Konzertimpressionen und -rezensionen

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    gypsy-tail-wind
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    soulpope@ „gypsy“ : Dank für die scheenen Besprechungen …. btw das Rachmaninov Konzert hätt ich gerne gehört 🤓 ….

    Das war richtig gut! Ich wüsste ja gerne, was die Zugabe war (ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das Stück kannte – aber halt nicht er-). „Die Glocken“ hatte ich noch gar nie gehört … und das ist ja auch schön, so innert Tagen zwei Erstbegegnungen im Konzert erleben zu können (die „Sinfonia domestica“ und eben „Die Glocken“) – schon etwas ganz anderes, als daheim ab Konserve.

    Was ich übrigens überhaupt nicht verstehe ist, warum es so verbreitet ist, Welser-Möst (der Übername „worse the most“ zirkuliert anscheinend auch noch) schlecht zu finden. Ich habe keine Erinnerung daran, wie er in seiner Zeit als GMD an der Oper hier war (1995-2002 – in den Zeitraum, so 1996-99, fallen meine damaligen Schüler-Abos, da hörte ich bestimmt einige Aufführungen mit ihm, aber ich kann mich da halt nicht mehr erinnern, hatte auch nur punktuell Zugang zum Gehörten und ging eigentlich v.a. mit dem Ziel der Horizonterweiterung, was dann erst mittelfristig klappte ;-) ). Inzwischen über 20 Jahre in Cleveland sprechen ja auch für sich, und eben: die Präzision, die man dort seit Szell gewohnt ist, die bringt er auch in Zürich mit, wenn er das Tonhalle-Orchester leitet. Bei mir hat er (nach dem Bruckner-Auftritt – übrigens die Achte, nicht die Siebte, wie ich oben schrieb) zusätzlich gepunktet, weil er sich damals als Ex-Wahlzürcher in die Debatte um den – leider gescheiterten – Erhalt der Tonhalle-Maag als Konzertsaal einschaltete und diese in höchsten Tönen lobte (was ich ja auch tat ;-) )

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
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    #11993959  | PERMALINK

    soulpope
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    gypsy-tail-wind Was ich übrigens überhaupt nicht verstehe ist, warum es so verbreitet ist, Welser-Möst (der Übername „worse the most“  zirkuliert anscheinend auch noch) schlecht zu finden. Ich habe keine Erinnerung daran, wie er in seiner Zeit als GMD an der Oper hier war (1995-2002 – in den Zeitraum, so 1996-99, fallen meine damaligen Schüler-Abos, da hörte ich bestimmt einige Aufführungen mit ihm, aber ich kann mich da halt nicht mehr erinnern, hatte auch nur punktuell Zugang zum Gehörten und ging eigentlich v.a. mit dem Ziel der Horizonterweiterung, was dann erst mittelfristig klappte ). Inzwischen über 20 Jahre in Cleveland sprechen ja auch für sich, und eben: die Präzision, die man dort seit Szell gewohnt ist, die bringt er auch in Zürich mit, wenn er das Tonhalle-Orchester leitet. Bei mir hat er (nach dem Bruckner-Auftritt – übrigens die Achte, nicht die Siebte, wie ich oben schrieb) zusätzlich gepunktet, weil er sich damals als Ex-Wahlzürcher in die Debatte um den – leider gescheiterten – Erhalt der Tonhalle-Maag als Konzertsaal einschaltete und diese in höchsten Tönen lobte (was ich ja auch tat )

    Der Mann ist halt ein eitler Gockel mit einem übermässig stilisierten Ego …. wird er jedoch an diesem selbstgeschaffenen Anspruch gemessen wirkt er er eher ziemlich …. gewöhnlich (siehe rezent das – falls man diese Vernastaltung mag – Neujahrskonzert 2023)  ….

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      "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
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    gypsy-tail-wind
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    Okay, das habe ich tatsächlich nicht mitgekriegt … bei den in den letzten Jahren erlebten Auftritten bewegte sich das im ganz normalen Rahmen. Neujahrskonzert brauch ich nicht … ein paar von Kleiber und wie ich gestern beim Raussuchen der alten Wiener „Sinfonia domestica“ sah eins mit Boskowsky sind da, das reicht dann wohl auch :-)

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    #11994077  | PERMALINK

    soulpope
    "Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"

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    Beiträge: 56,402

    gypsy-tail-windOkay, das habe ich tatsächlich nicht mitgekriegt … bei den in den letzten Jahren erlebten Auftritten bewegte sich das im ganz normalen Rahmen ….

    Frage : Bis Sie 18 Jahre waren, träumten Sie davon, als Geiger Mitglied der Wiener Philharmoniker zu werden. Nun sind Sie ein weltberühmter Dirigent. Was ist passiert?

    Franz Welser-Möst : Ein Autounfall am 19. September 1978 an einem eiskalten Sonntag. Wir saßen zu sechst in einem Mercedes, kamen aus Großraming in Oberösterreich, wo ich bei der Schubert G-Dur-Messe engagiert wurde, um dort Geige zu spielen, und waren auf dem Weg nach Steyr, denn dort sollte ich abends folgend beim Forellenquintett spielen, das Schubert in Steyr komponiert hatte. So haben wir uns als junge Burschen neben der Schule ein bissl Geld verdient. Der Fahrer, ein Freund, hatte gerade seinen Führerschein gemacht. Genau um 15 Uhr ist der Mercedes auf einer Brücke ins Schleudern gekommen, der Freund ist auf die Bremse getreten, das war unser Unglück. Nach der Brücke hat sich das Auto mehrfach überschlagen, die Mutter des Fahrers, die hinten neben mir saß, ist gestorben.

    Das „Opfer“ von Hrn. Welser-Möst war, dass er nicht tot oder lebenslang im Rollsthul war, sondern nicht mehr Geige spielen konnte … es gab schon Erlebnisse im Leben dieses Menschen, welche tiefere Einsichten bzw einen dankbare(re)n Blick auf sein Leben rechtfertigen würden …. aber schwierig halt ….

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      "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
    #11994497  | PERMALINK

    yaiza

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    @ gypsy: vielen Dank auch von mir für die Berichte.

    gypsy-tail-wind  … Heute Morgen also im praktisch ausverkauften Opernhaus Yefim Bronfman am Flügel mit „Rach 3“, dem berüchtigten Virtuosenstück, das eben doch viel mehr ist als nur das. Eine grossartige Aufführung, für die es (wie schon für Welser-Möst in der Tonhalle) eine halbe Standing Ovation gab. Das war wirklich umwerfend, wirkte nie massig und auch selten gar zu tastenlöwig. Der setzte sich einfach hin und spielte das, als gäbe es nichts leichteres – bloss kein Aufheben, bloss keine Aufregung. Und falls es eine Rolle spielt: Bronfman kam in Taschkent zur Welt, seine wichtigen Ausbildungs-Stationen sind Tel Aviv und danach in den USA die Juilliard School, die Marlboro Music School und das Curtis Institute – mit Lehrern wie Firkusný, Fleisher und Serkin. Seine internationale Karriere begann 1978 mit dem Debut bei der New York Philharmonic unter Zubin Mehta.

    Ich war letztes Jahr (im Juli) bei einem Solo-Recital von Yefim Bronfman im Pierre Boulez Saal. Er spielte von Bartók die Suite für Klavier sowie die Sonate, von Beethoven die „Appassionata“ und von Chopin die h-Moll Sonate op.58. So wie Du schriebst: ohne viel Aufhebens, keine „Show während oder nach der Show“. In dieser Spielzeit ist er beim RSB/Jurowski mit dem Klavierkonzert von Jelena Firssowa vorgesehen. Darauf freue ich mich schon.

    Um mehr zu ihm zu erfahren, sah ich mir über’s Digital-Angebot der Bibliothek ein paar Konzertmitschnitte an. Ich erinnere auch ein Interview, in welchem er zu seinen Anfängen in den USA erzählte. Ich habe mir gerade nochmal den Anfang angeschaut. Er kam 1976 mit 19 Jahren zum Marlboro Festival, das R. Serkin leitete. Serkin half ihm bei der Bewerbung am Curtis Institute, gab ihm 6 Monate Unterricht und schenkte ihm ein Yamaha, das Bronfman immer noch hat. Er erzählte das sehr bescheiden. Als er dann auf die Zeit in Vermont zu sprechen kam, lächelte er oft vor sich her. Serkin schlug Bronfman vor, ihm nach Vermont zu folgen, was er 1977 auch tat. Er verbrachte 1 Jahr dort und sah Serkin nur 4x, dafür aber jede Menge Schnee. Wie er das so erzählt: da war nix los, er hatte noch keinen Führerschein, um mal woandershin zu fahren und war ständig am Schneeschippen ;)

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    #11994633  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Sehr schön, danke @yaiza! Ich kannte von Bronfman noch gar nichts, nur den Namen.

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #12009059  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Basel, Stadtcasino – 18.02.2023 – „Say Mozart“

    Kammerorchester Basel
    Baptiste Lopez
    , Violine und Leitung
    Fazıl Say, Klavier

    WOLFGANG AMADEUS MOAZRT: Sinfonie Nr. 25 in g-Moll KV 183
    FAZIL SAY: Yürüyen Köşk «Das verschobene Haus» für Klavier und Streichorchester Op. 72a

    MOZART: Sinfonie Nr. 24 in B-Dur KV 182
    DMITRI SCHOSTAKOWITSCH: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 in F-Dur Op. 102

    So, mal wieder Zeit für ein paar Zeilen, zumal ich grad zwei wunderbare Abende hinter mir habe und es am Montag mit dem Oliver Schnyder Trio weitergeht (parallel dazu verpasse ich schon wieder Dave Holland, und eine Lesung bei privat gäbe es an dem Abend auch noch – aber Schnyder hab ich halt im Abo und freue mich auf gute Kammermusik, kriege ich nicht so oft zu hören).

    Der Abend mit Fazil Say in Basel war schon Ende Jahr ausverkauft, glaub ich – und natürlich hat er im Gespräch vor dem Konzert gesagt, er habe überlegt, angesichts des Erdbebens die Tour abzusagen. Und dann gemerkt: das ist, was er tut, und er tut es auch jetzt – und er tut es trotz allem gerne und mit grossem Engagement, wie mich dünkte. Die Mozart-Symphonien leitete Baptiste Lopez, einer der Konzertmeister des KOB, vom ersten Pult aus, die beiden Klavierkonzerte dann Say vom Flügel.

    Die erste Konzerthälfte fand ich etwas weniger gut, die fast halbstündige Symphonie Nr. 25 KV 183 von Mozart zog sich für meine Ohren ziemlich in die Länge – ein Problem, das ich mit manchen frühen und mittleren Symphonien Mozarts habe (auch neulich mit dem Zürcher Kammerorchester, aber auch schon mit dem KOB unter Umberto Benedetti Michelangeli in einem Mozart-Programm mit Regula Mühlemann, und damals waren es immerhin Nr. 34 und Nr. 36 – die Kombi höre ich im April wieder, aber dann gibt es zwischen den Mozart-Arien Ravel und Fauré). Says Konzert handelt vom Haus, das Atatürk verschieben liess, um einen alten Baum nicht fällen zu müssen, ist die Bearbeitung eines Klavierquintetts. Es bezieht passend zum Thema Vogelstimmen mit ein, die von den Streichern beigetragen werden (es gibt daneben auch noch eine Fassung für Klavier solo, ob die bei Schott erwähnte mit „Kammerorchester“ nochmal eine andere ist – also inkl. Bläser – weiss ich nicht, aber es würde erklären, dass im Programmheft des KOB zwar im Überblick „für Klavier und Streichorchester“ steht, aber im Textteil bei der Besetzung steht: „2 Flöten, 2 Oboen, 2 Fagotte, 2 Hörner, Streicher“). Das war auf jeden Fall ein schönes, abwechslungsreiches Stück, recht dunkel in den Texturen, mit starken Rhythmen, die mit der Zeit ans Monotone grenzten, klang auch mal etwas jazzig, dann wieder tänzerisch und verspielt.

    Nach der Pause dann eine kürzere und für meine Ohren viel beschwingtere Symphonie von Mozart, die mir sehr gut gefiel – und dann das Highlight: das einfach zu spielende aber sehr effektvolle Hasardeurenstück von Schostakowitsch, sein zweites, 1957 komponiertes Klavierkonzert, dem wie Florian Hauser im Programmheft anmerkt im Gegensatz zu Op. 103, der elften Symphonie, die Schatten fehlen: „ganz diesseitig ist es, überschäumend, wie eine ferne Erinnerung an den hoffnungsvollen, hochbegabten, vor Energie vibrierenden Jungkomponisten, der Schostakowitsch war, bevor die Angst kam.“ Nach leichten Anfängen, in denen er als Pianist wie als Komponist Erfolge feiert, Musik schreibt, die nur so von Einfällen strotzt, kommt der Bruch: Stalin besucht eine Aufführung der schon seit Wochen erfolgreichen „Lady Macbeth von Mzensk“, ist empört, lässt die Oper in der Prawda als „linke Zügellosigkeit anstelle einer natürlichen menschlichen Musik“ anprangern. Und damit beginnt das Katz-und-Maus-Spiel Schostakowitschs, der weiterhin als Staatskomponist hofiert wird, aber auch damit rechnen muss, vom KGB abgeholt zu werden. 1948 erscheint sein Namen – neben Chatschaturjan und Prokofjew – auf einer schwarzen Liste. Und Schostakowitsch reagierte so, dass er sagte, er wisse, dass die Partei recht habe, es gut mit ihm meine, dass es seine Aufgabe sei, Wege zu finden zum „sozialistischen, realistischen und volksnahen Schaffen […] Ich bin ein sowjetischer Künstler und ich bin in der Sowjetunion aufgewachsen. Ich sollte und ich will einen Weg zum Herzen des Volkes finden.“ – Ein Dilemma für den Patrioten, den er eben auch war. Er komponierte fortan auch für die Schublade, schrieb Werke, an deren Aufführung nicht zu denken war – und starb wohl als gebrochener Mensch. 1957 war es noch nicht so weit, Stalin war tot, sein Sohn Maxim ist 19 und soll mit dem zweiten Klavierkonzert sein Debut geben. Das Werk ist dreisätzig, hält sich an die üblichen Regeln, wie ein Konzert halt auszusehen hat – und ist dennoch ganz anders. Hauser:

    Alles ist irgendwie richtig und doch falsch. Könnte es ein Scherz sein? Natürlich. Eine Liebeserklärung, voller Stolz, an seinen neunzehnjährigen Sohn Maxim? Natürlich. Mit diesem 2. Satz in seiner grenzenlosen Melancholie, die sich bis an die Kitschgrenze in jenseitige Welten träumt. Könnt das Werk mit einer Art barocken Attitüde daherkommen? Natürlich. Der Solist setzt als „Erster unter Gleichen“ dem Orchester rhythmisch und thematisch nicht viel entgegen, sondern unterstützt vielmehr: als würde das Klavier das Orchester dirigieren. Er tritt als vor-klassischer Kapellmeister auf, der eben an seinem Tasteninstrument sitzt. Zudem spielt er praktisch ohne Pause – auch das eine Reminiszenz an das barocke Prinzip des Generalbasses, also die ständige Begleitung des Tasteninstruments in einem Ensemble. Dazu kommt eine grosse Klarheit des Soloparts, der technisch ganz und gar nicht herausfordert, fast lakonisch ist und am Anfang und Ende sogar sowjetische Pionierlieder zitiert, nach denen kommunistische Kinder- und Jugendorganisationen zu Trommeln und Hörnern marschieren. Auch das ist paradox: Die Pioniere der Vergangenheit marschieren im Rahmen eines barocken Instrumentalkonzerts. Und alles zusammen? Typisch für den rätselhaften Schostakowitsch, der immer den hintergründigen Witz und die Groteske geliebt hatte, die ihm oft ein Ventil war, ein Fluchtmittel, um den Angriffen der KPdSU zu entgehen. Was ist ironisch gemeint, was nicht?

    Das Konzert erfüllt, nein, übererfüllt die ständig wiederholten Forderungen an sowjetische Komponisten nach Erbauung, nach Fasslichkeit, nach positivem Lebensgefühl. Gleichzeitig schreibt Schostakowitsch: „Nichts von nennenswertem künstlerischen Wert“ habe das Konzert. Das ist nicht anderes als meisterhaft versteckte Kritik am System. Freundliche Parodie, kindliche Einfachheit, sprühender Witz, Wehmut, wirbelndes Feuer – die „frühere Seite“ Schostakowitschs scheint hier durch, eine Erinnerung an die Zeit dreissig Jahre früher – unter einem dicken Panzer der Ironie, der Unverbindlichkeit, des schützenden Lächelns.

    Die Lesart von Say und dem KOB war fulminant, witzig, das Stück wurde ausgekostet – ein grosses Vergnügen. Say spielte dann allein noch eine kurze Zugabe, in der er auch ins Innere des Flügels griff, um gewisse Töne zu dämpfen. Alles in allem ein stimmiges Konzert, das etwas langfädig anfing (wobei ich mich immer Frage, ob das auch an mir liegt, nach einem langen – zwar lohnarbeitsfreien aber dennoch geschäftigen Tag – reinzufinden in die Musik; das ist ja nicht wie ein Schalter, den man umlegen kann … die einstündige Anfahrt nach Basel schafft aber jeweils den nötigen Abstand, der mir bei den 5-10 Minuten mit dem Fahrrad in die Oper oder die Tonhalle manchmal etwas fehlt).

    Zürich, Tonhalle – 03.03.2023

    Tonhalle-Orchester Zürich
    Kent Nagano
    , Leitung
    Andreas Berger, Benjamin Forster, Christian Hartmann, Klaus Schwärzler Perkussion

    JOHANN SEBASTIAN BACH: Aus «Die Kunst der Fuge» BWV 1080 (Bearbeitung für Orchester von Ichiro Nodaira)
    TOSHIO HOSOKAWA: Intermezzo für vier Perkussionisten aus der Oper «Stilles Meer»
    ANTON BRUCKNER: Sinfonie Nr. 9 d-Moll

    Nachdem das Rezital von Pollini leider abgesagt wurde (er hätte am Sonntag 26.2. Schönberg, Nono und Chopin spielen sollen), ging es dann letzten Freitag wieder in die Tonhalle zum Orchesterkonzert, bei dem sich nach Blomstedt letzten Juni erneut ein Gast in dem Territorium breitmachte, das das Orchester gerade mit seinem Chefdirigenten Paavo Järvi beackert: Bruckner. Doch von vorn: das Konzert war ohne Pause angelegt, das vierminütige Schlagzeugintermezzo folgte direkt auf den Bach, es gab also bis zur kurzen Pause, in der die zweite Hälfte des Orchesters für Bruckner hereinkam, keinen Unterbruch – und die Dramaturgie funktionierte hervorragend.

    Drei der Sätze aus Bachs „Kunst der Fuge“ in einer Bearbeitung von Ichiro Nodaira machten den Einstieg. War die Besetzung im Contrapunctus I noch konventionell (Flöte/Altflöte, Oboe, Fagott, Horn und ein dicker Streichersatz in Besetzung 6-6-6-6 ohne Bässe), so stiessen für den folgenden Contrapunctus XV nicht nur zwei Schlagzeuger sondern auch noch eine Harfe und eine Celesta dazu, die Streicher wurden auf 3-3-6-6 reduziert, die Bläser pausierten. Noch bunter wurde die Klangkulisse im abschliessenden Contrapunctus VIII: Oboe, Flöte, Klarinette und Fagott jetzt alle im Doppelpack (jeweils 2. auch Altflöte, Englischhorn, Bassklarinette und Kontrafagott), je ein Horn, eine Trompete und eine Posaune, dazu ein Altsaxophon und wieder die Streicher (vermutlich alle vier mal sechs, steht im Programm nichts und sehen konnte ich das nicht von meinem seitlichen Platz). Das ging also in einer Manier los, wie man sie von alten Aufnahmen aus den Sechzigern durchaus kennt, wurde mit dem kombinierten Glockenklang von Harfe und Celesta, danach den tiefen Tönen von Bassklarinette und Kontrafagott und dem Saxophon irgendwie immer bunter und filmischer (ich dachte irgendwie an Visconit, an Varda, aber auch Kinskis Fratze in einer dieser alten Edwar-Wallace-Verfilmungen schien mir nicht weit). Dann – Nagano hielt die Arme oben, eine Cellistin schlich raus, die zwei noch fehlenden Schlagzeuger kamen herein – ging es mit Hosokawa weiter, einem kurzen Schlagzeugstück aus der Oper „Stilles Meer“, gewidmet den Opfern des Tsunami und der nachfolgenden Nuklearkatastrophe vom 3. November 2011. Die Oper war ein Auftragswerk der Staatsoper Hamburg und basiert auf einer Bearbeitung des Nô-Stückes „Sumidagawa“, das schon Benjamin Britten in „Curlew River“ verwendet hatte. Hosokawa: „Meine Musik entsteht in tiefem Einklang mit der Natur und soll dazu anregen, einmal mehr zu reflektieren, dass die Menschheit die elementare Kraft der Natur gleichermassen respektiert wie fürchtet, und wie sie beim Versuch, die Natur zu kontrollieren und zu dominieren, diese letztendlich zerstört“ (aus dem Programmheft, für das er den Text zu seinem Stück selbst verfasste und dabei recht weit ausholt). Das Stück war prägnant, mit immer wieder neu gesetzten Hauptrhythmen und sich dazwischen, darüber, drumherum einschiebenden Ergänzungen an unterschiedlichen grossen und kleinen Trommeln, was immer wieder zu interessanten polyrhythmischen Effekten führte – für meine Ohren sehr ansprechend, sehr greifbar, fast konkret.

    Auf das Hustkonzert des Publikums, das bei Hosokawa die wichtigste Nebenrolle spielte (und vermutlich nicht meiner Meinung war) und leider den ganzen Abend über nicht abriss, folgte dann das Hauptereignis, die letzte Symphonie Bruckners bzw. die drei halt vollendeten Sätze – eine stringente, sehr stimmige Lesart, die mich nicht ganz so mitnahm wie die bisher letzte Aufführung in der Tonhalle (Haitink im Dezember 2016, klick) – aber dennoch: ein Wahnsinnswerk, dessen Lesart als Musik der letzten Dinge ich durchaus nachvollziehen kann. Ein ständiger Widerstreit von Elementen, Melodien, Kürzeln, Fetzen, Rhythmen – Dissonanzen, die immer wieder durch das Gebilde fegen, dann wieder eine künstliche Walzerseligkeit, Anmutungen von Ländlern, Melodien voller Sonnenschein, denen aber bereits wieder der Schatten des aufziehenden Wetterumbruches innewohnt – Bergstimmungen, gewissermassen, was bei grumpy Tony ja auch nie weit hergeholt ist.

    Naganos sehr präzises Dirigat überzeugte mich – er kam auch ganz ohne die grossen Gesten aus, die ich bei Konzerten in den letzten Wochen/Monaten manchmal etwas pompös empfand (siehe oben, obwohl ich ja die Konzerte mit Stenz und Welser-Möst beide hervorragend fand) – er schien oft aus dem Handgelenk zu dirigieren, was auch die grösseren Armbewegungen wieder in die kleine Geste zurückleitete, eben: in die Präzision. Auch wenn mich das Bach-Arrangement nicht wirklich überzeugte: in der Gesamtdramaturgie ein absolut stimmiger Abend.

    Und mit dieser Auffrischung bin ich natürlich jetzt gespannt darauf, wie das Werk unter Järvi klingen wird – wobei die Bruckner-Konzerte erst nächste Saison weitergehen und mir die Details noch nicht bekannt sind … im August wird Blomstedt in Luzern Nr. 7 dirigieren, da möchte ich auch wieder dabei sein).

    04.03.2023 – Zürich, Opernhaus

    Roberto Devereux
    Tragedia lirica in drei Akten von Gaetano Donizetti (1797-1848), Libretto von Salvatore Cammarano

    Musikalische Leitung Enrique Mazzola
    Inszenierung David Alden
    Bühnenbild und Kostüme Gideon Davey
    Lichtgestaltung Elfried Roller
    Choreografische Mitarbeit Arturo Gama
    Choreinstudierung Janko Kastelic
    Dramaturgie Kathrin Brunner

    Elisabetta I. Inga Kalna
    Duca di Nottingham Konstantin Shushakov
    Sara Anna Goryachova
    Roberto Devereux Stephen Costello
    Lord Cecil Andrew Owens
    Sir Gualtiero Raleigh Brent Michael Smith
    Page Aksel Daveyan
    Vertrauter Nottinghams Gregory Feldmann
    Henker Francesco Guglielmino

    Philharmonia Zürich
    Chor der Oper Zürich
    Statistenverein am Opernhaus Zürich

    Gestern ging es dann die Oper – unter mässig glücklichen Begleitumständen: Einerseits ist samstags oft viel laberndes Publikum im Saal, andererseits fand dieses Wochenende an der Fassade ein „Ring“-Lichtspektakel statt, das mit so lauter Musik einherging, dass man davon leider im Saal nicht nur bei den ganz ruhigen Passagen immer wieder ordentlich was mitkriegte (nicht zuletzt immer wieder wummernde Bässe). Und dann fand ich auch noch die Inszenierung dysfunktional – ohne dass ich bisher darauf gekommen wäre, woran das liegt.

    Doch zum Guten: ich kannte diese letzte Oper von Donizettis Tudor-Trilogie noch gar nicht – und musste nach den grandiosen Aufführungen von Maria Stuarda (Frühling 2018) und Anna Bolena (Herbst 2021) natürlich auch diesen dritten Teil sehen. Wie ich nachgelesen habe, ist das in Zürich wohl ein besonders delikates Unterfangen, denn die Hauptrolle der älteren Elisabetta gehörte hier der überaus beliebten Edita Gruberová. Nach allem, was ich gelesen habe, hat Inga Kalna sie aber ganz anders gedeutet – und das war überaus stimmig, und obendrein hervorragend gesungen. Gestern war Dernière und zum Schlussapplaus erhielt sie von allen Solist*innen, vom Chor und auch von Mazzola einen Strauss Rosen. Eine schöne Geste für ein starkes Rollendebüt. Rollendebüts hatten alledrigns ausser Stephen Costello in der Titelrolle alle wichtigen Sänger*innen gestern: der glänzende Konstantin Shushakov, die Sara von Anna Goryachova (eine wundervolle Stimme!) und auch Owens und Smith in ihren kleineren Rollen.

    Enrique Mazzola hatte ich schon als Straussübergeben erwähnt – er spielte im Graben allerdings auch eine Hauptrolle für den musikalisch wunderbaren Abend: auch sein Dirigat ist sehr präzise, er verzichtet selbst im Orchestergraben fast komplett auf ausladende Gesten, die ganzen Dramatisierungen mit Agogik à la Callas gibt es bei ihm nicht: alles dient der Musik, und dabei hält er sich an die Urtext-Ausgaben der jüngeren Zeit, guckt auch mal in die Manuskripte, wenn er sich über etwas wundert (hier konkret über mehr als dreissig „accelerandi“, die damals – in Donizettis Zeit wurde üblicherweise nicht mit Dirigent aufgeführt, die Sänger*innen mussten die Tempi so steuern, dass es zu keinen Konflikten mit dem Orchester kam). Musikalisch ist das ein äusserst dichtes Werk, atypisch in vielerlei Hinsicht, mit haufenweise musikalischen Wendungen und Überraschungen – und überhaupt voller grossartiger Ideen und Melodien (auch wenn es schon mal heisst, „Roberto Devereux“ sei die „Lucia“ ohne Melodien).

    Das Ensemble und das Orchester fügten sich rein musikalisch zu einem wunderbaren Ganzen: Kalnas Sopran eher herb, keineswegs leichtfüssig virtuos (und darin wohl ganz anders als Gruberová in der Rolle?) und die dunkle, warme Stimme von Goryachova, der exzellente, in Zürich immer wieder überzeugende Shushakov – sie alle drei gefielen mir hervorragend. Costellos Tenor war vielleicht da und dort eine Spur zu heroisch – und hatte noch mehr al Goryachova und Shushakov das Problem, dass die Regie mit seiner Figur nichts unternehmen mochte – oder wie Christian Wildhagen es in der NZZ vom 7. Februar formuliert hat: „Stattdessen entsteht da genau jenes Phänomen, das Belcanto-Opern lange in Verruf gebracht hat: Mit erheblichem vokalem Aufwand und beeindruckendem technischen Können beschwört da ein Sänger Gefühle, die man auf der Bühne jedoch weder spürt noch sieht.“

    Die Bühne war allerdings klasse. Ein leerer Marmorraum, in den immer wieder eine grosse, anscheinend enorm schwere halbrunde Marmormauer gefahren wurde (sieben oder sogar acht Bühnenarbeiter waren nötig, und es musste schon mal in letzter Sekunde ein Stuhl gerettet werden, den wer vom Chor wegzutragen vergass). Dadurch konnten mit einfachsten Mitteln sehr effektiv und schnell Innen- und Aussenräume abgetrennt werden. Dazu kamen sehr schöne Effekte durch das Licht, das die Schattenrisse der Figuren auf dem Marmor schon mal übers Kreuz darstellte, andersrum als die Figuren auf der Bühne standen. Das durch und durch bigotte Volk wurde vom Chor ebenfalls hervorragend dargestellt – alles super eigentlich. Nur eben: irgendwie sprang da überhaupt kein Funke, mich berührte zwar die Musik sehr – aber was da an Theater geschah, liess mich leider vollkommen kalt. Die Figuren blieben ausser Elisabetta selbst völlig platt, ihre Gefühlsregungen funktionierten mit geschlossenen Augen besser als mit Blick auf die Bühne – doch wie gesagt: die war immerhin sehr schön anzuschauen.

    Folgefrage: kennt irgendwer eine lohnenswerte Einspielung der Oper? Sills auf Westminster/DG gab es auf CD wieder, das wird wohl die offensichtliche sein? Wäre vermutlich noch aufzutreiben. Aktuell gibt es drei Einspielungen jüngeren Datums: Die Live-Aufnahme auf Dynamic scheint unter zahlreich auftretendem Zwischenapplaus zu leiden; was ich über die Opera Rara-Ausgabe lese, macht ebenfalls nur mässig Lust; die beste Wahl (neben Sills) wäre dann wohl die auf Naxos erschienene Einspielung?

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    soulpope
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    @ „gypsy“ : Dank für die interessanten Rezensionen 🤓 ….

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    gypsy-tail-wind
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    soulpope@ „gypsy“ : Dank für die interessanten Rezensionen 🤓 ….

    Merci fürs Lesen – hast Du zu „Roberto Devereux“ ev. eine klare Empfehlung?

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    soulpope
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    gypsy-tail-wind

    soulpope@ „gypsy“ : Dank für die interessanten Rezensionen 🤓 ….

    Merci fürs Lesen – hast Du zu „Roberto Devereux“ ev. eine klare Empfehlung?

    Leider nein 🤔 …..

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      "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
    #12009103  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Würde natürlich sofort die von Mazzola kaufen – ganz generell für Belcanto-Repertoire. Aber da scheint es eigentlich nur DVDs zu geben.

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #12010207  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    gypsy-tail-wind
    Zürich, Tonhalle – 03.03.2023

    Tonhalle-Orchester Zürich
    Kent Nagano
    , Leitung
    Andreas Berger, Benjamin Forster, Christian Hartmann, Klaus Schwärzler Perkussion

    JOHANN SEBASTIAN BACH: Aus «Die Kunst der Fuge» BWV 1080 (Bearbeitung für Orchester von Ichiro Nodaira)
    TOSHIO HOSOKAWA: Intermezzo für vier Perkussionisten aus der Oper «Stilles Meer»
    ANTON BRUCKNER: Sinfonie Nr. 9 d-Moll

    Christian Wildhagen dazu in der gestrigen NZZ (eine Doppel-Rezension mit einem Konzert unter Omer Meir Wellber, der in Hamurg 2025 Nagano ablösen soll, wenn ich das richtig verstanden habe – „hier“ Wellber, „dort“ Nagano):

    … dort der dreissig Jahre ältere, vollkommen in sich ruhende und doch auf magische Weise präsente Nagano. Das ist ein Gegensatz der Generationen, der Persönlichkeiten und der Musizierhaltungen, wie man ihn selten so ausgeprägt erlebt – und auch hört. Während bei Wellber immer ein Wollen und Drängen spürbar wird, mit dem er seine gestalterischen Vorstellungen dem Orchester nahebringt, scheint Nagano die Musik von einer höhere Warte aus zu lenken und sich frei, ohne jeden Druck, entwickeln zu lassen.

    Das bekommt vor allem Anton Bruckners 9. Sinfonie sehr gut, die im zweiten Teil des Zürcher Konzerts erklingt. Nagano weiss um die riesigen Steigerungswellen und Bögen in diesem rund einstündigen Torso; er gestaltet sie mit überlegener Weitsicht, exemplarisch etwa die Kulmination des Kopfsatzes, die hier eine geradezu apokalyptische Wirkung entfaltet. Bezeichnenderweise bleibt der Gesamtklang aber immer gerundet – er „sticht“ nicht, wie manchmal bei Zürich Musikdirektor Paavo Järvi, der in seinem parallel entstehenden Bruckner-Zyklus ein ums andere Mal die akustischen Grenzen der Tonhalle auslotet.

    Womöglich hängt das mit Naganos organisch fliessender Schlagtechnik zusammen. Sie zwingt die Musiker, sich subtil abzustimmen und einander genau zuzuhören. Es kommt dabei durchaus zu unscharfen Einsätzen, aber sie wirken hier nicht als Fehler; vielmehr unterstreichen sie, dass die Wiedergabe von Musik ein atmender, aus dem Moment wachsender Prozess ist, nicht bloss die akkurate Umsetzung des Notentextes.

    Mit den Bach-Arrangements und ihrer Aufführung ist Wildhagen nicht zufrieden („Die Wiedergabe wirkt schulbuchmässig, an mehreren Stellen sogar unsicher und vor allem stilistisch wie aus der Zeit gefallen“), dafür war er vom Hosokawa-Intermezzo beeindruckt, mit dem „die vier Schlagzeuger des Tonhalle-Orchester den düster-fatalistischen Ton“ setzten, „der dann die gesamte Wiedergabe der Bruckner-Sinfonie prägt.“

    Passt, alles in allem – ich hatte meine Erwartungen an diese Bach-Arrangements schon im Vorfeld nahe Null eingependelt, nachdem ich im Programmheft die Angaben zu den Besetzungen gelesen hatte – und fand dann durchaus Gefallen daran, eben gerade auch im Gesamtprogramm mit Hosokawa und mit Bruckner.

    Über Wellbers Konzert steht gar nicht mehr (ich weiss nicht mal, was da gespielt wurde – entweder ist die Rezension diesbezüglich etwas verunglückt oder Wildhagen fand das Ergebnis katastrophal – was ich nicht denke angesichts der vorhandenen Worte – oder da war einfach zuwenig Platz in der einen Spalte, die solche Rezensionen meist nur noch kriegen). Eine kurze Google-Suche bringt ein Konzert von Anfang/Mitte Januar zutage, das Wildhagen aber damals schon besprochen hatte (klingt ganz gut, besonders auch, weil die für die zweite Hälfte vorgesehene Aufführung von Prokofjews Newski-Kantate durch ein interessantes Programm abgelöst wurde, das sich nicht der Heldenverklärung andiente – es gab stattdessen den Trauermarsch aus der „Eroica“, das Monodram «Der ewige Fremde» von Ella Milch-Sheriff und Leonore III – und weil der Solist im 3. Klavieronzert von Prokofjew in der ersten Hälfte zu brillieren schien: Daniel Ciobanu – den ich leider bisher gar nicht kenne). Der Bezug auf Wellber in der Nagano-Rezension ist wohl nur mit der geplanten Ablösung in Hamburg in den Text gerutscht. Bisschen seltsam.

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    #12019817  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Zürich, Tonhalle – 06.03.2023 – Neue Konzertreihe Zürich

    Oliver Schnyder Trio:
    Andreas Janke
    Violine
    Benjamin Nyffenegger Violoncello
    Oliver Schnyder Klavier

    FELIX MENDELSSOHN: Klaviertrio Nr. 2 c-Moll op. 66 MWV Q 33
    FRANZ SCHUBERT: Klaviertrio Nr. 2 Es-Dur D 929

    Ein paar Zeilen zu den letzten paar Konzerten, dessen erstes schon fast zwei Wochen zurück liegt: das Jubiläumskonzert zum zehnjährigen Bestehen des Oliver Schnyder Trios in der ausverkauften Tonhalle (es gab sogar wieder mal ein paar zusätzliche Stühle auf der Bühne, kenne ich sonst nur von den Rezitalen von Sokolov, die wohl immer ausverkauft sind).

    Kammermusik im Konzert zu hören ist ja leider eher selten bzw. ich müsste mich viel aktiver darum bemühen, anderer Veranstalter Programme, weitere Spielstätten verfolgen – was halt irgendwie nicht auch noch drin liegt bzw. auf Kosten von anderem ginge, was ich hören gehe. Umso mehr geniesse ich es, wenn ich wie hier die Gelegenheit dazu habe. Und wenn das Gebotene auch noch so gut ist: umso besser! Janke ist seit 2013 Professor an der Zürcher Hochschule der Künste und schon seit 2006 Konzertmeister des Tonhalle-Orchesters (einer von dreien, deutlich der jüngste), Benjamin Nyffenegger ist stellvertretender Solo-Cellist im Tonhalle-Orchester und wirkt u.a. auch im Julia Fischer Quartett mit. Schnyder wird im Herbst 50 und dürfte damit um die zehn Jahre älter als die anderen beiden sein. Ich habe schon seit einiger Zeit die Beethoven- und Schubert-Einspielungen des Trios hier und mag beide ziemlich gerne – sind meine „go to“-Einspielungen, wenn es einigermassen aktuell sein soll (bei Schubert neben den HIPstern von La Gaia Scienza, bei Beethoven kann vielleicht das Suk Trio aus den 80ern auch noch als modern gelten).

    Mendelssohn kannte ich von diesem Trio bisher also nicht: und das war ein energiegeladener, beinah getriebener Einstieg in den Abend. Brennend, intensiv, zupackend – vielleicht fast ein bisschen zu energiegeladen? Das Zusammenspiel war alles in allem gut, das Klavier drohte hie und da, das Cello zu „verschlucken“, aber die Verve der drei machte das Wett. Und besonders die beiden Streicher, immer wieder im Zwiegespräch, harmonierten wirklich fabelhaft.

    Nach der Pause dann Schubert – und da waren alle Probleme aus der Welt: die Energie etwas gebändigt, was eine breitere Palette ermöglichte. Und die klangliche Austarierung war nun ebenfalls nahezu perfekt (lustig, dass ich bei einem Klaviertrio den Gedanken hatte, dass mein Aboplatz in der ersten Reihe vielleicht dafür nicht optimal sei, während ich selbst mit richtig grossen Orchestern – die es in der Neuen Konzertreihe nur sehr selten gibt – gut klarkomme). Jedenfalls war das eine grossartige Aufführung vom zweiten Trio Schuberts, die Cellokantilene kantig gespielt, beide Streicher ohne Scheu davor, auch mal rauh zu klingen, die Materialität des Spiels hervorzuheben.

    Als Zugabe folgte dann ein Trio-Arrangement des „Ständchens“, in dem gleich noch einmal Nyffenegger im Zentrum stand – es aber auch ein letztes Zwiegespräch mit Janke zu hören gab. Ein gutes Konzert, das mich (Mendelssohn) nicht restlos überzeugte, das auch gerne in der ersten Hälfte noch ein weiteres, kürzeres, vielleicht halbwegs aktuelles Werk hätte umfassen dürfen.

    Basel, Theater – 12.03.2023

    Intolleranza 1960
    Szenische Handlung in zwei Teilen von Luigi Nono

    Musikalische Leitung – Stefan Klingele
    Inszenierung – Benedikt von Peter
    Choreographie – Carla vom Hoff
    Bühne – Katrin Wittig
    Kostüme – Geraldine Arnold
    Video – Bert Zander
    Lichtdesign – Susanne Reinhardt
    Sounddesign – Tamer Fahri Özgönenc
    Chorleitung – Michael Clark
    Dramaturgie – Meret Kündig

    Ein Flüchtling – Peter Tantsits
    Seine Gefährtin – Inna Fedorii
    Eine Frau – Jasmin Etezadzadeh
    Ein Algerier – Kyu Choi
    Ein Gefolterter – Artyom Wasnetsov
    Eine Stimme – Haewon Jeong
    Chor des Theater Basel
    Sinfonieorchester Basel
    Statisterie Theater Basel

    Vom Sinfonieorchester Basel hatte ich es neulich – weil es der Nachfolger des letzten Radioorchesters der Deutschschweiz ist (in der Romandie arbeitet das OSR schon lange mit dem Radio zusammen, wurde aber von Ernest Ansermet gegründet, nicht als Rundfunkorchester; im Tessin gibt es immer noch das Orchestra della Svizzera Italiana, das 1933 vom italienischen Radio der Schweiz gegründet wurde – seit 1991 als OSI unterwegs, Konzerte im einstigen Hauptspielort beim Radio gibt es jeweils im Winter noch, aber ich nehme an, das ist wie das OSR auch längst entkoppelt, kriegt allenfalls noch etwas Geld, aber sicherlich nicht in tragendem Umfang).

    In Basel, bei der Aufführung von Nonos „Intolleranza 1960“, glänzte das mehr oder minder unsichtbar bleibende Sinfonieorchester unter der Leitung von Stefan Klingele. Die Inszenierung Benedikt von Peters (der vor ein paar Jahren vom Theater Luzern ans Theater Basel wechselte) basierte auf einer Aufführung im Staatstheater Hannover 2010. So unvergesslich wie Peters Inszenierung von Nonos „Prometeo“ in Luzern (für das Stück wurde im Herbst 2016 das Theater Luzern vorübergehend umgebaut – das war total irre, leider habe ich dazu nichts geschrieben, aber hier gibt es eine Rezension vom damals schon ehemaligen Klassik-Kritiker der NZZ, die einen guten Eindruck vermittelt).

    Einlass war exakt um die Zeit, die auf den Tickets als Beginn angegeben war: bei zwei Eingängen wurde das Publikum in den Hauptteil des ansteigenden, breiten Publikumsraums gelotst, die wohl 200 Leute (?) sollen sich in den ersten paar Reihen der mit weissen Tüchern zugedeckten Stuhlreihen stellen. Aus der Ferne erklang der Chor. Dann wurden die Leute auf den quadratischen Bühnenraum gelotst, auf dem Stühle standen, Decken, Kissen herumlagen – und auch Mitglieder des Ensembles und des Chors. Eine Quadratische Fläche, auf der am Boden eingezeichnet freizulassende Bereiche markiert waren. Eng wurde es – viel zu eng eigentlich, für eine pandemische Welt, aber so ist das nun eben, und entgehen lassen wollte ich mir das Stück auf keinen Fall. Das Sinfonieorchester sass in der Unterbühne, und von der hinteren Hälfte der Bühne konnte man durch einen Gitterboden ein paar Blicke aufs Orchester erhaschen (ich sass am Boden und hatte einen guten Blick ins Cello-Register).

    Georg Rudiger in der NMZ:

    In der Oper geht es laut Komponist um die „Intoleranz und das Wachsen des Bewusstseins und des Widerstands gegen sie“. Die einzelnen Szenen nehmen Bezug auf reale Ereignisse – das Grubenunglück im belgischen Marcinelles aus dem Jahr 1956, die Friedensdemonstrationen, den Algerienkrieg, die Überschwemmungen in der Po-Ebene. Peter Tsantis ist der Emigrante, der nach der Katastrophe sein Bergwerk verlässt und in sein Heimatland zurückgeht. Seine Frau – Jasmin Etezadzadeh spielt und singt die Partie mit beängstigender Intensität – verflucht ihn dafür. Auf dem Weg nach Hause gelangt der Flüchtling mitten in eine erregte Menschenmenge, die „Nie wieder Krieg“ und „Down with discrimination“ skandiert. Der auf der ganzen Bühne verteilte Chor des Basler Theaters (Leitung: Michael Clark) trägt und führt den Abend gemeinsam mit den Statisten. In den Pausen zwischen den Szenen werden die Stehleitern verschoben und Stühle umgeräumt. Man wird berührt, geleitet und platziert. Der expressive Chorgesang, der beim Chor der Gefolterten auch zum erschütternden Schrei werden kann, verwandelt Nonos komplexe Musik in verdichtete Emotion. Es lässt einen nicht kalt, wenn direkt vor den Füßen Artyom Wasnetsov als blutverschmierter Gefolterter liegt und sich mit seinem mächtigen Bass vom Leben verabschiedet oder wenn Kyu Choi (Ein Algerier) mit durchdringender Tenorstimme in unmittelbarer Nähe Ungerechtigkeiten anklagt. Es entsteht Empathie mit den Figuren. Musiktheater als gemeinschaftsstiftende Erfahrung.

    https://www.nmz.de/online/zeuge-von-ungerechtigkeit-und-gewalt-luigi-nonos-intolleranza-1960-am-theater-basel

    Die Enge, die unmittelbare Nähe, erzeugte in der Tat einen starken Effekt. In einer Passage, in der die Mitglieder des Chores verstreut im Publikum in verschiedenen Sprachen einen Satz aufsagten (ein Zitat, von wem weiss ich nicht, da ist ja von Majakowskji, Sartre, Éluard oder Brecht, um nur ein paar zu nennen, einiges drin) bückte sich eine Sängerin des Chors vor mir nieder und blickte mir direkt in die Augen. In der Mitte wurden Decken und mehr Kissen verteilt, die meisten Leute legten sich hin (in meiner Ecke war es dafür zu eng), am Ende wurde das Publikum vom Chor nach vorn gedrängt, mit einem dicken Seil wurde sichergestellt, dass niemand ausscherte, dann wurden die Leute an den Schultern gedreht, Blick gegen die Hinterwand der Bühne, wo sich ein Wasserfall ergoss – die Flut, die am Ende der Oper über der Welt niedergeht, alles fortreisst. Dann wurde das Publikum hinausgelotst, setzte sich in die nun nicht mehr bedeckten ersten paar Reihen – während die Bühne schloss (der eiserne Vorhang, meint Rudiger?) und auf die Wand Brechts „An die Nachgeborenen“ projiziert wurde, das dann aus dem Off vorgelesen wurde:

    Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
    In der wir untergegangen sind
    Gedenkt
    Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
    Auch der finsteren Zeit
    Der ihr entronnen seid.

    Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
    Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
    Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.

    Dabei wissen wir ja:
    Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
    Verzerrt die Züge.
    Auch der Zorn über das Unrecht
    Macht die Stimme heiser. Ach, wir
    Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
    Konnten selber nicht freundlich sein.

    Ihr aber, wenn es soweit sein wird
    Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
    Gedenkt unsrer
    Mit Nachsicht.

    Das funktionierte am Ende hervorragend. Die anfangs für mich nahezu klaustrophobische Situation auf der Bühne auszuhalten war der Preis, der dafür entrichtet werden musste. Phasenweise war mir das aber gar zu plakativ – wenn im gutbürgerlichen Stadttheater revolutionäre Phrasen (auch hole, von längst entzauberten Vorbildern) gerufen werden, kommt das Konzept halt an seine Grenzen.

    Auch blieb die Musik, das Werk oft undurchdringlich – darauf war ich allerdings eingestimmt. Ich vernahm Fetzen, Fragmente, doch erlebte eben auch, wie diese zusammenfanden, wie die Solist*innen (die manchmal auf Leitern standen, die sie zuklappten, über den Köpfen der am Boden sitzenden und liegenden Zuschauer*innen herumtrugen und anderswo wieder aufstellten, hie und da kam auch ein Mikrophon zum Einsatz) über den Köpfen der Menschen miteinander kommunizierten, wie der Chor aus allen Ecken flüsterte, sprach, zischte und sang. Und darunter das Orchester, oft akzentuiert, ja scharf, das das Geschehen präzise vorantreibt (es gab ein paar Bildschirme, damit die Sänger*innen den Dirigenten sehen konnten – die gibt’s in der Oper ja eh immer, einfach sieht man die sonst höchstens, wenn man seitlich weit vorn sitzt).

    Ein eindrückliches Erlebnis war das, gar keine Frage – aber kein verzauberndes, das Gehör und das Gehirn völlig neu justierendes wie das Flüstertheater des „Prometeo“. Aber mehr in die Richtung als Al gran sole carico d’amore, das ich im Herbst 2019 (Inszenierung von Sebastian Baumgarten – ich glaub ab 2020/21 kam dann Peter nach Basel, der Nono war jedenfalls noch, bevor er Intendant wurde). Jedenfalls ein grosses Glück, alle drei dieser schwer fassbaren Werke einmal live gehört haben zu dürfen.

    Zürich, Opernhaus – 18.03.2023

    Siegfried
    Zweiter Tag des Bühnenfestspiels «Der Ring des Nibelungen» von Richard Wagner (1813-1883), Libretto vom Komponisten

    Musikalische Leitung Gianandrea Noseda
    Inszenierung Andreas Homoki
    Ausstattung Christian Schmidt
    Künstlerische Mitarbeit Bühnenbild Florian Schaaf
    Lichtgestaltung Franck Evin
    Video Tieni Burkhalter
    Dramaturgie Werner Hintze, Beate Breidenbach

    Siegfried Klaus Florian Vogt
    Mime Wolfgang Ablinger-Sperrhacke
    Der Wanderer Tomasz Konieczny
    Alberich Christopher Purves
    Fafner David Leigh
    Erda Anna Danik
    Brünnhilde Camilla Nylund
    Das Waldvöglein Rebeca Olvera

    Philharmonia Zürich

    Gestern dann der dritte Teil des neuen Zürcher „Rings“ – und das war musikalisch erstklassig, funktionierte auch von der Inszenierung her ziemlich gut. Nichtsdestotrotz haute die Wagner-Ambivalenz wieder voll rein. Aber von Vorn: die Bühne ist inzwischen bekannt: eine Drehbühne mit vier Räumen, bei denen manchmal eine Zwischenwand ausgebaut wird, um einen „doppelten Raum zu gestalten. Die Räumlichkeiten: das Innere Walhall. In „Rheingold“ und „Die Walküre“ noch strahlend weiss, in „Siegfried“ – Wotan wandert grimmig durch die Welt, die nicht mehr die seine ist – sind sie schwarz von Russ, der Glanz längst verschwunden. Mime, der als Schmid am Versuch scheitert, das Schwert von Siegmund wieder herzurichten, hat sich mit seinem Pflegesohn Siegfried darin eingenistet. Das Regiekonzept funktioniert wieder so tadellos wie im „Rheingold“ (in der „Walküre“ wirkte manches etwas weniger schlüssig) und am Ende – wenn Wagners unsägliches Bekenntnis zur Reinheit, die die Körperlichkeit halt ausschliesst, endlich vorbei ist … musikalisch faszinierend, als Theater vollkommen deppert – hüpft der naive „Held“ mit der Frau, die ihn doch noch das Fürchten gelehrt hat, ins Bett: das Bett, auf dem im „Rheingold“ die Rheinmädchen herumhüpften, als noch alles möglich schien, auch eine Wende ins Gute.

    Im Scherzo der Tetralogie, der Komödie „Siegfried“, ist zwar vieles humoristisch (und die üble Judenkarikatur des Mime kann man sich so ganz gäbig, wie wir sagen, aus dem Gedächtnis reden – Ablinger-Sperrhacke fand ich in der Rolle allerdings hervorragend). Tomasz Konieczny gab dem Wotan auch als rastloser Wanderer (die deutsche Eiche auf Beinen ist notabene nicht zu verwechseln mit der Figur des Ahasver) ordentlich Würde – ob er die verdient oder nicht, wäre eine andere Frage. Der tumbe Titelheld wirkt die meiste Zeit wie ferngesteuert, hat aber ein paar glückliche Einfälle (vor allem den, wie er das blöde Schwert wieder hinkriegt, mit dem er dann zuerst den Wurm/Drachen/Fafner tötet und danach den ersten Fernbedienungshalter, Mime) und torkelt irgendwie durch die Welt. Danach übernimmt Das Waldvöglein – vom Ensemblemitglied Rebeca Olvera leicht gesungen und gespielt – die Steuerung, um den tumben Tor die Erotik entdecken zu lassen, die dann schnell in ein rohes körperliches Begehren kippt.

    Der eigentliche Star sass auch dieses Mal im vollbesetzten Graben: die Philharmonia Zürich, die unter Gianandrea Noseda zwar gewaltige Klangwellen erzeugen kann – manchmal dabei die Sänger auch etwas zudeckt (die Sängerinnen nicht, aber die sind ja eh sehr viel weniger präsent). Die meiste Zeit ist der Klang des Orchesters schlank, durchhörbar transparent, und dabei von enormem Farbenreichtum, im Pianissimo wie auch dann, wenn der Saal an seine Grenzen kommt (irgendwo las ich, die Zürcher Oper sei für Wagner eigentlich eh zu klein?) bzw. bis an die Grenzen ausgelotet wird. Nachdem ich coronabedingt bei der „Walküre“ einen raren Restplatz im Parkett ergattern musste, sass ich für „Siegfried“ wieder ganz oben im zweiten Rang, wo der Klang viel besser in seiner Gesamtheit zu erfahren ist.

    Im Magazin des Opernhaus (aktuelle Ausgabe Nr. 99) gibt es auch ein Interview mit Jens Malte Fischer zu Wagners Antisemitismus – das ich in der zweiten, überlangen Pause (30 Minuten nach dem ersten, 40 nach dem zweiten Akt) gelesen habe (das Heft ist online hier nachlesbar; die Interviews mit Homoki und Noseda haben’s ins Programmheft geschafft – wie üblich – , nicht aber das mit Fischer, dort ist allerdings zum Thema ein Aufsatz von Hans-Rudolf Vaget zu finden, den ich noch lesen muss). Das ist schon ziemlich erhellend und gehört halt einfach mit dazu, wenn man sich mit Wagner beschäftigt – die Augen verschliessen oder weggucken ist sicher nicht die bessere Strategie. Im Mime ist davon so viel gelandet, dass das auch heute noch recht deutlich wird, etwa wenn Siegfried über ihn, zu ihm sagt: „Seh‘ ich dir erst mit den Augen zu, zu übel erkenn‘ ich, was alles du tust: Seh‘ ich dich stehn, gangeln und gehn, knicken und nicken, mit den Augen zwicken, beim Genick möcht‘ ich den Nicker packen, den Garaus geben dem garst’gen Zwicker!“

    Aber wie gesagt: gesungen war der Mime sehr gut. Alles in den Schatten stellte allerdings der Siegfried von Klaus-Florian Vogt. Ein besseres Rollendebüt ist schwer vorstellbar. Leicht und wendig wirkt er, nur die ersten paar Minuten noch nicht warm genug, um sich gegen das Orchester und Mime zu behaupten. Doch nach ein paar Minuten glänzt Vogt, singt den Part auch in der Höhe und über die ganzen viereinhalb Stunden (reine Spielzeit) mit einer beeindruckenden Leichtigkeit. Camilla Nylund singt die Brünnhilde ja ebenfalls zum ersten Mal, aber sie war in der „Walküre“ bereits zu hören und wusste zu überzeugen. Olvera war das einzige weitere Rollendebüt im „Siegfried“, und sie ebenso wie die weiteren kleineren Rollen – Alberich, Fafner, Erda – passten sehr gut ins Ganze.

    In meiner Wagner-Achterbahnfahrt bin ich aber nach dem dritten Akt von „Siegfried“ wieder mal ziemlich weit draussen, höre das ungute Murmeln, das Manipulative des Theaterkönners. Teil 4 folgt im Herbst – und ich gehe natürlich wieder hin (das neue Saisonprogramm wurde gerade veröffentlicht, aber ich fand gestern nach der Aufführung kein Exemplar mehr zum mitnehmen und ich blicke das immer gerne erstmal auf Papier durch). Für Mai 2024 sind auch zwei Gesamtaufführungen des Zyklus geplant (jeweils mit einem Tag Pause dazwischen), aber da werde ich definitiv passen.

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    soulpope
    "Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"

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    @ „gypsy“ : Dank für die aufwendigen Erlebnisberichte ….

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    #12024825  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Zürich, Kleine Tonhalle – 26.03.2023 – Literatur und Musik

    Sabine Poyé Morel Flöte, Altflöte
    Sarah Verrue Harfe
    Hendrik Heilmann Klavier
    Klaus Schwärzler Perkussion

    Sebastian Rudolph Lesung

    Stefan Zweifel Einführung

    TOSHIO HOSOKAWA (*1955)
    «Kuroda-bushi» für Altflöte
    «Two Japanese Folk Songs» für Harfe
    «Haiku für Pierre Boulez» für Klavier
    «Sen VI» für Perkussion
    «Sakura» für Marimbaphon
    Lied für Flöte und Klavier

    NICOLAS BOUVIER Auszüge aus «Japanische Chronik»

    „Literatur und Musik“ heisst die Reihe, die das Tonhalle Orchester zusammen mit dem Literaturhaus Zürich veranstaltet. Ich glaube, ich war erst bei einem Konzert und das war nicht so richtig gut. Bei Autor*innenlesungen bin ich eh zurückhaltend, weil ich diesbezüglich auch schon Enttäuschendes erlebt habe. Lesen bleibt für mich eine Beschäftigung, die nur in der Einsamkeit richtig funktioniert.

    Heute passte allerdings wirklich alles. Stefan Zweifel schlurfte um viertel nach Elf auf die Bühne, eine fast leergetrunkene Flasche Cola Light in der einen Hand, vier Bücher in der anderen. Diese legte er vor sich am Boden nebeneinander hin, schien sie aber nur als Gedächtnisstütze zu brauchen, wenn überhaupt. Er berichtete über den Werdegang von Bouvier, wie dieser nach dem Zweiten Weltkrieg der Enge Genfs entfloh, mit einem Fiat Topolino nach Ceylon reiste (mehr dazu z.B. hier), dort am Tiefpunkt ankam und schliesslich in Japan vielleicht eine Art Rettung, Heilung fand. Zweifels Vortrag wurde zu einer Performance, getaktet, mit Verdichtungen und Entspannungen und so mitreissend, dass der Saal am Ende an seinen Lippen hing. Der Applaus dauerte so lange, dass die vier Musiker*innen des Orchesters und Sebastian Rudolph in den Saal traten und ihn erst dadurch beendeten, dass sie mit dem eigentlichen Konzertprogramm begannen.

    Die Musik war auf die Passagen aus der „Japanischen Chronik“ abgestimmt, die Rudolph las (ich vermute mal, dass Zweifel da auch die Finger im Spiel hatte). Ein Stück für Solo-Altflöte machte den Auftakt, in dem Töne, melodiöse Linien, die zu weiten Teilen unseren Klangvorstellungen bestens entsprachen, mit der Zeit immer stärker durch absinkende oder ansteigende Töne ergänzt wurden. Ein ruhiger, sehr schöner Einstieg. Als nächstes folgte das erste der beiden „Japanese Folk Songs“ für Harfe. Auch da ein ähnlicher Beginn, schönklingend, wohlklingend, harmonisiert – doch dann ein Bruch, fein den Saiten entlanggefahren, Wind, der durch Hütten und schmale Gassen zieht, dann eine Verdichtung zum Windspiel mit immer schnelleren Arpeggi. Danach war das Klavier an der Reihe: Attacke. Zunächst nichts als Attacken, einzelne Akkorde, gehämmert. Pause. Dann allmählich auch Verbindungen zwischen den Akkorden, eine Art Entwicklung – aber natürlich ins Nichts. Die Gegenständlichkeit, fast Greifbarkeit von Hosokawas abstrakter Musik fasziniert mich inzwischen wirklich sehr. Dass er auf der Suche nach den Klängen der Natur ist, Brücken schlagen will zu einer Sphäre, deren er uns – nicht zu unrecht, denke ich – entfremdet empfindet, leuchtet mir beim Hören jedenfalls sehr ein. Auch der Gedanke, dass in seiner Musik ein Ton nicht erst in der Konkretisierung (Umsetzung) entsteht, sondern dass die Bewegung, die zum Ton hin führt, ebenso dazugehört. Oder wie Hosokawa es laut Programmheft von einem Zen-Meister hörte: „Der kalligraphische Vorgang bildet eine Kreisbewegung. Die auf dem Papier sichtbare Linie ist nur ein Teil der Bewegung, der unsichtbare Teil der Bewegung über dem Papier gehört auch dazu und ist eine Andeutung der unsichtbaren Welt.“ (Das passt auch zu dem, was Hosokawa beim Gesprächskonzert letzten Herbst erzählte – das war am Tag, bevor Corona mit flach legte.)

    Bouvier beschreibt den Trommler – im Kostüm eines Dämonen – im No-Theater, der sich mit unglaublicher Anstrengung und Anspannung auf seinen Schlag vorbereitet, bis die Hand träge auf die Trommel niedersinkt – und sie manchmal gar nicht schlägt. Diese Geste meinte man dann in „Sen VI“ zu erkennen – wobei nicht klar war, ob der erste Teil (danach las Rudolph weiter) nur ein kleines verdeutlichendes Beispiel war, das noch gar nicht von Hosokawa komponiert war, wie das im Anschluss folgende Stück, bei dem zwei Congas, zwei kleine Trommeln sowas wie ein Bongo), eine grosse Trommel und eine kleine Glocke zum Einsatz kamen. Auch das wieder faszinierend und ein Anknüpfungspunkt an das Trommelintermezzo neulich beim Orchesterkonzert mit Nagano (siehe oben, 3.3.2023). Danach folgte ein Solo für Marimbaphon, das wieder mit dem Nichts spielte: der ewige Kreislauf, die Vorstellung aus dem Shintoismus, dass der Mensch ein Teil der Natur sei und wie alles wieder in den Naturkreislauf zurückkehre – auch das ein Konzept, das man in Hosokawas Musik immer wieder zu finden glaubt. Klänge, die ganz allmählich aus dem Nichts entstehen, sich erst allmählich eine Weg durch den Geräuschpegel im Saal (in der Welt) zu bahnen vermögen, ein Auf- und Abschwellen und am Ende ein Verklingen im Verschwinden. An zweitletzter Stelle folgte dann das auf dem Programmzettel zuerst erwähnte Lied für Flöte und Klavier, das einzige Stück, bei dem mehr als Instrument zu Einsatz kam (jetzt eine normale Querflöte in C) – dazu passte die vorgängig gelesene Szene, in der Bouvier als Fremder und Fremdkörper ein zweitägiges Dorffest beobachtet, bei dem im Rausch auch die Dinge gesagt werden können, die sonst im straff hierarchisch organisierten Alltag verborgen bleiben müssen. Dabei spielte die Flöte vom Nachmittag bis weit nach Mitternacht eine Melodie aus wenigen Tönen, Musiker wechselten sich ab, doch die Melodie blieb. So einfach war Hosokawas Stück nicht, aber der Gedanke von Bouvier, nach Stunden des Hörens in der Melodie daheim zu sein, ja geradezu nach ihr süchtig zu werden, prägte sich ein. Zum Ausklang dann das zweite Harfen-Stück, kurz, warm und voll, mit einer Melodie und Begleitakkorden, die mich ein wenig an die Musik von Luiz Bonfá und Antonio Carlos Jobim für den Film „Orfeu negro“ erinnerten.

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