Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Zürich, Kleine Tonhalle – 26.03.2023 – Literatur und Musik

Sabine Poyé Morel Flöte, Altflöte
Sarah Verrue Harfe
Hendrik Heilmann Klavier
Klaus Schwärzler Perkussion

Sebastian Rudolph Lesung

Stefan Zweifel Einführung

TOSHIO HOSOKAWA (*1955)
«Kuroda-bushi» für Altflöte
«Two Japanese Folk Songs» für Harfe
«Haiku für Pierre Boulez» für Klavier
«Sen VI» für Perkussion
«Sakura» für Marimbaphon
Lied für Flöte und Klavier

NICOLAS BOUVIER Auszüge aus «Japanische Chronik»

„Literatur und Musik“ heisst die Reihe, die das Tonhalle Orchester zusammen mit dem Literaturhaus Zürich veranstaltet. Ich glaube, ich war erst bei einem Konzert und das war nicht so richtig gut. Bei Autor*innenlesungen bin ich eh zurückhaltend, weil ich diesbezüglich auch schon Enttäuschendes erlebt habe. Lesen bleibt für mich eine Beschäftigung, die nur in der Einsamkeit richtig funktioniert.

Heute passte allerdings wirklich alles. Stefan Zweifel schlurfte um viertel nach Elf auf die Bühne, eine fast leergetrunkene Flasche Cola Light in der einen Hand, vier Bücher in der anderen. Diese legte er vor sich am Boden nebeneinander hin, schien sie aber nur als Gedächtnisstütze zu brauchen, wenn überhaupt. Er berichtete über den Werdegang von Bouvier, wie dieser nach dem Zweiten Weltkrieg der Enge Genfs entfloh, mit einem Fiat Topolino nach Ceylon reiste (mehr dazu z.B. hier), dort am Tiefpunkt ankam und schliesslich in Japan vielleicht eine Art Rettung, Heilung fand. Zweifels Vortrag wurde zu einer Performance, getaktet, mit Verdichtungen und Entspannungen und so mitreissend, dass der Saal am Ende an seinen Lippen hing. Der Applaus dauerte so lange, dass die vier Musiker*innen des Orchesters und Sebastian Rudolph in den Saal traten und ihn erst dadurch beendeten, dass sie mit dem eigentlichen Konzertprogramm begannen.

Die Musik war auf die Passagen aus der „Japanischen Chronik“ abgestimmt, die Rudolph las (ich vermute mal, dass Zweifel da auch die Finger im Spiel hatte). Ein Stück für Solo-Altflöte machte den Auftakt, in dem Töne, melodiöse Linien, die zu weiten Teilen unseren Klangvorstellungen bestens entsprachen, mit der Zeit immer stärker durch absinkende oder ansteigende Töne ergänzt wurden. Ein ruhiger, sehr schöner Einstieg. Als nächstes folgte das erste der beiden „Japanese Folk Songs“ für Harfe. Auch da ein ähnlicher Beginn, schönklingend, wohlklingend, harmonisiert – doch dann ein Bruch, fein den Saiten entlanggefahren, Wind, der durch Hütten und schmale Gassen zieht, dann eine Verdichtung zum Windspiel mit immer schnelleren Arpeggi. Danach war das Klavier an der Reihe: Attacke. Zunächst nichts als Attacken, einzelne Akkorde, gehämmert. Pause. Dann allmählich auch Verbindungen zwischen den Akkorden, eine Art Entwicklung – aber natürlich ins Nichts. Die Gegenständlichkeit, fast Greifbarkeit von Hosokawas abstrakter Musik fasziniert mich inzwischen wirklich sehr. Dass er auf der Suche nach den Klängen der Natur ist, Brücken schlagen will zu einer Sphäre, deren er uns – nicht zu unrecht, denke ich – entfremdet empfindet, leuchtet mir beim Hören jedenfalls sehr ein. Auch der Gedanke, dass in seiner Musik ein Ton nicht erst in der Konkretisierung (Umsetzung) entsteht, sondern dass die Bewegung, die zum Ton hin führt, ebenso dazugehört. Oder wie Hosokawa es laut Programmheft von einem Zen-Meister hörte: „Der kalligraphische Vorgang bildet eine Kreisbewegung. Die auf dem Papier sichtbare Linie ist nur ein Teil der Bewegung, der unsichtbare Teil der Bewegung über dem Papier gehört auch dazu und ist eine Andeutung der unsichtbaren Welt.“ (Das passt auch zu dem, was Hosokawa beim Gesprächskonzert letzten Herbst erzählte – das war am Tag, bevor Corona mit flach legte.)

Bouvier beschreibt den Trommler – im Kostüm eines Dämonen – im No-Theater, der sich mit unglaublicher Anstrengung und Anspannung auf seinen Schlag vorbereitet, bis die Hand träge auf die Trommel niedersinkt – und sie manchmal gar nicht schlägt. Diese Geste meinte man dann in „Sen VI“ zu erkennen – wobei nicht klar war, ob der erste Teil (danach las Rudolph weiter) nur ein kleines verdeutlichendes Beispiel war, das noch gar nicht von Hosokawa komponiert war, wie das im Anschluss folgende Stück, bei dem zwei Congas, zwei kleine Trommeln sowas wie ein Bongo), eine grosse Trommel und eine kleine Glocke zum Einsatz kamen. Auch das wieder faszinierend und ein Anknüpfungspunkt an das Trommelintermezzo neulich beim Orchesterkonzert mit Nagano (siehe oben, 3.3.2023). Danach folgte ein Solo für Marimbaphon, das wieder mit dem Nichts spielte: der ewige Kreislauf, die Vorstellung aus dem Shintoismus, dass der Mensch ein Teil der Natur sei und wie alles wieder in den Naturkreislauf zurückkehre – auch das ein Konzept, das man in Hosokawas Musik immer wieder zu finden glaubt. Klänge, die ganz allmählich aus dem Nichts entstehen, sich erst allmählich eine Weg durch den Geräuschpegel im Saal (in der Welt) zu bahnen vermögen, ein Auf- und Abschwellen und am Ende ein Verklingen im Verschwinden. An zweitletzter Stelle folgte dann das auf dem Programmzettel zuerst erwähnte Lied für Flöte und Klavier, das einzige Stück, bei dem mehr als Instrument zu Einsatz kam (jetzt eine normale Querflöte in C) – dazu passte die vorgängig gelesene Szene, in der Bouvier als Fremder und Fremdkörper ein zweitägiges Dorffest beobachtet, bei dem im Rausch auch die Dinge gesagt werden können, die sonst im straff hierarchisch organisierten Alltag verborgen bleiben müssen. Dabei spielte die Flöte vom Nachmittag bis weit nach Mitternacht eine Melodie aus wenigen Tönen, Musiker wechselten sich ab, doch die Melodie blieb. So einfach war Hosokawas Stück nicht, aber der Gedanke von Bouvier, nach Stunden des Hörens in der Melodie daheim zu sein, ja geradezu nach ihr süchtig zu werden, prägte sich ein. Zum Ausklang dann das zweite Harfen-Stück, kurz, warm und voll, mit einer Melodie und Begleitakkorden, die mich ein wenig an die Musik von Luiz Bonfá und Antonio Carlos Jobim für den Film „Orfeu negro“ erinnerten.

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #159: Martial Solal (1927–2024) – 21.1., 22:00; #160: 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba