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Zu „Der wunderbare Mandarin“ schreibt Matthias Schmidt im Programmheft aus Basel:
Bereits vor der Uraufführung des ‚Blaubart“, zu Jahresbeginn 1917, erschien in der Monatsschrift ‚Nyugat‘ die Geschichte ‚Der wunderbare Mandarin‘ (‚A csodálatos mandarin‘) des ungarischen Dramatikers Menyhért Lengyel. Sie fesselte den Komponisten erneut so unmittelbar, dass er unverzüglich an die Vertonung ging und bereits wenige Monate später weite Teile der Musik für eine Tanzpantomime fertiggestellt hatte. Auch hier bedurfte es aber wieder fast eines Jahrzehnts und zahlreicher Arbeitsschritte, bis das Werk 1926 erstmals gespielt werden konnte. Ein Mädchen dient als Lockvogel, um den Mandarin zu betören, der daraufhin von drei Schurken ausgeraubt und buchstäblich dreimal ermordet – erstickt, erstochen und erhängt wird. Gleichwohl lebt er weiter, denn erst, als das Mädchen sich ihm in ehrlicher Zuneigung zuwendet und ihn schliesslich küsst, darf er sterben. Das Stück folgt einer Logik von schockierender Wildheit, die die Uraufführung in Köln zu einem masslosen Publikumsskandal machte. Das Zeitlose der Erinnerung aus Märchen und Mythos findet keinen Platz mehr in einer Musik. Sie widmet sich vielmehr der kruden Wirklichkeit: der Gegenwart der Grossstadt, der gesellschaftlichen Aktualität udn der modernen Lebenskraft. Es ist der Lärm, der vom Alltag auf die Bühne tritt: „ein Höllenlärm, Rasseln, Klirren und Hupen“, und das „wirbelnde Strassengetümmel“ (Bartók, 1917), das Bartók klanglich entfesselt.
Bartóks expressionistische Darstellung einer Deformation der modernen Welt macht die Musik dabei zwar noch dynamischer als früher. Doch zwischen dem explosiven Allegro-Beginn und dem Lento-Schluss, zwischen dem urbanen Chaos zu Beginn, dem zärtlichen Kuss der Frau und dem erlösenden Tod des Mandarin, zeigt der Komponist wieder seinen Sinn für formale Symmetrien. Und gerade der nüchterne Umgang mit der ungarischen Volksmusik, der Bartók einen grundlegenden „Sentimentalitätsmangel“ bescheinigt (Bartók, 1931), hilft ihm hier bei der Befreiung von einer vormals spätromantischen Üppigkeit. Daher vermag sogar der unwirkliche Bühnenauftritt eines lebendigen Mordopfers auf einmal schonungslos real zu erscheinen. Am Ende siegt die traurige Melancholie und seelenvolle Menschlichkeit des Aufeinandertreffens zwischen dem Mädchen und dem Mandarin über die Gewalttätigkeit einer künstlich lärmenden Technik. Bartók geling es musikalisch glaubwürdig, ein Zerrbild der Zivilisation mit dessen eigenen Mitteln zu unterlaufen.
Das ist nicht, wonach Du gefragt hast @yaiza, aber erlaubt wohl zumindest eine Einordnung (und diese Lesart scheint nicht allzu weit von Bartóks Intentionen entfernt zu sein). In meinem Reclam „Konzert Führer“ (18. Ausgabe, 2006; die Kapitel der Generationen ab 1860 hat Klaus Schweizer verfasst, setzt bei Mahler und Hugo Wolf ein) steht auch nicht viel mehr, da wird das Werk mit Stravinskys „Sacre du printemps“ und Prokofievs „Skythische Suite“ von 1914 eingeordnet:
Da Bartók beide Werke aber nicht kennen konnte, muß seine Mandarin-Musik im größeren Zusammenhang eines „barbarischen“ Expressionismus gesehen werden, der sich in aggressiver Motorik, uneingeschränktem Dissonanzgebrauch und geschärftem Orchesterklang äußerte. Dennoch: So, wie Menyhért Lengyels Sujet statt der urgeschichtlich-heidnischen Themen bei Strawinsky und Prokofjew aus dem zeitnahen Milieu großstädtischer Verbrechertums genommen ist, entwickelte Bartók die musikalische Sprache dieser Partitur auf den gesicherten Grundlagen der Tradition. Konstruktive Prinzipien wie die planvolle Setzung tonaler Schwerpunkte, Anlehnung an stilisierte Tanzcharaktere, z.B. Marsch und Walzer, oder Fugato-Steigerungen sichern die in jedem Takt spürbare überhitzte Ausdrucksintensität formal ab, um sie desto konzentrierter wirksam werden zu lassen.
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