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Winterthur, Stadthaus – 12.01.2023
Musikkollegium Winterthur
Barbara Hannigan Leitung und Sopran
Regie und Video Barbara Hannigan, Denis Guégin, Clemens Malinowski
Live-Video Clemens Malinowski
Ton: Joulian Bourin
Korrepetition und musikalische Assistenz: Delphine Dussaux
Richard Strauss „Metamorphosen“ Studie für 23 Solo-Streicher (1945)
Francis Poulenc „La Voix humaine“ Tragédie lyrique in einem Akt, Dichtung von Jean Cocteau (1958)
Fotos: (C) Janto Film GmbH
Der Auftakt ins neue Konzertjahr war fulminant. Barbara Hannigan habe ich bisher zweimal gehört, zuerst bei einem nur teilweise überzeugenden Konzert in der Tonhalle (2017, noch vor dem Umbau, es gab Ligeti, Berg, Debussy, Stravinsky und der Teil ohne Gesang, besonders Debussy, wirkte nicht so richtig ausgestaltet – ich habe damals leider nichts geschrieben, soweit ich sehen kann) und dann ein paar Jahre später in einem Konzert der Extraklasse beim Lucerne Festival, bei dem sie mit dem LSO unter Rattle Abrahamsens „let me tell you“ sang). Auf CD habe ich sie in der Zwischenzeit verfolgt, es gab ja nicht zuletzt die sehr berührenden letzten Aufnahmen mit Reinbert de Leeuw. Dass ich für ihr Konzert nach Winterthur gehen will, war also schon lange klar. Und ich habe auch wieder die Kombi Museum plus Konzert gewagt und war zum ersten Mal (zumindest seit meiner Kindheit) in der Sammlung Reinhart am Stadtgarten, die direkt neben dem Stadthaus liegt, in dem das Musikkollegium auftritt. Dort läuft die Tage „Kunst und Krieg – Von Goya bis Richter“, eine heftige aber beeindruckende Ausstellung zu einem leider sehr aktuellen Thema mit Druckgrafiken von Dürer, Goya und Callot, Gemälden von Dix, Kollwitz, Vallotton usw. und einer Video-Installation Harun Farocki.
Danach etwas benommen rüber ins Konzert – und los geht es mit Richard Strauss, dem alten Nazi-Andiener und Opportunisten und seiner irren Klagemusik über den Niedergang der schönen alten Welt. Ich schätze die „Metamorphosen“ schon lange sehr (es war eine Karajan-Einspielung für die Deutsche Grammophon, gekoppelt mit den Vier letzten Liedern mit Janowitz und „Tod und Verklärung“, die mir wohl dank @clasjaz früh in meinen Klassikerkundungen über den Weg lief, diese hier), aber im Konzert hören und zuschauen, wie das mit dem ganzen Stimmengeflecht funktioniert, wie eben auch die Musiker*innen am zweiten oder dritten Pult ihre Momente im Rampenlicht haben, ihre solistischen Einwürfe, dass das mit den „23 Solostreichern“ wirklich wörtlich zu verstehen ist: das war eine ganz neue Erfahrung. Und eine sehr beeindruckende. Auch wurde schnell klar, dass Hannigan als Dirigentin an einem ganz anderen Ort angekommen ist, als ich sie 2017 wahrgenommen hatte: sie führte souverän durch das Werk. Doch das alles war ja nur quasi das verlängerte Vorspiel für das Hauptwerk des Abends: „La Voix humaine“ von Poulenc.
Diesen Abend, der in Winterthur zweimal – und erstmals in der Schweiz – aufgeführt wurde, hat Hannigan 2021 für Radio France gemeinsam mit Denis Guégin entworfen, nachdem sie das Stück ein paar Jahre davor unter Krszysztof Warlikowski schon an der Pariser Oper aufgeführt hatte. Die Videoprojektion – im recht kleinen Stadthaus Winterthur füllte sie die komplette Wand hinter der Bühne – wurde für Strauss im Lauf der bisherigen Aufführungen gestoppt, weil sie zu sehr abgelenkt habe. Das kann ich nachvollziehen, doch danach, für Poulenc, war das ein geniales – ein genial-einfaches und ein genial-effektives – Konzept, das perfekt umgesetzt wurde.
Drei Kameras standen auf der Bühne, eine frontal auf die Dirigentin/Sängerin gerichtet, zwei seitlich platziert. Hannigan war in der Totale oder im Close-Up (ein paar Mal im extremen Close-Up, so dass nur ihre Augenpartie oder ihr Mund zu sehen war) zu sehen, oder eben von der Seite, mit Überblendungen, Doppel- und Dreifachbelichtungen, manchmal wurde die Leinwand in der Mitte gespiegelt und Hannigans Hände – in der Höhe über ihrem Kopf – führten eine Art Schattenballett auf. Zwischendurch fror das Bild auch ein, Hannigan in einer expressiven, ja expressionistischen Haltung, davor die lebendige in Farbe: denn die Bilder waren in Schwarzweiss, was den expressiven – und eben: manchmal nahezu expressionistischen – Effekt noch steigert und dem ganzen einen leichten Film-Noir-Touch gab, zu dem die kühle Blonde natürlich auch perfekt passt – alles eine Inszenierung, aber eben eine, die so wirklich niemand anders als Hannigan machen kann.
Was jetzt noch viel klarer wurde: nebst ihrem sowieso überragenden Gesang (keine Überraschung!) war ihr Dirigat: sie schien das oft aus dem Handgelenk zu leiten – bis in die Fingerspitzen war jede kleinste Geste von einer unfassbaren Präzision, die sich auf das Orchester übertrug, das an diesem Abend wirklich Weltklasse war. Ein Taktstock kam da natürlich nicht zum Einsatz, der hätte da auch nichts mehr weiter verdeutlichen können.
Hannigan stand die meiste Zeit mit dem Rücken zum Publikum, bewegte sich in einer vollkommen stimmig und ebenfalls enorm präzise wirkenden Choreographie auf dem relativ grossen, halbrunden Dirigent*innenpodest – während ihre Hände eine Art eigenen Tanz aufführten, der dem Dirigat galt. Die Verschmelzung von Dirigentin, Sängerin, Orchester, von Ton und Bild, war wirklich atemberaubend.
Und natürlich war dafür kein Telefon notwendig, erst recht keins mit Kabel – denn eine devote Frau in Opferrolle wurde hier nicht dargestellt. In diesem Noir-Psychothriller wurde das Telefonat (ob am anderen Ende der Leitung überhaupt jemand ist, scheint ja zumindest bei Poulenc nie ganz klar?) als Videocall inszeniert. „Was ich mir nicht vorstellen kann, existiert nicht.“ Und „Oder es existiert, aber in einer vagen Wirklichkeit“, sagt die Frau. Hannigan dazu im Gespräch mit Marco Frei im Programmheft:
Cocteau hat uns im Grunde alle Hinweise gegeben, dass nichts von alledem wahr ist. Das gilt übrigens auch für die Frage, ob sie Selbstmord begeht oder nicht. Für mich hat die Frau einen ziemlich starken Charakter. Ich denke nicht, dass sie sich am Ende umbringt. Sie wird vielmehr ständig dasselbe Szenario erleben, stets abgewandelt. Es ist eine Art obsessive Kraft, die Energie ihrer eigenen Fantasie. In diesem Sinn stellt sich die Frage, ob es überhaupt einen Geliebten gibt. Meine Interpretation stellt auch das infrage.
Es geht also um Sein und Schein, Fakt und Fake?
Wobei dei Grenzen in der eigenen Wahrnehmung fliessend sein können. Im Kern geht es um die Ehrlichkeit der Gefühle. Es ist ein sehr starker Stoff mit vielen stark Gefühlen, erschaffen von der Fantasie und Imagination der Frau. Sie erfindet Szenen und Situationen, die sie vielleicht einmal er- und durchlebt hat. Oder bei denen sie sich wünscht, sie hätte sie er- und durchlebt. Die Emotionen können wahr sein, die Situation an sich aber nicht. Das einzig Wahre und Echte in diesem Stück sind die Gefühle. Die Frau erlebt tatsächlich Verlust und Isolation, Furch und Angst, Leidenschaft und Zweifel. Diese Gefühle sind 100-prozenti echt.
Hier kann man sich das Programm in der Originalfassung aus Paris anschauen – mit viel grösserer Bühne und kleinerer Leinwand (im Verhältnis) und inklusive der später bei Strauss gestrichenen Bilder:
Und hier gibt es eine Bildstrecke aus Winterthur, von der ich die Fotos entliehen habe:
https://www.musikkollegium.ch/ueber-uns/news-aktuelles/view/impressionen-der-follow-woche-mit-barbara-hannigan
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Zürich, Kleine Tonhalle – 15.1.
Kosmos Kammermusik – Ksenija Sidorova
Ksenija Sidorova Akkordeon
Klaidi Sahatçi Violine
George-Cosmin Banica Violine
Gilad Karni Viola*
Sasha Neustroev Violoncello
Kamil Łosiewicz Kontrabass**
*) ausser bei Dvorák
**) Akhunov, Angelis, Encore
Wolfgang Amadeus Mozart
Adagio und Rondo c-Moll KV 617
Antonín Dvořák
Fünf Bagatellen op. 47
Sergey Akhunov
«Two Keys to One Poem by J. Brodsky»: I. The Moon / II. The River
Pietro Roffi
Nocturne «A Kind of Lullaby of the Times We Have Not Yet Lived»
«Is There a Place in Your Heart?»
Ástor Piazzolla
«Asleep», «Anxiety», «Fear» aus «Five Tango Sensations»
Franck Angelis
Fantasie über das Thema «Chiquilín de Bachín» von Á. Piazzolla
Encore: Ástor Piazzolla
Adiós Nonino
Zwei Tage später konnte ich in der vollgestopften kleinen Tonhalle endlich doch noch Ksenija Sidorova hören. Das Konzert, bei dem ich sie im März 2020 erstmals hören wollte, war eines der ersten, das der Pandemie zum Opfer gefallen ist. In der Zwischenzeit hat sie aber im November 2021 auch unter Paavo Järvi ein Werk von Tüür aufgeführt (Youtube) – da war ich allerdings nicht dabei. Den Kammermusikabend mit einem Konzertmeister und ein paar Stimmführern de Tonhalle-Orchesters wollte ich mir aber nicht entgehen lassen, auch weil das Programm sich teils mit ihrer alpha-CD „Piazzolla Reflections“ überschnitt, die ich gerne mag. Los ging es aber mit zwei älteren Werken, einer Adaption von Mozarts letztem Kammermusik-Stück, komponiert für Glassharmonika, Flöte, Oboe, Bratsche und Cello, sowie Dvoráks Fünf Bagatellen für Harmonium (adaptiert für Akkordeon und Streichquartett), zwei Violinen und Cello.
Dann folgten die zeitgenössischen Werke für das sowieso erst seit 1960 existierende klassische Akkordeon – Sidorova sprach zu fast allen Stücken ein paar Worte, erklärte auch kurz ihr Instrument – natürlich nicht ohne den Unterschied zum Bandoneon zu erwähnen. Bei den zwei „Schlüsseln“ zu einem Gedicht von Brodsky kam erstmals der Kontrabass dazu, Pietro Roffis beiden Stücke waren dann wieder für Akkordeon und Streichquartett, ebenso die drei Stücke aus Piazzollas „Five Tango Sensations“, die gegenüber dem gedruckten Programm vorgezogen wurden, damit der Abschluss mit Angelis Piazzolla-Fantasie wieder mit allen Musikern vonstatten gehen konnte. Es gab zwar nicht den tosenden Applaus wie davor in Winterthur und sehr viele Leute sprangen sofort auf und verschwanden vor der Zugabe (eine mich enorm störende Respektlosigkeit, die in Zürich leider weit verbreitet ist), die das Programm wunderbar abrundete, „Adiós Nonino“ von Piazzolla, auch wieder mit Kontrabass.
Die Musik kann ich gar nicht gut in Worte fassen, böse Zungen würden von globaler Wohlfühlmusik reden mögen, aber auf dem Niveau und mit der sichtbaren Freude dargeboten war das wirklich klasse. Und ja, das ist schon Musik, die eher in Herz und Magen geht als in den Kopf, aber nichtsdestotrotz war das ein sehr schöner sonntäglicher Spätnachmittag (Beginn um 17 Uhr, Dauer um die 90 Minuten, wie zuvor bei Hannigan auch hier ohne Pause).
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Heute geht es nach Basel zu einem Konzert, das zumindest auf dem Papier ganz hervorragend aussieht: Francisco Coll dirigiert das Kammerorchester Basel, Sol Gabetta spielt die Uraufführung seines Konzerts für Cello und Orchester, davor gibt es Turinas „La oración el torero“, nach der Pause das Doppelkonzert von Martinu und die Suite aus Fallas „El amor brujo“.
Am Sonntag springt dann Markus Stenz im Opernhaus für Simone Young ein, da gibt es Strauss („Tod und Verklärung“), Bartóks Violakonzert mit Nils Mönkemeyer und das Adagio aus Mahlers 10. Symphonie.
Und am Dienstag tritt Lucienne Renaudin Vary im Rahmen der Neuen Konzertreihe Zürich in der Tonhalle mit dem Zürcher Kammerorchester auf (Trompetenkonzerte von Marcello und Neruda, Symphonien von CPE Bach, Mozart und Haydn).
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #159: Martial Solal (1927–2024) – 21.1., 22:00; #160: 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba