanen Chaos zu Beginn, dem zärtlichen Kuss der Frau und dem erlösenden Tod des Mandarin, zeigt der Komponist wieder seinen Sinn für formale Symmetrien. Und gerade der nüchterne Umgang mit der ungarischen Volksmusik, der Bartók einen grundlegenden „Sentimentalitätsmangel“ bescheinigt (Bartók, 1931), hilft ihm hier bei der Befreiung von einer vormals spätromantischen Üppigkeit. Daher vermag sogar der unwirkliche Bühnenauftritt eines lebendigen Mordopfers auf einmal schonungslos real zu erscheinen. Am Ende siegt die traurige Melancholie und seelenvolle Menschlichkeit des Aufeinandertreffens zwischen dem Mädchen und dem Mandarin über die Gewalttätigkeit einer künstlich lärmenden Technik. Bartók geling es musikalisch glaubwürdig, ein Zerrbild der Zivilisation mit dessen eigenen Mitteln zu unterlaufen.

    Das ist nicht, wonach Du gefragt hast @yaiza, aber erlaubt wohl zumindest eine Einordnung (und diese Lesart scheint nicht allzu weit von Bartóks Intentionen entfernt zu sein). In meinem Reclam „Konzert Führer“ (18. Ausgabe, 2006; die Kapitel der Generationen ab 1860 hat Klaus Schweizer verfasst, setzt bei Mahler und Hugo Wolf ein) steht auch nicht viel mehr, da wird das Werk mit Stravinskys „Sacre du printemps“ und Prokofievs „Skythische Suite“ von 1914 eingeordnet:

    Da Bartók beide Werke aber nicht kennen konnte, muß seine Mandarin-Musik im größeren Zusammenhang eines „barbarischen“ Expressionismus gesehen werden, der sich in aggressiver Motorik, uneingeschränktem Dissonanzgebrauch und geschärftem Orchesterklang äußerte. Dennoch: So, wie Menyhért Lengyels Sujet statt der urgeschichtlich-heidnischen Themen bei Strawinsky und Prokofjew aus dem zeitnahen Milieu großstädtischer Verbrechertums genommen ist, entwickelte Bartók die musikalische Sprache dieser Partitur auf den gesicherten Grundlagen der Tradition. Konstruktive Prinzipien wie die planvolle Setzung tonaler Schwerpunkte, Anlehnung an stilisierte Tanzcharaktere, z.B. Marsch und Walzer, oder Fugato-Steigerungen sichern die in jedem Takt spürbare überhitzte Ausdrucksintensität formal ab, um sie desto konzentrierter wirksam werden zu lassen.

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    yaiza

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    Vielen Dank @gypsy-tail-wind für die Auszüge aus dem Programmheft und Opernführer. Ich habe heute auch immer mal wieder im Netz nachgeschaut und zwei Bücher befragt. Das mit der Großstadt/Verstädterung ist neben der Aggressivität  und des „Barbarischen“ (ich hab’s gestern „widerlich“ genannt, aber „barbarisch“ trifft’s viel besser) tatsächlich sehr interessant. In der Zeit der Entstehung ist auch soviel passiert.

    In „Béla Bartók“ von David Cooper (Yale University Press, 2015, S. 162) wird Menyhért Lengyel (1880-1974) als pazifistisch eingestellt beschrieben. Nach Ausbruch des 1. WK siedelte er in die Schweiz über. In der 1. Ausgabe der „Nyugat“ 1917 wurde das Libretto seiner Pantomime grotesque  in 4 Akten „A csodálatos mandarin“ veröffentlicht…  („had published his libretto … and was keen for Bartóks involvement“). Lengyel und Bartók trafen sich am 21. Juni 1917 und Bartók stimmte einer Vertonung zu, woraus später die Tanzpantomime in einem Akt wurde (ca. 30min). Es folgen dann Beschreibungen zum Ende WK I, zur Spanischen Grippe mit Höhepunkt Okt.-Dez. 1918 (Bartók erwischte es am 8.10.1918 und er musste 23 Tage lang mit schwerer Gehörgangsentzündung das Bett hüten; konnte in dieser Zeit kaum sprechen) und politischen Ereignissen in Ungarn.

    Durch „Béla Bartók im Spiegel seiner Zeit – Portraitiert von Zeitgenossen“ von Malcolm Gillies (M & T, Zürich/St. Gallen 1991) las ich mich dann zu Ereignissen in Ungarn (bes. zur Räterepublik; Bartók, Kodály, Dohnányi waren Mitglieder des Musikrats) und Budapest (Besetzung durch Rumänen – auch Bartóks Haus nahe Budapest wurde von rumänischen Soldaten besetzt) fest. Für 1919 wird der Abschluss des „Mandarin“ (Version für zwei Klaviere) erwähnt und Bartók begann wieder am Konzertleben Budapests teilzunehmen. 1920 wurde Bartók „von der Presse wg. angeblich rumänischer Propaganda in seiner letzten Studie über rumänische Volksmusik angegriffen. Er erwägt Emigration, entschließt sich dann aber zu bleiben“ (S. 34)


    „Der wunderbare Mandarin“ für zwei Klaviere
    https://www.jpc.de/jpcng/classic/detail/-/art/Bela-Bartok-1881-1945-Der-wunderbare-Mandarin-f%C3%BCr-2-Klaviere/hnum/8619549

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    gypsy-tail-wind
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    Danke Dir! Das passt schon, irgendwo las ich, dass auch Bartók Pazifist war … da gab’s dann wohl Verbindungen, aber hauptsächlich war der Stoff vermutlich einfach ein Vehikel für Bartók, um ein Werk zu schaffen, das seinen Blick auf die Gegenwart reflektierte oder so ähnlich?

    Die Version für zwei Klaviere kenne ich leider nicht – und ich habe gerade nachgeschaut, sie fehlt auch in der „Complete Works“-Box von Decca (die ich mir als sie erschien einfach auf den Stapel legte, für irgendwann – kenne einiges, was darin zu finden ist, nicht zuletzt einiges von den da komplett enthaltenen Klavierwerken, gespielt vom kürzlich verstorbenen Orbán-Freund). Das JPC-Angebot ist verlockend, beim Vertrieb kostet die CD vermutlich die üblichen 15 und ich sollte eh längst hin (wird aber, da ab Freitag eine Woche Italien, mindestens Mitte Februar, bis ich es schaffe).

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    gypsy-tail-wind
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    Ferrara, Ridotto del Teatro Comunale – 5.2.

    Zhen Jie Ye Klavier

    ROBERT SCHUMANN: Sonate Nr. 2 G-Dur Op. 22
    FRÉDÉRIC CHOPIN: Ballade Nr. 1 g-Moll Op. 23
    FRÉDÉRIC CHOPIN: Nocturne b-Moll Op. 9 Nr. 1
    FRANZ LISZT: „La Campanella“ (S 161 Nr. 3, aus „Grandes études de Paganini“)
    FRANZ LISZT: Ballade Nr. 2 -Moll (S 171)
    Zugabe: MAURICE RAVEL: Toccata (aus „Le Tombeau de Couperin“)

    Die Woche in Ferrara ging wahnsinnig schnell vorbei. Am Sonntag um 10:30 hörte ich im Foyer des Stadttheaters, das kurz nach seinem Tod nach Claudio Abbado benannt wurde, ein Klavierrezital. Die Reihe im „ridotto del teatro“ wird vom Konservatorium programmiert und vorgesehen war, dass die Professorin Muriel Chemin ein paar Sonaten aus ihrem Beethoven-Zyklus präsentiert. Sie musste aus familiären Gründen absagen und es sprang der 2003 in Teramo geborene Zhen Jie Ye ein. Er bot ein höchst virtuoses Programm mit romantischer Klaviermusik aus den 1830er- (Schumann und Chopin) und 1850er-Jahren (Liszt). Ich fand den Klang im halligen Raum etwas schwierig, Ye setzte wohl auch etwas mehr Pedal ein, als mir lieb war – aber das war eindrücklich zu hören, mit viel Schwung gestaltet, soweit ich das beurteilen kann auch richtig gut gespielt – blendend, brillant, aber vor allem die „Steigerung“ von Chopin zu Liszt machte mich ein wenig unruhig. In der Spielweise wurde das etwas zuviel Virtuosentum, zuviel Glanz … die Zugabe von Ravel war dann aber hervorragend gewählt: noch ein Virtuosenstück zwar, aber aus einer anderen Zeit (1910er), fast maschinenhaft und natürlich als Spiel mit Forme, wie Ravel es öfter pflegte, nicht ohne ein breites Grinsen zu verstehen. Ein toller Kontrapunkt und eine schöne Ergänzung des Programmes zum Ausklang. (Auf der Fahrt nach Chiogga am nächsten Tag hörte ich dann Witold Malcuzinsky mit Chopin (den Balladen zumindest), um quasi eine „gesetzte“ und in sich ruhende Version nachzulegen. Ich wünsche Zehn Jie Ye, dass er auch dahin kommt – er ist ja erst 19 Jahre alt und das war schon brillant!

    Ferrara, Teatro Comunale – 7.2.

    Orchestra del Teatro Comunale di Bologna
    Oksana Lyniv
    Leitung
    Stefan Milenkovich Violine

    VLADIMIR GENIN: Passacaglia in Yellow-Blue (Uraufführung)
    PËTR ILÎČ ČAJKOVSKIJ: Concerto per violino e orchestra op. 35 in re maggiore
    E: FRITZ KREISLER: Recitative und Scherzo-caprice op. 6 / JS BACH: Allemande (aus: Partita Nr. 2, BWV 1004)

    FELIX MENDELSSOHN: Sinfonia n. 4 in la maggiore Op. 90 „Italiana“

    Das Konzert in Ferrara, auf das ich mich wirklich freute, fand dann am Dienstagabend im grossen Saal des Theaters statt, das als Mehrspartenhaus (Oper und Ballet, Sprechtheater, Konzert) geführt wird. Die Programmierung zumindest der Konzerte läuft über Ferrara Musica, gegründet von Abbado und bietet 2022/23 u.a. Konzerte mit dem Mahler Chamber Orchestra, dem Orchestra Mozart unter Daniele Gatti (höre ich voraussichtlich im April in Lugano zum ersten Mal), dem Rai Orchester unter Fabio Luisi, dem Chamber Orchestra of Europe unter Pappano mit Janine Jansen, dazu Rezitale von Bavouzet und Pletnev usw. – ein überaus ansprechendes Programm für so eine Kleinstadt, das wohl mit dem von grösseren Orten in der Emilia Romanga (inkl. Bologna) gut mithalten kann. Das Orchester aus Bologna war es dann, dass ich hören konnte, geleitet von der 1978 in Brody in der heutigen Ukraine. Sie dirigierte 2021 zum ersten Mal in Bologna und ist seit Januar 2022 die Chefdirigentin des Orchesters, das in der Oper zu Einsatz kommt, aber auch eine eigene Konzertsaison bestreitet (beides hörte ich je einmal, im Konzert im Juni 2019 mit dem Vorgänger Hirofumi Yoshida am Pult und Louis Lortié am Klavier, und letzten Juni in einer begeisternden Aufführung von Verdis Otello). Lyniv ist die erste Frau, die einen solchen Posten in Italien inne hat – und sie wusste absolut zu überzeugen.

    Das Konzert in Ferrara öffnete mit der Uraufführung (ich glaube, das Orchester tourte ein paar Tage damit, genau genommen war’s wohl nicht mehr ganz die Uraufführung – in Bologna selbst war das Programm jedenfalls am 8. Februar zu hören) einer Passacaglia des 1958 in Moskau geborenen Vladimir Genin, der in Deutschland lebt. Zum Stück zitiert ihn das Programmheft: „il mood di quest’opera è profondamente connesso all’orrore e alla tristezza che hanno fatto da sfondo costante alla mia vita e al mio lavoro dall’inizio dell’aggressione russa in Ucraina“. Er hatte nach Kriegsbeginn 2014/15 schon eine „Trenodia per le vittime in Ucraina“ komponiert – aber mir war der Name bisher noch nicht begegnet. Das Stück spielte mit leisen jazzigen Anklängen (dass er von „mood“ spricht, passt dazu), „yellow-blue“ sind nicht nur die Farben der Flagge der Ukraine, „blue“ ist eben auch ein Adjektiv, das im Jazz schon lange eine Bedeutung hat (natürlich nah an „Blues“). Die Strenge der Form hörte ich nur teils heraus, aber das Stück gefiel.

    Danach folgte Stefan Milenkovichs Auftritt mit dem Violinkonzert von Tschaikowski (ich hab oben mal die italienische Schreibweise aus dem Programmheft übernommen). Er kam 1977 in Belgrad zur Welt und lebt inzwischen auch wieder in Serbien, wo er vor kurzem den höchsten Orden erhalten hat, den das Land zu vergeben hat. Da war also ein Gemisch auf der Bühne, das geopolitisch ordentlich Sprengstoff bot – wobei Tschaikowski canceln ja eh totaler Unsinn ist und Milenkovich sich vor seinen zwei Zugaben in fliessendem Italienisch ans Publikum wandte (er meinte u.a., er werde in der Pause mit uns den Affen machen für all die Insta-Fotos, die die Leute mit ihm machen wollen – er hat in Bologna gelehrt oder tut das immer noch). Die Musik stand über all diesen möglichen Brüchen und kittete, was da hätte aufbrechen können. Das Konzert Tschaikowskis ist keins meiner liebsten, aber in der zugleich zurückhaltenden, oft fast kammermusikalisch klingenden, andererseits aber auch die Rhythmen sehr betonenden, darin fast etwas hemdsärmlig wirkenden Sichtweise von Milenkovich/Lyniv fand ich das sehr hörenswert. Schmelz war drin, aber wohldosiert und nur da, wo es ihn wirklich leiden mochte, mit dem Glanz verhielt es sich ähnlich. Das überzeugte mich von beiden Seiten – Solist und Orchester – völlig. Der Applaus war riesig (es gab schon nach dem ersten Satz welchen) und Milenkovich spielte als erste Zugabe ein Stück von Fritz Kreisler, den er als Komponist für sträflich unterschätzt zu halten scheint (so weit ich seiner launigen Ansage folgen konnte), und dann als zweites noch die „Allemande“ aus Bachs zweiter Partita – letztere für meinen Geschmack wohl etwas zu romantisch geraten.

    Nach der Pause folgte dann die „Italienische“ von Mendelssohn – und auch die begeisterte mich sehr. Auf den Punkt, schlank und mit Zug, erneut mit einer starken Betonung der rhythmischen Ebene. Ich dachte an ein paar Konzerte von anderen „kleineren“ Orchestern, die mich in letztere Zeit sehr überzeugten (z.B. das Luzerner Sinfonieorchester mit der „Pathétique“ von Tschaikowski letzten Sommer) – und darin reiht sich dieses Konzert vermutlich auch ein: wenn alles passt, kann eben auch so ein Orchester, das nicht in der obersten Liga mitspielt, über sich hinauswachsen und vollkommen überzeugende Musik darbieten. Das tat das bologneser Orchester jetzt schon zum dritten Mal in meiner Anwesenheit, ich were also auch künftig, wenn es denn passt, gerne wieder vorbei schauen!

    Zürich, Tonhalle – 10.2.

    Tonhalle-Orchester Zürich
    Franz Welser-Möst
    Leitung

    FRANZ SCHUBERT: Sinfonie Nr. 2 B-Dur D 125

    RICHARD STRAUSS: „Sinfonia domestica“ für grosses Orchester op. 53

    Nach einem langen Tag auf Zügen kam ich rechtzeitig (aber nicht mit der geplanten Verbindung) heim, damit es noch für eine Dusche und das Auspacken des Koffers reichte, bevor ich wieder los musste, ins Konzert des Tonhalle-Orchesters, für das ich bei einer Verlosung (nach einer Umfrage glaub ich) zwei Karten geschenkt erhielt. Das war insofern gut, als dass es sich dabei um ein Konzert handelte, das ich nicht in mein Wahlabo aufgenommen hatte – und es entpuppte sich dennoch als sehr hörenswert. Schubert hörte ich neulich bereits mit Blomstedt in der Tonhalle (Nr. 4) – jetzt also erneut eine frühe Symphonie mit Welser-Möst, den ich besonders von einer umwerfenden Bruckner 7 in der Tonhalle-Maag erinnerlich habe. Vermutlich ist das Autosuggestion, aber mir kam es am Freitagabend tatsächlich vor, als hätte er aus Cleveland etwas von der fabelhaften Präzision mitgebracht. Diese, gepaart mit der Klangschönheit des Saales und dem wunderbar farbenreichen Spiel des Orchesters – besonders bei Strauss – ergaben jedenfalls eine überzeugende Kombination. Das Stück von Strauss – im Programmheft ein wenig als Gegenpol zur „metaphysischen“ Orchestermusik des Zeitgenossen Mahler dargestellt – war für mich der eigentlich attraktive Programmpunkt (Schubert mag ich in schmaleren Besetzungen lieber, da ist das Kammerorchester Basel mit Holliger für mich momentan eine der attraktivsten Optionen). Ich habe das Stück bewusst oder aufmerksam noch gar nie gehört, und eine bessere Einführung als mit Welser-Möst kann ich mir kaum vorstellen. Dass Strauss einen Tag (und eine Nacht) im Leben seiner Familie darstellt – eine Personenvorstellung zum Einstieg, danach u.a. „kindliche Spiele“, ein „Wiegenlied“, eine „Liebesszene“, Babygeschrei, den Schlag der Uhr etc. – und dass dies doch ordentlich trivial ist, spielt keine so grosse Rolle, denn die Orchestrierung ist wie zu erwarten war äusserst gekonnt, der Reichtum an Klängen, die zahlreichen kürzeren solistischen Einwürfe (Violine, Cello, diverse Blasinstrumente) sorgen für viel Abwechslung.

    Interessant jedenfalls, in so kurzen Abständen die „Metamorphosen“ (grossartig), „Tod und Verklärung“ (nun ja, eher zweifelhaft?) und jetzt auch noch die „Sinfonia domestica“ im Konzert hören zu können. Bisher zog es mich ja vor allem zu den Opern, und das wird wohl auch so bleiben … dennoch ist das alles hörenswerte Musik!

    Zürich, Opernhaus – 12.2. – Rachmaninow-Zyklus (I)

    Philharmonia Zürich
    Chor der Oper Zürich
    (Einstudierung: Janko Kastelic)
    Gianandrea Noseda Leitung
    Yefim Bronfman Klavier
    Elena Stikhina Sopran
    Sergey Skorokhodov Tenor
    Alexey Markov Bariton

    SERGEI RACHMANINOW:
    Klavierkonzert Nr. 3 d-Moll op. 30

    Die Glocken op. 35 – Sinfonisches Poem nach einem Gedicht von Edgar Allan Poe

    Heute Morgen dann im Opernhaus der Auftakt zum Rachmaninow-Zyklus (was jetzt, „v“, Doppel-„f“ und jetzt auch noch „w“?), den die beiden grossen Orchester und ihre Chefdirigenten, das Tonhalle-Orchester mit Paavo Järvi und die Philharmonia Zürich, das Orchester der Oper mit Gianandrea Noseda dieses Jahr gemeinsam durchführen. Vier Konzerte sind geplant, aufgeführt werden dabei die drei Symphonien, die Vokalsymphonie „Die Glocken“, die Klavierkonzerte 2-4 sowie die „Rhapsodie über ein Thema von Paganini“ (mit Yefim Bronfman, Yuja Wang und zweimal Francesco Piemontesi).

    Für das zweite Konzert (PC 2 und Nr. 3) habe ich wegen Terminkollisionen (am ersten Abend bin ich in Basel beim Abokonzert, am zweiten bei Joyce DiDonato in Winterthur) keine Karte – überlege aber nach dem heute Gehörten, am Tag des Winterthurer-Konzerts über Mittag im Lunchkonzert in der Tonhalle wenigstens die dritte Symphonie hören zu gehen (und mir den Tag oder mindestens den Nachmittag gleich frei zu nehmen, sonst schaffe ich das nicht bzw. sonst bringt es mir nicht viel – das zweite Klavierkonzert mit Yang verpasse ich so oder so). Im Herbst folgen dann die zwei letzten Konzerte, beide mit Piemontesi: PC 4 und Nr. 1 in der Tonhalle mit Noseda bzw. „Paganini“ und Nr. 2 mit Järvi im Opernhaus – die tauschen da also auch mal noch die Orchester, das möchte ich dann schon gerne hören!

    Heute Morgen also im praktisch ausverkauften Opernhaus Yefim Bronfman am Flügel mit „Rach 3“, dem berüchtigten Virtuosenstück, das eben doch viel mehr ist als nur das. Eine grossartige Aufführung, für die es (wie schon für Welser-Möst in der Tonhalle) eine halbe Standing Ovation gab. Das war wirklich umwerfend, wirkte nie massig und auch selten gar zu tastenlöwig. Der setzte sich einfach hin und spielte das, als gäbe es nichts leichteres – bloss kein Aufheben, bloss keine Aufregung. Und falls es eine Rolle spielt: Bronfman kam in Taschkent zur Welt, seine wichtigen Ausbildungs-Stationen sind Tel Aviv und danach in den USA die Juilliard School, die Marlboro Music School und das Curtis Institute – mit Lehrern wie Firkusný, Fleisher und Serkin. Seine internationale Karriere begann 1978 mit dem Debut bei der New York Philharmonic unter Zubin Mehta. Bei Rachmaninov wird 2023 das 150. Geburts- und das 80. Todesjahr begangen – es mag unpopulär sein, derzeit Russen zu spielen … aber eigentlich sollte man eher den Grossgrundbesitzer als den russischen Exilanten und Lebemann canceln, nicht?

    „Die Glocken“ fand ich nach der Pause (und einer Zugabe, die ich leider nicht erkannt habe) enorm faszinierend. Vier Sätze, drei davon mit einem Gesangssolisten bzw. im zweiten Satz einer Solistin (im dritten kommt nur der Chor zum Einsatz). Als er das Stück komponierte, scheint er es als seine dritte Symphonie betrachtet zu haben, so gesehen ist die Aufnahme in den Konzertzyklus sicher sinnvoll (warum das erste Klavierkonzert fehlt, weiss ich nicht – bzw. es bräuchte dafür halt ein fünftes Konzert, aber das geht dann mit Philharmonia/Noseda, TOZ/Järvi, Philharmonia/Järvi und TOZ/Noseda nicht mehr auf – trotzdem schade). Und den Chor der Oper mal im Konzert zu hören, ist auch toll. In der Tonhalle kommt sonst in der Regel die Züricher Sing-Akademie zum Einsatz, die ich ebenfalls sehr schätze, der Opernchor hat nicht oft die Gelegenheit zu solchen Auftritten. Ich kann über dieses seltsame, fremde Werk eigentlich nur Äusserlichkeiten erzählen: nach einer freien Übersetzung eines Poe-Gedichts, das Rachmaninov zugesandt wurde (die Absenderin konnte gemäss Wiki erst nach seinem Tod eruiert werden, eine Cello-Studentin am Moskauer Konservatorium. Im Werk taucht immer wie das gregorianische „Dies irae“ auf – überhaupt wirkt das Stück oft recht streng, gar nicht weit von geistlicher Chormusik entfernt, dünkte mich. Auch hier ist die Orchestrierung (auf dem Foto oben sind noch um die 15 Plätze leer, die Holzbläser sind bei den Glocken vierfach besetzt, sechs Hörner, je drei Trompeten und Posaunen, eine Tuba, zwei Harfen, Klavier und Celesta, dazu sechs Leute, um das ganze Schlagwerk zu bedienen, das zum Einsatz kommt).

    Das einzige, was mich ein wenig überraschte, war die Akustik: mich dünkte, die Mischung aus Chor, Solist*innen und Orchester gelang nicht immer perfekt – bzw. das Haus ist für solche Musik, die auch heftige Impulse beinhaltet, Rhythmus-Attacken, Fortissimo-Passagen des Chores usw., vielleicht dann doch eine Spur zu klein. In der Tonhalle hätte das weit hinten im Saal oder auf der Galerie vermutlich ausgewogener klingen können. Beim Konzert mit Stenz neulich gab es dieses Problem nicht, Solist war da ja ein Bratschist, Stimmen gab es keine und die Musik von Strauss und Mahler, so intensiv sie auch wird, schlägt gewissermassen nicht so unvermittelt aus wie „The Bells“ immer wieder.

    Interessant fand ich es gerade auch, die Dirigierstile von drei operngeschulten Dirigenten zu vergleichen. Welser-Möst wie Stenz im klassischen Pinguin-Outfit (ich verstehe das nicht mehr … die Philharmonia trägt Anzug, die Tonhalle immer noch Frack, mir ist Anzug viel sympathischer, noch lieber eine simple „all black“-Regelung auch für Männer unter Erlass des Krawatten- bwz. Fliegenobligatoriums, bei allen Geigern und Bratschisten werden die Fliegen eh unansehnlich am Hals rumgedrückt beim Spielen, die Bläser lockern eh alle den Knopf, um nicht in Atemnot zu geraten – und dann ständig dieses Gefrickel mit den Frackzipfeln beim Absitzen … einfach weg damit bitte!) und teils mit ähnlich ausladender Gestik (ich hatte ein paar Male etwas Angst um den Stimmführer der Cellist*innen, da bestand erhebliche Aufspiessgefahr). Noseda hingegen verzichtete heute auf die grossen Gesten, dirigierte schlanker, weniger theatralisch (eher so in Richtung von Rattle vielleicht?). Am Ende geht es ja nicht darum, wie das aussieht oder wirkt, sondern um das Resultat – und das gab ihnen allen recht, auch der nochmal ganz anders agierenden Lyniv, die stellenweise recht ruppig Tempo und Einsätze zu geben schien, dann aber wieder fast auf dem Podium tänzelte (was wiederum eher Järvis Richtung ist, dünkt mich, also kleine Gestik – wie bei Noseda – und tänzeln, nicht die Ruppigkeit), darin viel dynamischer wirkte als die drei Herren. Leider habe ich die letzte Aufführung mit Noseda aus dem Parkett hören müssen (der zweite Teil des „Rings“), ich bin jedenfalls gespannt auf „Siegfried“ in einem guten Monat, wenn ich wieder weit oben sitze und so halb in den Graben werde blicken können – mal schauen, ob Noseda dann zu grösserer Gestik greift, damit auch alle auf der Bühne mitkriegen, was läuft, oder ob er auch im Graben so einen „kleinen“ unaufgeregten Dirigierstil pflegt.

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    soulpope
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    @ „gypsy“ : Dank für die scheenen Besprechungen …. btw das Rachmaninov Konzert hätt ich gerne gehört 🤓 ….

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