Startseite › Foren › Über Bands, Solokünstler und Genres › Eine Frage des Stils › Blue Note – das Jazzforum › 100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert
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John Tynan war vielleicht der erratischste Downbeat reviewer… Ich auch glaub auch mit einem starken bias für Sachen aus Kalifornien… Ist ja echt nicht einfach, Sachen innerhalb weniger Tage für die Ewigkeit zu besternen… Und teilweise schreibt er auch gute Sachen, aber … Hatte die Tage einen Downbeat Bft vor Augen, wo jemand den Three Sound ***** gab und bei allem anderen kritisch war, aber komm nicht mehr drauf… Iverson hatte heute einen schönen Nachruf auf Hal Galper… Wie der gesagt hat, dass er lange wie McCoy Tuner spielen musste so wie jeder (Tyner war jünger als er…) aber mit den Jahren wieder mehr Platz für seine echten Favoriten Ahmad Jamal und Tommy Flanagan hatte…
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MONK’S DREAM
monk, rouse, ore, dunlop, macero, geelan (31.10./1.11./2.11./6.11.1962)
während das peterson trio ruhig durch die nacht dampft, löst thelonious monk (erster eintrag in dieser liste) das gleichmaß fast komplett auf. das schlagzeug ist stark synkopiert, der bass kommt immer wieder zwangsläufig ins stolpern, das saxofon kickt und das klavier stört. eine kette von dissonanzen und scheinbar falschen tönen, die im rythmus aufgefangen wird – jede rechnung aus brüchen geht auf, alles ergibt einen sinn, wenn der ryhmus derartig gut lesbar ist. alles klingt frisch hier, im aufwärmen der bereits eingespielten originale für columbia, weil monk nach laune neue harmonien erfindet und rouse die neuen signale hört. das klaviersolo im titelstück verschiebt das, was als standard gilt, sehr weit ins offene – und die tatsächlichen standards haben neue spitzen, die sich in schrägen rampen verkeilen. das kurze „just a gigolo“ ist fast entwaffnend roh, und darin schon fast wieder sentimental. und die aufnahme hat raum und luft und eine selbstbewusste große geste: klassische dissonanz. verkantetes ansteuern des tons, bis er sitzt und anspringt.Schön geschrieben! Aber hier wird schneller geschrieben als ich hören kann. Da komme ich kaum mit.
Thelonious Monk war einer meiner Erstbegegnungen mit Jazz, ich glaube vermittelt durch das gar nicht so üble Tribut-Album That’s The Way I Feel Now. Einige Zeit später habe ich ein ganzes Bündel der damals von zyx vertriebenen Prestige und Riverside-Alben als CDs zum Schnäppchenpreis bei Zweitausendeins gekauft. Das war damals ziemlich faszinierend. Monks Columbia-Aufnahmen habe ich erst später kennengelernt und kenne auch nur wenige. Monk’s Dream dürfte eins der letzten Alben von Monk sein, die ich gekauft habe. Da erlahmte mein Interesse schon ein wenig. Und im Nachhinein kann man sagen, dass bei Monk auf Columbia auch eine zunehmende Redundanz einsetzte.
Nach laaanger Zeit jetzt also wieder Monk’s Dream eingelegt. Aus der neu gewonnenen Distanz betrachtet, hat das schon wieder seinen Reiz. Zwar wirkt Monk hier nicht mehr ganz so faszinierend exzentrisch wie in den Jahren davor, dafür klingt die Musik aber gereift und rund, sicher auch von Produzent Teo Macero etwas konsumentenfeundlicher produziert.
Manchmal denke ich, wie einfach sich diese Musik anhört. Das Thema von Bright Mississippi könnte auch ein Kinderlied sein. Aber dann werden diese einfachen Themen auseinander genommen und anders wieder zusammengesetzt, auf den Kopf gestellt, gedehnt und gestaucht. Monk scheint zwischendurch ein paar Töne zu vergessen und sie dann schnell hinterher zu werfen, scheint mal einen Ton zu hoch, dafür aber einen anderen zu tief zu spielen, mal einen zu kurz, dafür einen anderen zu lang und die Akkorde klingen manchmal etwas schief. Aber alles zusammen ergibt wieder Sinn!
Bolivar Blues (der ursprüngliche Titel lautete Ba-Lue Bolivar Ba-Lues-Are, auch so ein Monkismus, den man hier etwas geglättet hat) ist eine feine Coverversion von Monks eigenem Stück, mit der schönen neuen Klaviereinleitung des Themas und eines der grandios genial bescheuertsten Kalviersoli, die ich kenne. Ab ca. 4:15 bis 5:00. Einfach nur einen Ton spielen, immer die gleiche Tonlänge, immer die gleiche Akzentuierung, die Tastatur hin und her, hoch und runter. Ping ping pang pong ping pang pong pang ping … Jeder Klavierlehrer würde davon abraten. Aber wie spannend Monk das macht!
Wahrscheinlich reiner Zufall, das Monk’s Dream in der RS-Liste direkt auf Oscar Petersons Night Train folgt. Viel unterschiedlicher können zwei Pianisten kaum sein. Berühmt berüchtigt ist der Blind Fold Test mit Thelonious Monk von 1966, bei dem er bei einem Stück von Oscar Peterson einfach aufs Klo geht.
Monk’s Dream klingt mir Jahre nach der Erst- und Letztbegegnung wieder schön frisch und macht Spaß. Vielleicht würde ich Monks zweitem Album für Columbia, Criss Cross, knapp den Vorzug geben, allein wegen des Titelstücks und Crepuscule With Nellie. Aber das ist Haarspalterei.
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“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.” (From the movie Sinners by Ryan Coogler)vorgarten50
EASTERN SOUNDS
lateef, harris, farrow, humphries, edwards, van gelder (5.9.1961)
ein klassiker hier in diesem forum, ein in seiner geste und geschlossenheit außergewöhnliches album, das sich nicht auf „frühe weltmusik“ reduzieren lässt, denn das machte lateef vor diesen aufnahmen schon jahrelang. ein in ein samtiges dunkel eingehülltes stimmungswerk, einfache strukturen eigentlich, über bluesige kanten gelegt, mit ein paar asiatischen instrumentenklangfarben und zwei aus sandalenfilmen ausgeborgten themen. die stimmung ist weder leicht noch hektisch, manche erwähnen den detroitbezug von lateef, harris und farrow als erklärung für die dunkle eleganz dieses bandsounds, der vielfach auf john coltrane verweist: „india“ live im village vanguard hat auch eine oboe, hier spielt der halbbruder seiner späteren frau ein instrument namens rubab (hier „rabat“ genannt), und der rollende groove auf „snafu“ ist von elvin jones abgelauscht. die gravitas von lateef kommt durch das unforcierte modellieren von manchmal nur wenigen tönen, nicht nur im opener, den er mit seiner tonreduzierten und tatsächlich aus ton gemachten chinesischen flöte bestreitet, es gelingt ihm auch auf der fast stillstehenden ballade „purple flower“ ganz herkömmlich mit tenorsaxofon. barry harris verzichtet auch auf horizontales ausbreiten von linien, schichtet dafür türme aus ambivalenten akkorden hinzu, die wie im moment und im austausch überlegt erscheinen. interessant auch der filmbezug, die filmthemen natürlich, aber auch die soundtrackaffine mood-arbeit, die dunkle straßen, glitzernde effekte, interessant kadrierten stillstand evozieren. van gelder hat großen anteil daran, die musik scheint ein bisschen zu schweben, die drums klingen unglaublich gut, selbst barry harris findet sich in der wüste zurecht. es liegt etwas in der luft hier, ideen, die viele musiker*innen damals interessierten, wie man linerare bewegungen beschränkt und alles in die tiefe staffelt, die hektik herausnimmt und und andere welten durch die urbanen tonstudios wehen lässt. eine durchgelüftete musik, die genau weiß, wo sie steht.Wiederhören macht Freude: Ganz wunderbares Album! Die Wertschätzung des Albums in diesem Forum ist erfreulich und spricht für die Forianer.
Ein bisschen Senf von mir dazu:
Das Album balanciert sehr schön zwischen schmusiger Gefälligkeit und künstlerischer Herausforderung, Exotica und Vertrautheit. Die Veröffentlichung auf dem – wie der Name sagt, auf „mood“ spezialisierten – Prestige Unterlabel Moodsville ist hier Programm und in den liner notes wird Yusef Lateef als hier „more easily palatable“ („leichter genießbar“) beschrieben.
Beim Wiederhören denke ich, dass YL sich mit fast kindlicher Unbefangenheit und Neugier Musik aus sehr unterschiedlichen Zusammenhängen nähert und sie vermischt. Da ist die chinesische Tonflöte mit den nur 5 Tönen, die zentralasiatische Rubab, ein Blues (!) For The Orient, die zwei mehr oder weniger faux oriental Sandalenfilm-Liebesschnulzen (könnte man fast so sagen …) und in diesem Mix wirkt der einzige Standard Don’t Blame Me fast schon außergewöhnlich. Nord-Amerika, Naher Osten, Afghanistan und China werden lustig miteinander kombiniert. Aber östlich des Bosporus’ scheint für den Westler sowieso alles geheimnisvoll miteinander zu verschwimmen.
Umso erstaunlicher, dass das alles gar nicht gezwungen, zusammengewürfelt oder gar albern klingt, sondern völlig rund und stimmig. Lateef nimmt das alles ernst – aber nicht zu ernst – und es gelingt ihm, es zu integrieren. Einerseits ist das sehr facettenreich und jedes Stück hat seinen ganz eigenen Charakter, wobei das verbindende ein mehr oder weniger starker „orientalischer“ Bezug ist, andererseits halten die geschmeidig spielende Band und YL als bezaubernd zarter Melodiker auf Flöte, Saxofon und Oboe das alles zusammen.
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“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.” (From the movie Sinners by Ryan Coogler)48
COIN COIN CHAPTER ONE – GENS DU COULEUR LIBRES
roberts, jain, ryshpan, caloia, epps, lipson, bazil, sharp, hratchian, dion, zubot, davidson, gamble, amar, fortune, payant, roberts, moumneh (7/2010)
das jüngste album in der rolling-stone-jazzliste war 2011 ein instant classic. die zeit war reif für eine saxofonistin, die sich großes vorgenommen hat (bleys ESCALATOR kommt noch, mary lou williams‘ messen sind fehlanzeige, aber das waren pianistinnen). matana roberts projekt ist dabei im kern hauntologisch, als geister aus der liste sind holidays „strange fruit“ und oscar brown jr.s „bid ‚em in“ anwesend, von letzterem spricht nicht nur der signifizierte sklavenverkäufer, sondern – mit einem lässigen perspektivwechsel – auch eine der zum verkauf stehenden frauen, die (in einer fast fröhlichen musikalischen aufwärtsbewegung) sich mokierend in die käufer-interessen einfühlt. was zur hauntologie und zum signifying passt, ist, dass die musikerin und konzeptualistin hier nicht die geschichte der afrikaner in amerika aufblättert, sondern aus recherchierten geschichten und ungehörten stimmen schicksale und gleichzeitig potenziale alternativer (vergangener) zukünfte entwirft. wenn schon bestimmten menschen in der geschichte der subjektstatus aberkannt wird und ihre geschichten deshalb nicht überliefert wurden, kann man daraus auch alles unmögliche und undenkbare spekulieren. aber ein historisches vorbild gibt es in kapitel eins (wie auch in den folgenden vier, bisher, geplant sind ja zwölf) dann doch, marie thérèse coincoin, die 1778 aus der sklaverei befreit wurde und eine schwarze gemeinschaft in louisiana aufbaute.
musikalisch passt das patchwork zur kritik identitärer konzepte – vielstimmigkeit statt reduzierende opfergeschichte, auch die sounds und die töne spekulieren. das ist gleichzeitig ambitioniert zusammengestrickt und gleichzeitig völlig offen, macht viele angebote, man kann erschaudern, finger schnippen, nur über musik oder auch nur über botschaften nachdenken. der schrei geht durchs instrument und wird technisch, die subjektive vorstellung wird mit 30 menschen im studio zu einer kollektiven séance. die geister unterbrechen die gegenwart, fügen ihr brüche und verstauchungen zu. singende sägen und splitternde knochen, folter und freie wahl des geschicks. am ende heißt es „celebrate life“, auch wenn dafür vorher ein preis genannt wurde. how much would you cost?
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MUSIC IS THE HEALING FORCE OF THE UNIVERSE
ayler, few, james, folwell, ali, parker, vestine, michel, sawtelle (26./27.8.1969)wenn man dieses heiße durcheinander hört, scheint die hoffnung, die im titel anklingt, bereits ihre enttäuschung eingepreist zu haben. musik ja: dudelsack, calypso, spiritueller freejazz, bluesrock, aber da heilt nichts mehr. vom physischen wühlen im vormusikalischen urschlamm auf SPIRITUAL UNITY ist hier fast nur das durchatmen übrig geblieben, auch wenn davon immer noch alles mögliche an material in bewegung versetzt wird. der in die zukunft gerichtete hippie-vibe von NEW GRASS und und LOVE CRY: hier schon wieder ausgeatmet. an den nerven zerren die dudelsacksounds, mit weiteren dudelsack-overdubs (oder ist das sängerin und partnerin mary maria parks am sopransax?), der schiefe gesang von ayler, der aus „oh! love of life“ fast eine farce macht, das schweinegitarrensolo von henry vestine (canned heat). die linearen lesart einer zunehmenden eindunklung der ayler-musik und ihrer zunehmend düsteren beziehung zum universum, die den bruder und die mutter nicht loswird, die neue partnerin nicht halten kann und höchstwahrscheinlich mit einem sprung von der brücke endet, passt aber auch nicht, denn im sommer 1970 stellen ayler und parks ja noch ein live-programm für eine europatour zusammen, in dem hippiemusik, SPIRITUAL UNITY und das material der letzten session (das hier und das vom LAST ALBUM) schulterschließend nebeneinanderstehen. die schwarmintelligenz des rolling stone konnte sich, kontexte und lesarten hin oder her, auf den schief gewachsenen steinbruch einigen, der dieses album ist. seit dem urteil des down beat („an almost unlistenable disaster“) ist offenbar entscheidende zeit vergangen und neue zugänge scheinen gefunden worden zu sein. ich selbst bin nicht ganz sicher.
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FUSION
giuffre, bley, swallow, taylor, olmstead (3.3.1961)drittes album dieser schlagzeuglosen individualisten-combo, dabei verläuft die höhe der platzierung entgegen des aufnahemdatums: toll, diese band, aber irgendwie waren sie auf dem falschen weg. hier, an ihrem anfang, spielen sie noch metrisch gebunden, verschmelzen, wie der titel schon sagt, und haben im synkopierten stil und den blues-verankerungen dezidierten jazz-bezug. danach die reibung (oft zwei gegen einen, im wechsel, „tension), schließlich der freie fall in die gleichzeitige verschiedenheit, „free fall“. man muss diese titel vielleicht nicht zu ernst nehmen, aber bevor etwas fusionert, muss es ja schmelzen, und am ende geht es um den guss, also die gemeinsame form. und da ist das studio hier entscheidend, die räumliche entfaltung dieser musik, die man sich niemals live vorstellen könnte. jazz als erhitzung, der mithallende geschlossene innenraum als gussform.
manchmal denkt man: selten so etwas schönes, stimmungsvolles gehört. carla bley ist daran nicht ganz unschuldig. freigeistige songs, festflexibler rhythmus, dazwischen schillert es, aber läuft nicht aus der form. etwas heiliges, das für sich stehen darf und vielleicht kein publikum braucht. trotzdem verstehe ich nicht, dass creed taylor hier schon abgewunken haben soll. satie hat sich doch 1961 auch schon verkauft, vielleicht sogar in bachelor pads mit guten stereoanlagen? das original war in mono, vielleicht eine zu wortwörtliche übersetzung von „fusion“, die den raum unterschlagen hat.
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Ha, endlich mal eine Platte, die ich schon kenne!
vorgarten48
COIN COIN CHAPTER ONE – GENS DU COULEUR LIBRES roberts, jain, ryshpan, caloia, epps, lipson, bazil, sharp, hratchian, dion, zubot, davidson, gamble, amar, fortune, payant, roberts, moumneh (7/2010)
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musikalisch passt das patchwork zur kritik identitärer konzepte – vielstimmigkeit statt reduzierende opfergeschichte, auch die sounds und die töne spekulieren. das ist gleichzeitig ambitioniert zusammengestrickt und gleichzeitig völlig offen, macht viele angebote, man kann erschaudern, finger schnippen, nur über musik oder auch nur über botschaften nachdenken. der schrei geht durchs instrument und wird technisch, die subjektive vorstellung wird mit 30 menschen im studio zu einer kollektiven séance. die geister unterbrechen die gegenwart, fügen ihr brüche und verstauchungen zu. singende sägen und splitternde knochen, folter und freie wahl des geschicks. am ende heißt es „celebrate life“, auch wenn dafür vorher ein preis genannt wurde. how much would you cost?Treffend beschrieben: Wenn man als wie ich eher Jazz-Unbewanderter an so eine Platte herangehe, vor denen Leute mit „Achtung, Free Jazz!“ gewarnt haben, dann erwartet man alles andere als leichtes Material. Und das ist die Platte auch nicht, aber ein unerwartet unterhaltsamer Sack Weihnachtsgeschenke, ein, angesichts des Themas wohl eher düsterer, Karnevalswagen, ein Aufblitzen und wieder Verlöschen von Unmengen Ideen, alle geeint durch Weihnachtsmann, Funkenmariechen und Daniel Düsentrieb Matana Roberts, die Verpackungen, Kamellen und, ich nenne es mal Vorschläge, im Raum verteilt. Man ist zunächst etwas verwirrt, ja überfordert, erkennt dann aber, auch abseits vom durchaus stringentem Text-Thema, die einenden Elemente, die Form und wenn es nur das ist, dass die Platte eben dieser Sack Flöhe ist. Höre ich sicher nicht dauernd, aber immer gerne wieder. Und entdecken kann man immer noch etwas. Vielleicht war es ja diese lebendige Melange, die die nachfolgenden Alben mauer (aber nicht mau) aussehen ließ?
zuletzt geändert von latho--
If you talk bad about country music, it's like saying bad things about my momma. Them's fightin' words.45
SAXOPHONE COLOSSUS
rollins, flanagan, watkins, roach, weinstock, van gelder (22.6.1956)jetzt war ich mir eigentlich sicher, dass in dieser liste das albumformat ernstgenommen wird und entsprechende medienbewusste konzepte besondere wertschätzung erhalten – und dann kommt als rollins-spitzenprodukt eben doch nicht die FREEDOM SUITE ins rampenlicht, sondern diese durchbruch-session, die meiner ansicht komplett in 2 teile zerfällt. seite eins gehört für mich zum besten, was ich vom jazz dieser zeit kenne. und seite zwei besteht meiner ansicht nach aus zwei unnötig ausgedehten fillern, denen der biss der drei anderen stücke komplett abgeht. für beide aussagen darf ich wahrscheinlich widerspruch erwarten.
„st. thomas“ und „strode rode“ zu lieben, ist wahrscheinlich nachvollziehbar. tolle beispiele, wie ein analytischer zugang (von rollins und roach) eben nicht zu kühle, sondern zu großer hitze führen kann. der umschwung des ersten vom calypso in den swing, die stop-and-go-struktur (stau und ausbruch) des zweiten stücks sind alte tricks, aber hier einfach umwerfend. netze werden geworfen, über akkorde (rollins) und rhythmen (roach), und dazwischen springen sie frei umher. ein bisschen mackerhaft, autoritär und in totaler kontrolle, vorgebend, wo es langgeht – dann der kontrast zum reduziert spielenden flanagan, dem zwar manchmal die luft ausgeht, aber so selbstsicher bei sich bleibt, dass rollins dagegen umso angespitzter wirken darf (und: fantastisches klaviersolo über „strode rode“, wirklich – da wird hitze nochmal ganz anders erzeugt). und auch der balladenstandard profitiert von analyse und kontrast, rollins will da die ganze zeit über mehr als nötig, das setzt sich nichts, nimmt nichts platz, sondern wirft die ganze zeit fragen auf, warum das so intensiv unter druck gesetzt wird. schwachpunkt der gesamten aufnahme ist für mich watkins, der vielleicht einen schlechten tag hatte oder einfach nur seinen job machen wollte – sture, fast maschinelle begleitung, ein nicht sehr inspiriertes solo, als einziger kriegt er nicht mit, wie aus den fours ein schlagzeugsolo entsteht, nur beim blues ist er agiler, auch wenn sein intro dazu etwas unscharf ausfällt.
„moritat“ und „blue 7“ dagegen (ohne weh zu tun): entspannt, midtempo, nach 4 minuten sind alle eigentlich fertig, dann muss roach nochmal ran, dann reicht es immer noch nicht. vielleicht lag eine mittagspause dazwischen, vielleicht waren die verabredungen bei beiden zu locker, vielleicht mag ich einfach den mackie-messer-song nicht. aber da wird das programm zu einer dehn- und streckübung, während „st.thomas“, zunächst auf ein schimmerndes skelett mit polierten knochen reduziert, das plötzlich zu hüpfen anfängt, mich immer noch herausfordert.
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lathoWenn man als wie ich eher Jazz-Unbewanderter an so eine Platte herangehe, vor denen Leute mit „Achtung, Free Jazz!“ gewarnt haben, dann erwartet man alles andere als leichtes Material. Und das ist die Platte auch nicht, aber ein unerwartet unterhaltsamer Sack Weihnachtsgeschenke, ein, angesichts des Themas wohl eher düsterer, Karnevalswagen, ein Aufblitzen und wieder Verlöschen von Unmengen Ideen, alle geeint durch Weihnachtsmann, Funkenmariechen und Daniel Düsentrieb Matana Roberts, die Verpackungen, Kamellen und, ich nenne es mal Vorschläge, im Raum verteilt. Man ist zunächst etwas verwirrt, ja überfordert, erkennt dann aber, auch abseits vom durchaus stringentem Text-Thema, die einenden Elemente, die Form und wenn es nur das ist, das die Platte eben dieser Sack Flöhe ist. Höre ich sicher nicht dauernd, aber immer gerne wieder. Und entdecken kann man immer noch etwas. Vielleicht war es ja diese lebendige Melange, die die nachfolgenden Alben mauer (aber nicht mau) aussehen ließ?
das verstehe ich alles sehr gut. ich habe bei chapter four nochmal neu feuer gefangen, aber frage mich eigentlich immer noch, warum das erste album solch ein crossover-erfolg war (obwohl ich es auch sofort gekauft habe und mochte). was du beschreibst, ist ganz sicher einer der schlüssel.
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ATTICA BLUES
shepp, hull, wilson, massey, burrowes, ridley, mcghee, thornton, stephens, zawadi, grenlee, jami, brown, white, robinson, alexander, ware, jenkins, davis jr., burrell, dupree, garrison, jemmott, wilson, harris, higgins, anderson, sultan, dfense, blake, shankar, lipscomb, scott, armstead, robinson, massey, franceschini, michel, may (24.-26.1.1972)„i would rather be a plant than a man in this land“, wird zwischendurch der dichtende drummer william g. („beaver“) harris zitiert. das mit dem um- und verpflanzen hatte shepp zu diesem zeitpunkt kurz unterbrochen und sich wieder eingetopft in seine impulse!-connection, in die blutgetränkte erde des heimatlands und neue triebe gebildet im verzweigten wurzelsystem der afroamerikanischen musik. r&b, soulgesang, e-pianos, streicher, sopransaxofon und drones vom bassisten john coltranes sind zu hören, als patchworkgebilde nicht total fremd im shepp-system (in der pariser zeit und davor gab es bluesharmonicas, spirituals, bossa nova und early-jazz-referenzen), deutlicher sind hier aber die popmusikalischen angebote. der kommerzialisierungsvorwurf trifft natürlich nicht, es geht um geteilte erfahrung, und eh, frei nach amiri baraka, ist jeder beitrag zur afroamerikanischen musik ein politisches statement.
interessant, ATTICA BLUES nach matana roberts zu hören, ein weiteres aufgeladenes vielschichtiges gebilde seiner zeit mit vielen möglichkeiten des unterschiedlichen einhakens. der produzent ed michel setzt aber nicht auf einen live-organismus, sondern montiert ein studioschichtwerk, in dem musikstücke von rezitationen unterbrochen werden, es gibt überblendungen, fade-outs, wechselnde besetzungen. ein soundtrack der misere in fragmentierter schönheit. das ist nicht unbedingt ein shepp-album – seine individuelle stimme verschmilzt hier genauso wie die von anderen mehrfach verpflanzten und umgetopften freigeistern wie marion brown, clifford thornton, dave burrell oder beaver harris. trotzdem ist es wichtig, dass das hier alles so gerade nicht funktional klingt: der im musikgeschäft glücklose soulsänger carl hall (hier als „henry hull“) bringt eine androgyne spannung mit ein, am ende singt cal masseys junge tochter, deren einsatz deutlich macht, dass es hier nicht um pitch geht – und natürlich spielen auch die von leroy jenkins angeführten streicher, marion brown, cal massey und shepp selbst keine glatten floskeln. richtige shepps-fans hätte (bzw. haben bestimmt auch) den albumvorgänger THINGS HAVE GOT TO CHANGE höher platziert, aber ATTICA BLUES ist deutlichere konzeptmusik, hat einen album-flow und den ereignisreichen spagat zwischen linksaktivistischem netzwerk, literarizität und afroamerikanischem popkontinuum. hier ist musik vielleicht nicht the healing force of the universe, aber unbedingt jahrhundertelange sorge um die menschliche seele, die in polizeiattacken auf protestierende inhaftierte auf der strecke bleibt.
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vorgartenwas zur hauntologie und zum signifying passt, ist, dass die musikerin und konzeptualistin hier nicht die geschichte der afrikaner in amerika aufblättert, sondern aus recherchierten geschichten und ungehörten stimmen schicksale und gleichzeitig potenziale alternativer (vergangener) zukünfte entwirft. wenn schon bestimmten menschen in der geschichte der subjektstatus aberkannt wird und ihre geschichten deshalb nicht überliefert wurden, kann man daraus auch alles unmögliche und undenkbare spekulieren. aber ein historisches vorbild gibt es in kapitel eins (wie auch in den folgenden vier, bisher, geplant sind ja zwölf) dann doch, marie thérèse coincoin, die 1778 aus der sklaverei befreit wurde und eine schwarze gemeinschaft in louisiana aufbaute. musikalisch passt das patchwork zur kritik identitärer konzepte – vielstimmigkeit statt reduzierende opfergeschichte
Finde den Text auch sehr schön, spannend ist ja, dass CoinCoin selbst Sklaven in beträchtlichem Umfang besaß (der genaue Umfang ist nicht klar), was in colonial Louisiana wohl nicht unüblich war. Die Regeln der Sklaverei waren kurz vor dem Bürgerkrieg sehr strikt (und Freilassung kaum noch möglich), aber gegen Ende des 18. Jahrhunderts konnte die Sklaverei noch erstaunlich durchlässig sein, ganz besonders natürlich in Louisiana, wo es eine große Tradition der Gemeinschaften freier Schwarzer gab, von denen einige sehr wohlhabend waren. In anderen Südstaaten wie Alabama oder South Carolina wäre eine solche Geschichte nicht denkbar gewesen. Passt also auch zur Vielstimmigkeit der Geschichte.
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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.danke, das war mir gar nicht klar. auf wiki wird gemutmaßt, dass sie andere sklaven, z.t. angehörige, gekauft hat, um sie aus problematischeren abhängigkeitsverhältnissen zu befreien. so oder so ein komplexes ökonomisches system.
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Absolut, Sklaverei ist immer ein hochkomplexes System.
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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum. -
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