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ATTICA BLUES
shepp, hull, wilson, massey, burrowes, ridley, mcghee, thornton, stephens, zawadi, grenlee, jami, brown, white, robinson, alexander, ware, jenkins, davis jr., burrell, dupree, garrison, jemmott, wilson, harris, higgins, anderson, sultan, dfense, blake, shankar, lipscomb, scott, armstead, robinson, massey, franceschini, michel, may (24.-26.1.1972)
„i would rather be a plant than a man in this land“, wird zwischendurch der dichtende drummer william g. („beaver“) harris zitiert. das mit dem um- und verpflanzen hatte shepp zu diesem zeitpunkt kurz unterbrochen und sich wieder eingetopft in seine impulse!-connection, in die blutgetränkte erde des heimatlands und neue triebe gebildet im verzweigten wurzelsystem der afroamerikanischen musik. r&b, soulgesang, e-pianos, streicher, sopransaxofon und drones vom bassisten john coltranes sind zu hören, als patchworkgebilde nicht total fremd im shepp-system (in der pariser zeit und davor gab es bluesharmonicas, spirituals, bossa nova und early-jazz-referenzen), deutlicher sind hier aber die popmusikalischen angebote. der kommerzialisierungsvorwurf trifft natürlich nicht, es geht um geteilte erfahrung, und eh, frei nach amiri baraka, ist jeder beitrag zur afroamerikanischen musik ein politisches statement.
interessant, ATTICA BLUES nach matana roberts zu hören, ein weiteres aufgeladenes vielschichtiges gebilde seiner zeit mit vielen möglichkeiten des unterschiedlichen einhakens. der produzent ed michel setzt aber nicht auf einen live-organismus, sondern montiert ein studioschichtwerk, in dem musikstücke von rezitationen unterbrochen werden, es gibt überblendungen, fade-outs, wechselnde besetzungen. ein soundtrack der misere in fragmentierter schönheit. das ist nicht unbedingt ein shepp-album – seine individuelle stimme verschmilzt hier genauso wie die von anderen mehrfach verpflanzten und umgetopften freigeistern wie marion brown, clifford thornton, dave burrell oder beaver harris. trotzdem ist es wichtig, dass das hier alles so gerade nicht funktional klingt: der im musikgeschäft glücklose soulsänger carl hall (hier als „henry hull“) bringt eine androgyne spannung mit ein, am ende singt cal masseys junge tochter, deren einsatz deutlich macht, dass es hier nicht um pitch geht – und natürlich spielen auch die von leroy jenkins angeführten streicher, marion brown, cal massey und shepp selbst keine glatten floskeln. richtige shepps-fans hätte (bzw. haben bestimmt auch) den albumvorgänger THINGS HAVE GOT TO CHANGE höher platziert, aber ATTICA BLUES ist deutlichere konzeptmusik, hat einen album-flow und den ereignisreichen spagat zwischen linksaktivistischem netzwerk, literarizität und afroamerikanischem popkontinuum. hier ist musik vielleicht nicht the healing force of the universe, aber unbedingt jahrhundertelange sorge um die menschliche seele, die in polizeiattacken auf protestierende inhaftierte auf der strecke bleibt.
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