Antwort auf: 100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

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COIN COIN CHAPTER ONE – GENS DU COULEUR LIBRES

roberts, jain, ryshpan, caloia, epps, lipson, bazil, sharp, hratchian, dion, zubot, davidson, gamble, amar, fortune, payant, roberts, moumneh (7/2010)

das jüngste album in der rolling-stone-jazzliste war 2011 ein instant classic. die zeit war reif für eine saxofonistin, die sich großes vorgenommen hat (bleys ESCALATOR kommt noch, mary lou williams‘ messen sind fehlanzeige, aber das waren pianistinnen). matana roberts projekt ist dabei im kern hauntologisch, als geister aus der liste sind holidays „strange fruit“ und oscar brown jr.s „bid ‚em in“ anwesend, von letzterem spricht nicht nur der signifizierte sklavenverkäufer, sondern – mit einem lässigen perspektivwechsel – auch eine der zum verkauf stehenden frauen, die (in einer fast fröhlichen musikalischen aufwärtsbewegung) sich mokierend in die käufer-interessen einfühlt. was zur hauntologie und zum signifying passt, ist, dass die musikerin und konzeptualistin hier nicht die geschichte der afrikaner in amerika aufblättert, sondern aus recherchierten geschichten und ungehörten stimmen schicksale und gleichzeitig potenziale alternativer (vergangener) zukünfte entwirft. wenn schon bestimmten menschen in der geschichte der subjektstatus aberkannt wird und ihre geschichten deshalb nicht überliefert wurden, kann man daraus auch alles unmögliche und undenkbare spekulieren. aber ein historisches vorbild gibt es in kapitel eins (wie auch in den folgenden vier, bisher, geplant sind ja zwölf) dann doch, marie thérèse coincoin, die 1778 aus der sklaverei befreit wurde und eine schwarze gemeinschaft in louisiana aufbaute.

musikalisch passt das patchwork zur kritik identitärer konzepte – vielstimmigkeit statt reduzierende opfergeschichte, auch die sounds und die töne spekulieren. das ist gleichzeitig ambitioniert zusammengestrickt und gleichzeitig völlig offen, macht viele angebote, man kann erschaudern, finger schnippen, nur über musik oder auch nur über botschaften nachdenken. der schrei geht durchs instrument und wird technisch, die subjektive vorstellung wird mit 30 menschen im studio zu einer kollektiven séance. die geister unterbrechen die gegenwart, fügen ihr brüche und verstauchungen zu. singende sägen und splitternde knochen, folter und freie wahl des geschicks. am ende heißt es „celebrate life“, auch wenn dafür vorher ein preis genannt wurde. how much would you cost?

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