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Basel, Stadtcasino – 20.12.2022 – „Magnificat“
Sunhae Im Sopran
Coline Dutilleul Mezzosopran
Carlo Vistoli Altus
Fabian Strotmann Tenor
Yannick Debus Bass
Zürcher Sing-Akademie (Einstudierung: Michael Gläser)
Kammerorchester Basel
René Jacobs Leitung
Domenico Scarlatti Salve Regina für Mezzosopran, Streicher und Continuo
Johann Sebastian Bach Kantate BWV 147 «Herz und Mund und Tat und Leben»
—
Johann Sebastian Bach Magnificat in D-Dur BWV 243
Jahresendspurt … das Weihnachtskonzert in Basel war wieder ausverkauft. Und am Ende hat es sich sehr gelohnt. Los ging es mit Coline Dutilleul als Solistin in Scarlattis Salve Regina. Wunderbar gesungen mit warmer Stimme – aber manchmal vom Orchester etwas zu sehr zugedeckt, fand ich. Vielleicht war der Raum für diese Musik zu grosse? In der Bach-Kantate – mit den vier anderen Solist*innen – verhielt sich das ähnlich: es wurde wunderbar musiziert und gesungen, aber das Gleichgewicht zwischen Solistenquartett, Chor und Orchester schien irgendwie nicht ganz zu stimmen. In der Pause war ich daher ein klein wenig enttäuscht oder eher: irritiert.
Doch dann kam alles anders. Für das Magnificat gesellten die fünf Solist*innen sich zum Chor und kamen für ihre Auftritte jeweils nach vorn. Und nun stimmte alles, die Austarierung des Klangs war perfekt, die Musik – die ist ja bekannt – grossartig. Die Aufführung konnte für meine Ohren mit meinen liebsten Aufnahmen mithalten (wenn ich eine nennen muss, ist es die von Pierlot mit dem Ricercar Consort; die von Herreweghe 1990 habe ich gerade nicht mehr im Ohr).
PS: Der Bass-Solist, Yannick Debus, ist derselbe, den ich neulich in der Titelrolle von Rihms Lenz gesehen und gehört habe.
Theater Basel – 28.12.2022
Der wunderbare Mandarin / Herzog Blaubarts Burg
Pantomime und Oper von Béla Bartók (1881-1945)
Prolog aus „Herzog Blaubarts Burg“
„Der wunderbare Mandarin“. Tanzpantomime (Libretto: Menyhért Lengyel)
„Auferstehung“ (Tanzerzählung von Christof Loy; Musik: 1. Satz aus „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“)
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„Herzog Blaubarts Burg“. Oper in einem Akt (Libretto: Béla Balázs)
„Der wunderbare Mandarin“:
Der Mandarin – Gorka Culebras
Das Mädchen – Carla Pérez Mora
Die drei Strolche – Joni Österlund, Nicky van Cleef, Jaroslaw Kruczek
Die beiden Freier – Nicolas Franciscus, Mário Branco
„Auferstehung“:
Gorka Culebras, Carla Pérez Mora
„Herzog Blaubarts Burg“:
Blaubart – Christof Fischesser
Judith – Evelyn Herlitzius
Prolog – Nicolas Franciscus
Sinfonieorchester Basel
Chor des Theater Basel
Musikalische Leitung – Ivor Bolton
Inszenierung und Choreographie – Christof Loy
Bühne – Márton Ágh
Kostüme – Barbara Drosihn
Lichtdesign – Tamás Bányai
Chorleitung – Michael Clark
Dramaturgie – Niels Nuijten
Musikalische Assistenz/Nachdirigat – Roderick Shaw
Dann zwei letzte Termine zwischen der bouffe und dem Jahreswechsel – und beide davon umwerfend gut! Ivor Bolton und das Basler Sinfonieorchester übernahmen die heimliche Hauptrolle des Bartók-Abends im Theater Basel, in dem der „Mandarin“ mit dem „Blaubart“ kombiniert wurde. Der Prolog wurde beiden Hälften vorangstellt, als Coda zum „Mandarin“ erklang noch der Anfang der „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“ – und allein der Musik wegen hätte sich der Besuch schon gelohnt. Die beiden Hauptwerke des Abends hatte ich zuvor noch gar nicht gekannt und war von beiden schwer beeindruckt. Die Choreographie der Gewalt im ersten Teil und die stille, unsichtbare und deshalb eher noch heftigere Gewalt des „Blaubart“ ergänzten sich kongenial. Die Bühne kehrte am Ende des Blaubart zurück zu den Anfängen mit dem stilisierten Walt (der davor von einer stilisierten Burg verdeckt wurde).
Den Tanz mag ich nicht beurteilen – ich hatte ehrlich gesagt etwas Mühe, die drei Strolche und die beiden Freier auseinanderzuhalte. Wenigstens einer der fünf Tänzer schien in beiden „Gruppen“ mitzutanzen. Vielleicht war ich aber auch einfach zu sehr von der wahnsinnig tollen Musik absorbiert. Im zweiten Teil prägten dann zwei hervorragende Stimmen das Geschehen, Herlitzius so gut wie erhofft. Ich hatte die zwei vor ein paar Jahren schon zusammen in Strauss‘ „Elektra“ gehört – einer von Herlitzius‘ Paraderollen. Auch im „Blaubart“ passten die Stimmen hervorragend zusammen. Und die Musik ist ja von einer Kraft und vor allem einem Farbenreichtum, wie ich sie noch fast nie erlebt habe. Sehr, sehr eindrücklich. Kontinuität wurde neben der Bühne auch durch die Kostüme erzeugt. Und die Telefonkabine, die im ersten Teil noch steht und von Pérez Mora auch tänzerisch genutzt wird, ist im Innern der Burg als aus dem Boden ragende Ruine auch im zweiten Teil dabei (ich tippe mal darauf, dass das in Basel unweigerlich als Reminiszenz an die Telefonkabinen auf dem direkt nebenan gelegenen Barfüsserplatz gelesen wird – oder wie man in Basel sagt: Delifoonkabine, die vor ein paar Jahren ausrangiert wurde, nachdem sie in der Vor-Handy-Zeit eine zentrale Lokalität im Stadtleben war).
Hier gibt es eine schöne (auch bebilderte) Rezension vom SWR, die das alles viel besser in Worte fasst, als dass ich es gerade könnte:
https://www.swr.de/swr2/buehne/gelungene-verschmelzung-von-bela-bartoks-werken-am-theater-basel-100.html
Zürich, Opernhaus – 30.12.2022
Eliogabalo
Dramma per musica in drei Akten von Francesco Cavalli (1602-1676), Libretto: Aurelio Aureli
Musikalische Leitung Dmitry Sinkovsky
Inszenierung Calixto Bieito
Bühnenbild Anna-Sofia Kirsch, Calixto Bieito
Kostüme Ingo Krügler
Lichtgestaltung Franck Evin
Video Adria Bieito Camì
Dramaturgie Beate Breidenbach
Eliogabalo Yuriy Mynenko
Anicia Eritea Siobhan Stagg
Giuliano Gordio Beth Taylor
Flavia Gemmira Anna El-Khashem
Alessandro Cesare David Hansen
Atilia Macrina Sophie Junker
Zotico Joel Williams
Lenia Mark Milhofer
Nerbulone Daniel Giulianini
Tiferne Benjamin Molonfalean
Un console Aksel Daveyan
Altro console Saveliy Andreev
Orchestra La Scintilla
Statistenverein am Opernhaus Zürich
Ein bisschen Crossdressing und vor allem Hosenrollen sind in der Oper ja häufig anzutreffen – aber mit dem „Eliogabalo“ von Cavalli hat die Oper Zürich wie Christian Wildhagen in der NZZ schrieb „das Stück der Stunde gefunden“. Ein Herrscher, der in erster Linie an Sex (und Religion, aber die kommt im Libretto eher kurz) interessiert ist, Frauen und Männer liebt, sich gerne auch als Frau kleidet, seine Dienerin (Amme) von einem Tenor gesungen. Auch der Cousin und Rivale des Kaisers Alessandro wird von einem Countertenor gesungen. Er ist mit Gemmira verlobt, deren Bruder Giuliano wiederum für eine Altstimme als Hosenrolle gesetzt ist. Wie bringt man Genderfluidität auf die Bühne? Ganz einfach: man inszeniere Cavallis „Eliogabalo“.
Doch einfach ist das nicht. Und dass es überhaupt möglich ist, grenzt schon an ein kleines Wunder, denn Die Oper, die für den Karneval 1667/68 komponiert wurde, wurde damals nicht aufgeführt. Womöglich, so die Hypothese von Silke Leopold in ihrem Beitrag zum Programmheft, aus politischen Gründen: Venedig brauchte auf Kreta die Unterstützung des Kirchenstaates, machte Zugeständnisse – und eine so beissende Oper über einen so durchgeknallten Kaiser wäre womöglich nicht mehr opportun gewesen. Die Obrigkeit gabe den Auftrag an den Komponisten Giovanni Antonio Boretti weiter, Aureli schrieb das Libretto um – und statt einen hoffnungslosen Sündenpfuhl darzustellen gab es ein Ende mit Reue und Einsicht – dem jesuitischen Dogma folgend (den über ein paar Jahrzehnte verbannten Jesuiten war ein paar Jahre davor – eins der Zugeständnisse der Zeit – die Wiederansiedlung in Venedig gestattet worden und sie nahmen grossen Einfluss auf das intellektuelle und religiöse Klima der Serenissima).
Cavalli aber – sehr ungewöhnlich für die damalige Zeit – hob seine Oper auf. Oder eher: er hob das Particell auf. Zwei „Linien“, „Melodien“ gibt es darin: die des Gesanges und die des Basso continuo. Den Rest – die Art der Instrumentierung vor allem – überliess man den jeweiligen Theatern, abhängig vom vorhandenen Rahmen, der Grösse des Orchesters usw. Dmitry Sinkovsky war in dieser Hinsicht ein Glücksfall für die Produktion in Zürich. Er erstellte eine Spielfassung, die etwas gekürzt wurde (es heisst, vollständig würde die Oper ca. vier Stunden dauern, im Programmheft ist von 2 Stunden 50 Minuten die Rede, online war auf 3 Stunden 10 erhöht worden, gestern dauerte es sehr 3:20 Stunden, und das obwohl es nur ein einziges Mal Zwischenapplaus gegeben hatte: für die Einlage von Sinkovsky als Countertenor zum Einstieg in den dritten Akt nach der Pause, als er „Dammi morte o libertà“ aus Cavallis „Artemisia“ singt. Vor allem zu Beginn der Oper griff er auch häufig zu seiner Violine spielte ein paar Kadenzen und Verzierungen bei Orchesterüberleitungen, die er für das Stück ergänzt hat. Gekürzt wurden vor allem rezitative Teile, die nicht nötig seien, um der Handlung zu folgen.
Die Handlung? Kurz: der Kaiser steigt den Frauen nach. Er herrschte ab dem Alter von 14 für 4 kurze Jahre, die Grossmutter – die ihn eingesetzt hatte, liess danach ihn und seine Mutter (ihre Tochter) beseitigen, weil alles so aus dem Ruder lief. Der Kaiser steigt also den Frauen nach und ist nicht zufrieden, bevor er nicht jede hübsche junge Frau der Stadt in seinen Armen gehabt hat. Los geht es mit der Vergewaltigung von Eritea, die mit Giuliano verlobt ist und daraufhin von Eliogabalo die Ehe fordert. Alessandro, der Cousin, ist mit Gemmira verlobt, doch dieser steigt Eliogabalo nun nach – während Giuliano verzweifelt. So zumindest die wichtigsten Stränge, es gibt wie aus der Dramatis personae ersichtlich ist, noch weitere Mitwirkende, unter anderem den meist nur mit Unterhose bekleideten Zotico. Wieviel davon einigermassen verbürgt ist und wieviel aus den apokryphen „Historia Augusta“ stammt, die wohl sehr viel dazu erfunden haben (und sowieso erst ca. 200 Jahre später entstanden ist), ist nicht so klar – das dröselt im Programmheft ein Aufsatz von Harry Sidebottom auseinander. Alles ziemlich „juicy“, wie man in Sidebottoms Sprache sagen könnte – guter Opernstoff halt.
Viel interessanter ist aber das Stück selbst. Cavalli ist an Monteverdi geschult (dessen „Poppea“ ja einen recht ähnlichen Stoff behandelt hat – die umwerfende Zürcher Inszenierung von vor ein paar Jahren stammte auch von Bieito und der Counter David Hansen wirkte da auch schon mit) – aber was soll’s, statt lange zu paraphrasieren tippe ich einfach ein paar Sätze aus dem letzten Abschnitt des Texts von Silke Leopold im Programmheft ab:
Cavalli, 1602 geboren, als Kapellknabe im Markusdom von Monteverdi musikalisch geprägt, später als Organist und Kirchenmusiker tätig, gehörte zu den bekanntesten Opernkomponisten seiner Zeit. 1639, noch bevor Monteverdi sich für das Teatro S. Cassiano in Venedig erneut auf das Abenteuer Oper einliess, hatte er seine erste Oper präsentiert und dann im Lauf von mehr als drei Jahrzehnten dreissig Opern geschrieben, die letzte 1673. Auch diese wurde vor der Uraufführung mit der Begründung abgesetzt, sie enthielte zu wenig muntere Lieder („mancante di briose ariette“). Könnte dies auch eine Erklärung für seinen Eliogablo sein? Cavalli hatte seinen musikalischen Stil an Monteverdi geformt, für den das dramatische Rezitativ, der theatralische Gestus des Gesangs im Vordergrund gestanden hatte. Cavalli seinerseits hatte für eine Reihe von Szenetypen musikalische Standards entwickelt, die auch für andere Opernkomponisten seiner Zeit als Vorbild dienten – allen voran die grossen Lamenti, die mal rezitativ, mal ariosen Klagegesänge der Protagonisten beiderlei Geschlechts, aber auch Schlafszenen, Beschwörungsszenen, Wahnsinnsszenen und mehr. Eliogabalo wirkt keineswegs wie die Pflichtübung eines müde gewordenen Komponisten, sondern eher wie das Alterswerk eines erfahrenen Musikdramatikers, der gelernt hat, die Akzente so zu setzen und die unterschiedlichen musikalischen Sensationen so zu verteilen, dass sie, jede für sich, zur Geltung kommen konnten. Dabei lag ihm mehr an einer Musik, die dem Drama, dem inneren wie dem äusseren, gerecht wurde, als an einer, die sich den geläufigen Gurgeln der Sänger andiente. Darin unterschied er sich tatsächlich von einer jüngeren Generation, wie sie Boretti repräsentierte. Und so ist Eliogabalo auch so etwas wie der Abgesang auf einen Operntypus, der seine Zeit hinter sich hatte.
Bieito ist für die Inszenierung ebenso ein Glücksfall wie Sinkovsky. Dieser lässt La Scintilla in unglaublichen Farben schillern, hat die Musik für grosses Ensemble gesetzt, in dem neben den üblichen Streichern u.a. Gamben, Blockflöten, Zinken, ein Dulcian, Sackbutts, eine Harfe, Tasteninstrumente und gleich zwei Theorben/Gitarren sowie eine Laute vertreten sind. Auf der Bühne dominiert die Präzision, das hervorragende Ensemble agiert prägnant, fast alles wirkt schlüssig. Und der Skandal, den manche herbeigeschrieben haben, fehlt völlig. Auch wenn der Zotico von Joel Williams wie schon erwähnt meist nur in einer Unterhose über die Bühne läuft, das Stück mit einer Vergewaltigung beginnt: die Sexualität bleibt angedeutet, für Bieitos Verhältnisse ist das alles eher zurückhaltend. Vor allem wird der Abend getragen von den hervorragenden Darsteller*innen, nicht nur Mynenko (er stammt übrigens aus der Ukraine, Syinkovky aus Russland – zum Glück wurde der nicht mit vorschnellem Opportunismus geopfert). Um Mynenko kreisen die anderen Figuren, da ist die als alternde Dragqueen inszenierte Lenia von Mark Milhofer (die Rockrolle ist von Cavalli vorgegeben), da sind die zwei arg gebeutelten Frauen Eritea (Siobhan Stagg) und Gemmira (Anna El-Kashem), aber auch die kleineren Rollen (nicht zuletzt Sophie Junker bei ihrem Hausdebut – Rollendebuts sangen natürlich alle – als Atilia Macrina, die unglücklich in Alessandro verliebt ist), fügen sich hervorragend in das Ganze ein.
Das ist ein hervorragender Musiktheaterabend, der sich vielleicht weniger als der Bartók-Abend in Basel aus der Musik und aus dem Graben ergibt – aber im Endeffekt darin, wie alles zusammenfindet vielleicht am Ende noch etwas überzeugender ausfällt – selbst wenn ich in der langen ersten Hälfte angesichts des wirren Plots und der vielen Sänger*innen manchmal Mühe hatte, dem Geschehen zu folgen. Bei den Übertiteln jeweils die Namen der singenden Figuren zu ergänzen wäre da ganz hilfreich – aber es ist nicht leicht, diese aus dem Parkett zu lesen – wo ich erneut sass, weil aufgrund der schlechten Verkaufszahlen der zweite Rang geschlossen und Leute wie ich umplatziert wurden. Ein „leider“ wie neulich bei Wagners „Walküre“ ist dieses Mal nicht angebracht, im Gegenteil: wenn La Scintilla, das hauseigene Originalklangensemble im Graben ist, ist das überhaupt kein Problem – und ich sass ein paar Reihen weiter hinten und hatte im Gegensatz zum Wagner-Abend auch einen perfekten Blick.
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