Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Basel, Stadtcasino – 18.02.2023 – „Say Mozart“

Kammerorchester Basel
Baptiste Lopez
, Violine und Leitung
Fazıl Say, Klavier

WOLFGANG AMADEUS MOAZRT: Sinfonie Nr. 25 in g-Moll KV 183
FAZIL SAY: Yürüyen Köşk «Das verschobene Haus» für Klavier und Streichorchester Op. 72a

MOZART: Sinfonie Nr. 24 in B-Dur KV 182
DMITRI SCHOSTAKOWITSCH: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 in F-Dur Op. 102

So, mal wieder Zeit für ein paar Zeilen, zumal ich grad zwei wunderbare Abende hinter mir habe und es am Montag mit dem Oliver Schnyder Trio weitergeht (parallel dazu verpasse ich schon wieder Dave Holland, und eine Lesung bei privat gäbe es an dem Abend auch noch – aber Schnyder hab ich halt im Abo und freue mich auf gute Kammermusik, kriege ich nicht so oft zu hören).

Der Abend mit Fazil Say in Basel war schon Ende Jahr ausverkauft, glaub ich – und natürlich hat er im Gespräch vor dem Konzert gesagt, er habe überlegt, angesichts des Erdbebens die Tour abzusagen. Und dann gemerkt: das ist, was er tut, und er tut es auch jetzt – und er tut es trotz allem gerne und mit grossem Engagement, wie mich dünkte. Die Mozart-Symphonien leitete Baptiste Lopez, einer der Konzertmeister des KOB, vom ersten Pult aus, die beiden Klavierkonzerte dann Say vom Flügel.

Die erste Konzerthälfte fand ich etwas weniger gut, die fast halbstündige Symphonie Nr. 25 KV 183 von Mozart zog sich für meine Ohren ziemlich in die Länge – ein Problem, das ich mit manchen frühen und mittleren Symphonien Mozarts habe (auch neulich mit dem Zürcher Kammerorchester, aber auch schon mit dem KOB unter Umberto Benedetti Michelangeli in einem Mozart-Programm mit Regula Mühlemann, und damals waren es immerhin Nr. 34 und Nr. 36 – die Kombi höre ich im April wieder, aber dann gibt es zwischen den Mozart-Arien Ravel und Fauré). Says Konzert handelt vom Haus, das Atatürk verschieben liess, um einen alten Baum nicht fällen zu müssen, ist die Bearbeitung eines Klavierquintetts. Es bezieht passend zum Thema Vogelstimmen mit ein, die von den Streichern beigetragen werden (es gibt daneben auch noch eine Fassung für Klavier solo, ob die bei Schott erwähnte mit „Kammerorchester“ nochmal eine andere ist – also inkl. Bläser – weiss ich nicht, aber es würde erklären, dass im Programmheft des KOB zwar im Überblick „für Klavier und Streichorchester“ steht, aber im Textteil bei der Besetzung steht: „2 Flöten, 2 Oboen, 2 Fagotte, 2 Hörner, Streicher“). Das war auf jeden Fall ein schönes, abwechslungsreiches Stück, recht dunkel in den Texturen, mit starken Rhythmen, die mit der Zeit ans Monotone grenzten, klang auch mal etwas jazzig, dann wieder tänzerisch und verspielt.

Nach der Pause dann eine kürzere und für meine Ohren viel beschwingtere Symphonie von Mozart, die mir sehr gut gefiel – und dann das Highlight: das einfach zu spielende aber sehr effektvolle Hasardeurenstück von Schostakowitsch, sein zweites, 1957 komponiertes Klavierkonzert, dem wie Florian Hauser im Programmheft anmerkt im Gegensatz zu Op. 103, der elften Symphonie, die Schatten fehlen: „ganz diesseitig ist es, überschäumend, wie eine ferne Erinnerung an den hoffnungsvollen, hochbegabten, vor Energie vibrierenden Jungkomponisten, der Schostakowitsch war, bevor die Angst kam.“ Nach leichten Anfängen, in denen er als Pianist wie als Komponist Erfolge feiert, Musik schreibt, die nur so von Einfällen strotzt, kommt der Bruch: Stalin besucht eine Aufführung der schon seit Wochen erfolgreichen „Lady Macbeth von Mzensk“, ist empört, lässt die Oper in der Prawda als „linke Zügellosigkeit anstelle einer natürlichen menschlichen Musik“ anprangern. Und damit beginnt das Katz-und-Maus-Spiel Schostakowitschs, der weiterhin als Staatskomponist hofiert wird, aber auch damit rechnen muss, vom KGB abgeholt zu werden. 1948 erscheint sein Namen – neben Chatschaturjan und Prokofjew – auf einer schwarzen Liste. Und Schostakowitsch reagierte so, dass er sagte, er wisse, dass die Partei recht habe, es gut mit ihm meine, dass es seine Aufgabe sei, Wege zu finden zum „sozialistischen, realistischen und volksnahen Schaffen […] Ich bin ein sowjetischer Künstler und ich bin in der Sowjetunion aufgewachsen. Ich sollte und ich will einen Weg zum Herzen des Volkes finden.“ – Ein Dilemma für den Patrioten, den er eben auch war. Er komponierte fortan auch für die Schublade, schrieb Werke, an deren Aufführung nicht zu denken war – und starb wohl als gebrochener Mensch. 1957 war es noch nicht so weit, Stalin war tot, sein Sohn Maxim ist 19 und soll mit dem zweiten Klavierkonzert sein Debut geben. Das Werk ist dreisätzig, hält sich an die üblichen Regeln, wie ein Konzert halt auszusehen hat – und ist dennoch ganz anders. Hauser:

Alles ist irgendwie richtig und doch falsch. Könnte es ein Scherz sein? Natürlich. Eine Liebeserklärung, voller Stolz, an seinen neunzehnjährigen Sohn Maxim? Natürlich. Mit diesem 2. Satz in seiner grenzenlosen Melancholie, die sich bis an die Kitschgrenze in jenseitige Welten träumt. Könnt das Werk mit einer Art barocken Attitüde daherkommen? Natürlich. Der Solist setzt als „Erster unter Gleichen“ dem Orchester rhythmisch und thematisch nicht viel entgegen, sondern unterstützt vielmehr: als würde das Klavier das Orchester dirigieren. Er tritt als vor-klassischer Kapellmeister auf, der eben an seinem Tasteninstrument sitzt. Zudem spielt er praktisch ohne Pause – auch das eine Reminiszenz an das barocke Prinzip des Generalbasses, also die ständige Begleitung des Tasteninstruments in einem Ensemble. Dazu kommt eine grosse Klarheit des Soloparts, der technisch ganz und gar nicht herausfordert, fast lakonisch ist und am Anfang und Ende sogar sowjetische Pionierlieder zitiert, nach denen kommunistische Kinder- und Jugendorganisationen zu Trommeln und Hörnern marschieren. Auch das ist paradox: Die Pioniere der Vergangenheit marschieren im Rahmen eines barocken Instrumentalkonzerts. Und alles zusammen? Typisch für den rätselhaften Schostakowitsch, der immer den hintergründigen Witz und die Groteske geliebt hatte, die ihm oft ein Ventil war, ein Fluchtmittel, um den Angriffen der KPdSU zu entgehen. Was ist ironisch gemeint, was nicht?

Das Konzert erfüllt, nein, übererfüllt die ständig wiederholten Forderungen an sowjetische Komponisten nach Erbauung, nach Fasslichkeit, nach positivem Lebensgefühl. Gleichzeitig schreibt Schostakowitsch: „Nichts von nennenswertem künstlerischen Wert“ habe das Konzert. Das ist nicht anderes als meisterhaft versteckte Kritik am System. Freundliche Parodie, kindliche Einfachheit, sprühender Witz, Wehmut, wirbelndes Feuer – die „frühere Seite“ Schostakowitschs scheint hier durch, eine Erinnerung an die Zeit dreissig Jahre früher – unter einem dicken Panzer der Ironie, der Unverbindlichkeit, des schützenden Lächelns.

Die Lesart von Say und dem KOB war fulminant, witzig, das Stück wurde ausgekostet – ein grosses Vergnügen. Say spielte dann allein noch eine kurze Zugabe, in der er auch ins Innere des Flügels griff, um gewisse Töne zu dämpfen. Alles in allem ein stimmiges Konzert, das etwas langfädig anfing (wobei ich mich immer Frage, ob das auch an mir liegt, nach einem langen – zwar lohnarbeitsfreien aber dennoch geschäftigen Tag – reinzufinden in die Musik; das ist ja nicht wie ein Schalter, den man umlegen kann … die einstündige Anfahrt nach Basel schafft aber jeweils den nötigen Abstand, der mir bei den 5-10 Minuten mit dem Fahrrad in die Oper oder die Tonhalle manchmal etwas fehlt).

Zürich, Tonhalle – 03.03.2023

Tonhalle-Orchester Zürich
Kent Nagano
, Leitung
Andreas Berger, Benjamin Forster, Christian Hartmann, Klaus Schwärzler Perkussion

JOHANN SEBASTIAN BACH: Aus «Die Kunst der Fuge» BWV 1080 (Bearbeitung für Orchester von Ichiro Nodaira)
TOSHIO HOSOKAWA: Intermezzo für vier Perkussionisten aus der Oper «Stilles Meer»
ANTON BRUCKNER: Sinfonie Nr. 9 d-Moll

Nachdem das Rezital von Pollini leider abgesagt wurde (er hätte am Sonntag 26.2. Schönberg, Nono und Chopin spielen sollen), ging es dann letzten Freitag wieder in die Tonhalle zum Orchesterkonzert, bei dem sich nach Blomstedt letzten Juni erneut ein Gast in dem Territorium breitmachte, das das Orchester gerade mit seinem Chefdirigenten Paavo Järvi beackert: Bruckner. Doch von vorn: das Konzert war ohne Pause angelegt, das vierminütige Schlagzeugintermezzo folgte direkt auf den Bach, es gab also bis zur kurzen Pause, in der die zweite Hälfte des Orchesters für Bruckner hereinkam, keinen Unterbruch – und die Dramaturgie funktionierte hervorragend.

Drei der Sätze aus Bachs „Kunst der Fuge“ in einer Bearbeitung von Ichiro Nodaira machten den Einstieg. War die Besetzung im Contrapunctus I noch konventionell (Flöte/Altflöte, Oboe, Fagott, Horn und ein dicker Streichersatz in Besetzung 6-6-6-6 ohne Bässe), so stiessen für den folgenden Contrapunctus XV nicht nur zwei Schlagzeuger sondern auch noch eine Harfe und eine Celesta dazu, die Streicher wurden auf 3-3-6-6 reduziert, die Bläser pausierten. Noch bunter wurde die Klangkulisse im abschliessenden Contrapunctus VIII: Oboe, Flöte, Klarinette und Fagott jetzt alle im Doppelpack (jeweils 2. auch Altflöte, Englischhorn, Bassklarinette und Kontrafagott), je ein Horn, eine Trompete und eine Posaune, dazu ein Altsaxophon und wieder die Streicher (vermutlich alle vier mal sechs, steht im Programm nichts und sehen konnte ich das nicht von meinem seitlichen Platz). Das ging also in einer Manier los, wie man sie von alten Aufnahmen aus den Sechzigern durchaus kennt, wurde mit dem kombinierten Glockenklang von Harfe und Celesta, danach den tiefen Tönen von Bassklarinette und Kontrafagott und dem Saxophon irgendwie immer bunter und filmischer (ich dachte irgendwie an Visconit, an Varda, aber auch Kinskis Fratze in einer dieser alten Edwar-Wallace-Verfilmungen schien mir nicht weit). Dann – Nagano hielt die Arme oben, eine Cellistin schlich raus, die zwei noch fehlenden Schlagzeuger kamen herein – ging es mit Hosokawa weiter, einem kurzen Schlagzeugstück aus der Oper „Stilles Meer“, gewidmet den Opfern des Tsunami und der nachfolgenden Nuklearkatastrophe vom 3. November 2011. Die Oper war ein Auftragswerk der Staatsoper Hamburg und basiert auf einer Bearbeitung des Nô-Stückes „Sumidagawa“, das schon Benjamin Britten in „Curlew River“ verwendet hatte. Hosokawa: „Meine Musik entsteht in tiefem Einklang mit der Natur und soll dazu anregen, einmal mehr zu reflektieren, dass die Menschheit die elementare Kraft der Natur gleichermassen respektiert wie fürchtet, und wie sie beim Versuch, die Natur zu kontrollieren und zu dominieren, diese letztendlich zerstört“ (aus dem Programmheft, für das er den Text zu seinem Stück selbst verfasste und dabei recht weit ausholt). Das Stück war prägnant, mit immer wieder neu gesetzten Hauptrhythmen und sich dazwischen, darüber, drumherum einschiebenden Ergänzungen an unterschiedlichen grossen und kleinen Trommeln, was immer wieder zu interessanten polyrhythmischen Effekten führte – für meine Ohren sehr ansprechend, sehr greifbar, fast konkret.

Auf das Hustkonzert des Publikums, das bei Hosokawa die wichtigste Nebenrolle spielte (und vermutlich nicht meiner Meinung war) und leider den ganzen Abend über nicht abriss, folgte dann das Hauptereignis, die letzte Symphonie Bruckners bzw. die drei halt vollendeten Sätze – eine stringente, sehr stimmige Lesart, die mich nicht ganz so mitnahm wie die bisher letzte Aufführung in der Tonhalle (Haitink im Dezember 2016, klick) – aber dennoch: ein Wahnsinnswerk, dessen Lesart als Musik der letzten Dinge ich durchaus nachvollziehen kann. Ein ständiger Widerstreit von Elementen, Melodien, Kürzeln, Fetzen, Rhythmen – Dissonanzen, die immer wieder durch das Gebilde fegen, dann wieder eine künstliche Walzerseligkeit, Anmutungen von Ländlern, Melodien voller Sonnenschein, denen aber bereits wieder der Schatten des aufziehenden Wetterumbruches innewohnt – Bergstimmungen, gewissermassen, was bei grumpy Tony ja auch nie weit hergeholt ist.

Naganos sehr präzises Dirigat überzeugte mich – er kam auch ganz ohne die grossen Gesten aus, die ich bei Konzerten in den letzten Wochen/Monaten manchmal etwas pompös empfand (siehe oben, obwohl ich ja die Konzerte mit Stenz und Welser-Möst beide hervorragend fand) – er schien oft aus dem Handgelenk zu dirigieren, was auch die grösseren Armbewegungen wieder in die kleine Geste zurückleitete, eben: in die Präzision. Auch wenn mich das Bach-Arrangement nicht wirklich überzeugte: in der Gesamtdramaturgie ein absolut stimmiger Abend.

Und mit dieser Auffrischung bin ich natürlich jetzt gespannt darauf, wie das Werk unter Järvi klingen wird – wobei die Bruckner-Konzerte erst nächste Saison weitergehen und mir die Details noch nicht bekannt sind … im August wird Blomstedt in Luzern Nr. 7 dirigieren, da möchte ich auch wieder dabei sein).

04.03.2023 – Zürich, Opernhaus

Roberto Devereux
Tragedia lirica in drei Akten von Gaetano Donizetti (1797-1848), Libretto von Salvatore Cammarano

Musikalische Leitung Enrique Mazzola
Inszenierung David Alden
Bühnenbild und Kostüme Gideon Davey
Lichtgestaltung Elfried Roller
Choreografische Mitarbeit Arturo Gama
Choreinstudierung Janko Kastelic
Dramaturgie Kathrin Brunner

Elisabetta I. Inga Kalna
Duca di Nottingham Konstantin Shushakov
Sara Anna Goryachova
Roberto Devereux Stephen Costello
Lord Cecil Andrew Owens
Sir Gualtiero Raleigh Brent Michael Smith
Page Aksel Daveyan
Vertrauter Nottinghams Gregory Feldmann
Henker Francesco Guglielmino

Philharmonia Zürich
Chor der Oper Zürich
Statistenverein am Opernhaus Zürich

Gestern ging es dann die Oper – unter mässig glücklichen Begleitumständen: Einerseits ist samstags oft viel laberndes Publikum im Saal, andererseits fand dieses Wochenende an der Fassade ein „Ring“-Lichtspektakel statt, das mit so lauter Musik einherging, dass man davon leider im Saal nicht nur bei den ganz ruhigen Passagen immer wieder ordentlich was mitkriegte (nicht zuletzt immer wieder wummernde Bässe). Und dann fand ich auch noch die Inszenierung dysfunktional – ohne dass ich bisher darauf gekommen wäre, woran das liegt.

Doch zum Guten: ich kannte diese letzte Oper von Donizettis Tudor-Trilogie noch gar nicht – und musste nach den grandiosen Aufführungen von Maria Stuarda (Frühling 2018) und Anna Bolena (Herbst 2021) natürlich auch diesen dritten Teil sehen. Wie ich nachgelesen habe, ist das in Zürich wohl ein besonders delikates Unterfangen, denn die Hauptrolle der älteren Elisabetta gehörte hier der überaus beliebten Edita Gruberová. Nach allem, was ich gelesen habe, hat Inga Kalna sie aber ganz anders gedeutet – und das war überaus stimmig, und obendrein hervorragend gesungen. Gestern war Dernière und zum Schlussapplaus erhielt sie von allen Solist*innen, vom Chor und auch von Mazzola einen Strauss Rosen. Eine schöne Geste für ein starkes Rollendebüt. Rollendebüts hatten alledrigns ausser Stephen Costello in der Titelrolle alle wichtigen Sänger*innen gestern: der glänzende Konstantin Shushakov, die Sara von Anna Goryachova (eine wundervolle Stimme!) und auch Owens und Smith in ihren kleineren Rollen.

Enrique Mazzola hatte ich schon als Straussübergeben erwähnt – er spielte im Graben allerdings auch eine Hauptrolle für den musikalisch wunderbaren Abend: auch sein Dirigat ist sehr präzise, er verzichtet selbst im Orchestergraben fast komplett auf ausladende Gesten, die ganzen Dramatisierungen mit Agogik à la Callas gibt es bei ihm nicht: alles dient der Musik, und dabei hält er sich an die Urtext-Ausgaben der jüngeren Zeit, guckt auch mal in die Manuskripte, wenn er sich über etwas wundert (hier konkret über mehr als dreissig „accelerandi“, die damals – in Donizettis Zeit wurde üblicherweise nicht mit Dirigent aufgeführt, die Sänger*innen mussten die Tempi so steuern, dass es zu keinen Konflikten mit dem Orchester kam). Musikalisch ist das ein äusserst dichtes Werk, atypisch in vielerlei Hinsicht, mit haufenweise musikalischen Wendungen und Überraschungen – und überhaupt voller grossartiger Ideen und Melodien (auch wenn es schon mal heisst, „Roberto Devereux“ sei die „Lucia“ ohne Melodien).

Das Ensemble und das Orchester fügten sich rein musikalisch zu einem wunderbaren Ganzen: Kalnas Sopran eher herb, keineswegs leichtfüssig virtuos (und darin wohl ganz anders als Gruberová in der Rolle?) und die dunkle, warme Stimme von Goryachova, der exzellente, in Zürich immer wieder überzeugende Shushakov – sie alle drei gefielen mir hervorragend. Costellos Tenor war vielleicht da und dort eine Spur zu heroisch – und hatte noch mehr al Goryachova und Shushakov das Problem, dass die Regie mit seiner Figur nichts unternehmen mochte – oder wie Christian Wildhagen es in der NZZ vom 7. Februar formuliert hat: „Stattdessen entsteht da genau jenes Phänomen, das Belcanto-Opern lange in Verruf gebracht hat: Mit erheblichem vokalem Aufwand und beeindruckendem technischen Können beschwört da ein Sänger Gefühle, die man auf der Bühne jedoch weder spürt noch sieht.“

Die Bühne war allerdings klasse. Ein leerer Marmorraum, in den immer wieder eine grosse, anscheinend enorm schwere halbrunde Marmormauer gefahren wurde (sieben oder sogar acht Bühnenarbeiter waren nötig, und es musste schon mal in letzter Sekunde ein Stuhl gerettet werden, den wer vom Chor wegzutragen vergass). Dadurch konnten mit einfachsten Mitteln sehr effektiv und schnell Innen- und Aussenräume abgetrennt werden. Dazu kamen sehr schöne Effekte durch das Licht, das die Schattenrisse der Figuren auf dem Marmor schon mal übers Kreuz darstellte, andersrum als die Figuren auf der Bühne standen. Das durch und durch bigotte Volk wurde vom Chor ebenfalls hervorragend dargestellt – alles super eigentlich. Nur eben: irgendwie sprang da überhaupt kein Funke, mich berührte zwar die Musik sehr – aber was da an Theater geschah, liess mich leider vollkommen kalt. Die Figuren blieben ausser Elisabetta selbst völlig platt, ihre Gefühlsregungen funktionierten mit geschlossenen Augen besser als mit Blick auf die Bühne – doch wie gesagt: die war immerhin sehr schön anzuschauen.

Folgefrage: kennt irgendwer eine lohnenswerte Einspielung der Oper? Sills auf Westminster/DG gab es auf CD wieder, das wird wohl die offensichtliche sein? Wäre vermutlich noch aufzutreiben. Aktuell gibt es drei Einspielungen jüngeren Datums: Die Live-Aufnahme auf Dynamic scheint unter zahlreich auftretendem Zwischenapplaus zu leiden; was ich über die Opera Rara-Ausgabe lese, macht ebenfalls nur mässig Lust; die beste Wahl (neben Sills) wäre dann wohl die auf Naxos erschienene Einspielung?

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