Jazz ab 1980

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  • #5139917  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Ich weiss grad nicht, wo ich das besser unterbringen könnte… den M-Base-Thread müsste vorgarten mal starten, aber auch dort wär das nur halbwegs am rechten Ort:

    Steve Lehman Octet – Travail, Transformation, and Flow (Pi Recordings)

    Steve Lehman ist es mit der Musik zweifellos ernst, aber irgendwie lässt mich diese Scheibe (bisher die einzige, die ich kenne, und war auch bloss ein Zufallsfund vor ein paar Monaten) eigenartig kalt – oder eher kühl. Die Musik changiert zwischen den klassischen Blue Note Sounds von Bobby Hutcherson und Andrew Hill, den Grooves und vertrackten Beats von Steve Coleman (daher M-Base) aber es gibt auch Momente, in denen ich an Henry Threadgill erinnert werde… in der Dankesliste fehlt der zwar ebenso wie Hutcherson, aber Andrew Hill und Jay Hoggard finden sich da, ebenso wie Altsax-Übervater Jackie McLean (der wohl auch für Steve Coleman recht wichtig war?), Anthony Braxton und George Lewis, sowie aus der jüngeren Generation u.a. Rudresh Mahanthappa und Vijay Iyer (was wiederum keine Überraschung ist).

    Kennt jemand mehr von Lehman? Mich faszinieren die Klänge, grad die Tuba (José d’Avila spielt auch seit einigen Jahren in den Gruppen von Henry Threadgill mit) gibt dem Ensemble einen erdigen Klang, das Zusammenspiel mit dem Bass von Drew Gress passt sehr gut und verstärkt den Effekt, dass die Musik Boden hat. Zudem steuert Mark Shim (ein komplett unterschätzter und leider nur selten anzutreffender Musiker) ein paar wunderbare Momente am Tenorsax bei – sein Spiel ist ebenfalls sehr geerdet, viel stärker als jenes von Lehman und Trompeter Jonathan Finlayson. Tim Albright spielt Posaune, fiel mir bisher aber v.a. als zusätzliche Stimme in den Ensembles auf, die oft ausgeklügelt sind und hinter den Soli weiterlaufen. Am Vibraphon ist Chris Dingman, ein mir gänzlich unbekannter Musiker, und die Beats kommen in gewohnt gekonnter Manier Tyshawn Sorey.

    Ich höre die Scheibe jetzt schon zum zweiten Mal am Stück (sie ist mit 40 Minuten erfrischen kurz, das lob ich mir! Leider dauern heute ja sehr viele Alben zu lange!). Manches mag zu „clever“, zu „slick“ sein, aber nein, ich glaub die Scheibe beginnt mir langsam richtig gefallen!

    --

    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 (Teil 1) - 19.12.2024 – 20:00; #159: Martial Solal (1927–2024) – 21.1., 22:00; #160: 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
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    #5139919  | PERMALINK

    vorgarten

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    gypsy tail windden M-Base-Thread müsste vorgarten mal starten

    ne, das mache ich nicht. „m-base“ ist mir eine zu große schublade, obwohl es schon einen interessanten gründungsimpuls gab (anfang der 80er funk & avantgardejazz zu verbinden und so aus der fusion-ecke rauszukommen) und viele tolle musiker dort zum ersten mal formulierten, was sie der jazzgeschichte noch hinzufügen könnten (geri allen, steve coleman, graham haynes, robin & kevin eubanks, cassandra wilson usw.). aber dann hat sich das ja schnell auseinanderentwickelt, entweder in individuelle personalstile oder ins adaptieren der nächsten mode, während coleman von anfang an eher als singuläres phänomen zu betrachten ist, wie ich finde.

    aber es gab und gibt da keine feste definition – eher wird der begriff unscharf dazu verwendet, sich originelle beiträge einzelner musiker vom hals zu halten oder nicht genau hinzuhören.

    gypsy tail wind
    Steve Lehman Octet – Travail, Transformation, and Flow (Pi Recordings)

    mit dem album hatte ich große schwierigkeiten, müsste ich nochmal genauer hören. ich mag aber DEMIAN AS POSTHUMAN sehr gerne (s. bft).

    gypsy tail windSteve Lehman ist es mit der Musik zweifellos ernst, aber irgendwie lässt mich diese Scheibe (bisher die einzige, die ich kenne, und war auch bloss ein Zufallsfund vor ein paar Monaten) eigenartig kalt – oder eher kühl. Die Musik changiert zwischen den klassischen Blue Note Sounds von Bobby Hutcherson und Andrew Hill, den Grooves und vertrackten Beats von Steve Coleman (daher M-Base) aber es gibt auch Momente, in denen ich an Henry Threadgill erinnert werde… in der Dankesliste fehlt der zwar ebenso wie Hutcherson, aber Andrew Hill und Jay Hoggard finden sich da, ebenso wie Altsax-Übervater Jackie McLean (der wohl auch für Steve Coleman recht wichtig war?), Anthony Braxton und George Lewis, sowie aus der jüngeren Generation u.a. Rudresh Mahanthappa und Vijay Iyer (was wiederum keine Überraschung ist).

    Kennt jemand mehr von Lehman? Mich faszinieren die Klänge, grad die Tuba (José d’Avila spielt auch seit einigen Jahren in den Gruppen von Henry Threadgill mit) gibt dem Ensemble einen erdigen Klang, das Zusammenspiel mit dem Bass von Drew Gress passt sehr gut und verstärkt den Effekt, dass die Musik Boden hat. Zudem steuert Mark Shim (ein komplett unterschätzter und leider nur selten anzutreffender Musiker) ein paar wunderbare Momente am Tenorsax bei – sein Spiel ist ebenfalls sehr geerdet, viel stärker als jenes von Lehman und Trompeter Jonathan Finlayson. Tim Albright spielt Posaune, fiel mir bisher aber v.a. als zusätzliche Stimme in den Ensembles auf, die oft ausgeklügelt sind und hinter den Soli weiterlaufen. Am Vibraphon ist Chris Dingman, ein mir gänzlich unbekannter Musiker, und die Beats kommen in gewohnt gekonnter Manier Tyshawn Sorey.

    Ich höre die Scheibe jetzt schon zum zweiten Mal am Stück (sie ist mit 40 Minuten erfrischen kurz, das lob ich mir! Leider dauern heute ja sehr viele Alben zu lange!). Manches mag zu „clever“, zu „slick“ sein, aber nein, ich glaub die Scheibe beginnt mir langsam richtig gefallen!

    albright (den finde ich äußerst talentiert), finlayson & sorey sind ja mitglieder der aktuellen steve-coleman-working-group FIVE ELEMENTS, ich mag die alle sehr. dass coleman sich mal auf jackie mclean berufen hätte, wäre mir neu (er nennt tatsächlich eher lee konitz als vorbild im eigenen instrumentenfach). was lehman angeht, bin ich immer noch sehr unentschieden. clever, slick, kühl… passt alles irgendwie. das ist auf jeden fall musik, die wirklich was will. aber ich finde – wenn man den vergleich wirklich mal ziehen will – dass steve colemans aktuelle sachen da eher von innen leben, wabern, organischer sind und auch rätselhafter in ihrer struktur und ihrem flow als lehmans musik, die eher wie von außen belebt wirkt.

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    #5139921  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Das mag sein, Du kennst Dich da ja bekanntlich besser aus als ich… aber verglichen mit den mir bekannten Coleman-Aufnahmen geschieht hier im Oktett eben doch mehr (und es braucht weder Rapper noch Sängerin), die Klangwelten, die Lehman schafft, scheinen mir nachdenklicher, atmosphärischer (eben näher bei Hill/Hutcherson und Threadgill – Leute, die mir bei Coleman niemals in den Sinn kommen).

    Eigenartig… ich bleibe jedenfalls dran.

    „Slick“ und „clever“ sind für mich an sich völlig negative Merkmale… oder zumindeste welche, zu denen ich sage: reicht mir nicht. Muss jetzt gleich los, diese Sekunde. Später mehr…

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    #5139923  | PERMALINK

    vorgarten

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    gypsy tail wind und es braucht weder Rapper noch Sängerin

    das ist auch schon wieder gemein… ;-)
    die rapper waren ein kleines coleman-projekt neben vielen und wurden diskografisch nur auf einer ep und einer lve-cd dokumentiert. und was gesang angeht, wird da viel unternommen, damit es eben kein gesang im klassischen sinn ist. und es gibt auch nicht zwangsläufig eine verbindung des coleman-konzepts zum gesang. und selbst wenn wäre das ein genauso logischer vorwurf wie „es braucht dazu nicht mal saxophone“.

    atmophärisch finde ich steve colemans musik eigentlich immer – vielleicht hast du wegen der cleanen jmt-produktionen aus den frühen 90ern etwas anderes im ohr. aber dieser sound hatte damals auch eher was mit durchhörbarkeit und transparenz zu tun (coleman lässt seit 1984 -fast- alles von joseph marciano aufnehmen).

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    #5139925  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Dass Coleman so wenig mit Gesang aufgenommen hat war mir nicht bewusst – das war also nicht fies gemeint. Ich kenne v.a. Radio-Mitschnitte und da ist leider meist eine Sängerin und oft zusätzlich ein Rapper dabei.

    Heute gab’s übrigens im Tagesanzeiger eine Besprechung der neuen CD Colemans, hab sie eben erst auf dem Heimweg gesehen und gelesen – klingt schon ziemlich gut! (Ist leider nicht online.)

    Was die cleane Produktion betrifft: ja, damit kann man mich in der Tat jagen – darunter leidet aber nicht nur JMT (mit dem Katalog hab ich mich kaum auseinandergesetzt, denke drei Motian-CDs sind alles, was ich da habe, gehört hab ich noch zwei oder drei schreckliche Cassandra Wilson CDs [Klammer in der Klammer: ihre Miles-Homage ist ganz gut, sonst brauch ich sie nicht, den jüngeren Diven-Quark sowieso nicht]) sondern ganz viele Produktionen aus den späten 70ern, den 80ern und auch noch den frühen 90ern. Bei den wenigen M-Base-Sachen, die ich gehört habe, bin ich aber etwa in gleichem Masse am wüsten Sound wie an der für mich seltsam leeren Musik – sie ist zwar überladen mit Beats und Rhythmen, mit Bläsern, Stimmen und Samples, aber es bleibt aus dem ganzen Teppich eben bei mir kaum was hängen – gescheitert. Coleman könnte da durchaus der Punkt sein, an dem ich mit der Zeit doch noch einen Einstieg finden könnte. (Da ich das üblicherweise aber – bin ich erstmal angefixt – mit der Anschaffung mindestens eines halben Dutzend CDs bewerkstellige, kommt das derzeit nicht in Frage, da ich mir fest vorgenommen habe, in den kommenden Monaten nicht so viel zu kaufen… die Sachen stapeln sich laufend an, hab z.B. noch immer ein Dutzend ungehörte Jarrett-CDs vor mir… und Hank Crawfords Atlantic-Alben – zwar alle schon gehört, aber noch nicht annähernd so vertieft, wie ich das gerne möchte!)

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    #5139927  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Hier ist der erwähnte Artikel zu Colemans neuem Album – in der Printausgabe erschien er gestern:
    http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/pop-und-jazz/Gehirnakrobatik-und-Groove-vom-Planeten-Mars/story/31146553

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    #5139929  | PERMALINK

    fef

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    Eins: Ich hab auch mehrmals die Behauptung gelesen, dass Steve Coleman von Lee Konitz beeinflusst wäre. Aber er hat das verneint. Konitz hat in den 1990er Jahren Coleman als seinen Alt-Saxofon-Favoriten genannt. – Vor allem Maceo Parker wird immer wieder fälschlicherweise als Einfluss genannt. McLean ist 100% kein Einfluss. Coleman hat seine Einflüsse offen dargelegt: http://www.jazzseite.at/Zur_Musik_von_Steve_Coleman/text_Ueberblick.html

    Ansonsten bin ich ziemlich pessimistisch, was die Möglichkeiten anbelangt, jemandem, der mit Colemans Musik nichts anfangen kann, ihn dennoch nahe zu bringen. Ich weiß von jungen Leuten, die ziemlich spontan darauf stehen. Ich denke, es hat viel mit Groove-Feeling zu tun. Ich sah bei einem Konzert eine junge Frau dazu tanzen und einige Zeit später las ich eine Rezension von einem Jazz-Experten, wie unmöglich Colemans Rhythmen doch sind. – Von der Tradition her ist meines Erachtens Charlie Parker eine Türe. Überhaupt: In meinen Augen ist Charlie Parker der Punkt, warum die 1960er vorbei sind! So ungefähr.

    --

    #5139931  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    FefColeman hat seine Einflüsse offen dargelegt: http://www.jazzseite.at/Zur_Musik_von_Steve_Coleman/text_Ueberblick.html

    Das hatten wir schonmal: Sowas muss nicht umfassend und auch nicht völlig zutreffend sein. Einflüsse und Prägungen sind doch bei jedem von uns komplex und vielschichtig, zu Teilen unbewusst, zu anderen Teilen bewusst und gesucht. Bloss weil ich sage, ich hätte nichts von meinem Vater geerbt (sag ich nicht, ist nur ein Beispiel) muss das noch lange nicht so sein.

    FefÜberhaupt: In meinen Augen ist Charlie Parker der Punkt, warum die 1960er vorbei sind! So ungefähr.

    Den Satz versteh ich gar nicht. Was willst Du damit sagen? Parker ist mitten in den 50ern gestorben (und Coleman ist nicht seine Reinkarnation oder sowas, egal wie gut er Altsax spielt – was letzteres ich übrigens nie bestritten habe).

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    #5139933  | PERMALINK

    vorgarten

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    Coleman names Konitz as an important influence on his own development. „I was always impressed with his melodic sense and the fact that he didn’t play clich’s.“ Noting his collaborations with Tristano, Sal Mosca and Warne Marsh he says, „Even though Lee moved away from that later I still associate him with that group of guys because they all seemed to have this creative thing where they were really inventing, as opposed to just playing what they knew. And that was the thing that most impressed me about him and it’s the thing that still impresses me about him.“

    von hier.

    aber das stimmt schon – so viel sagen solche aussagen auch nicht aus. den tagesanzeiger-artikel finde ich sehr schön geschrieben, sehr leicht und sicher ein paar aspekte dieser musik streifend, im ganzen sehr wohlwollend, einladend, aber undogmatisch.

    --

    #5139935  | PERMALINK

    fef

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    vorgarten… „Coleman names Konitz as an important influence on his own development. „I was always impressed with his melodic sense and the fact that he didn’t play clich’s.“ Noting his collaborations with Tristano, Sal Mosca and Warne Marsh he says, „Even though Lee moved away from that later I still associate him with that group of guys because they all seemed to have this creative thing where they were really inventing, as opposed to just playing what they knew. And that was the thing that most impressed me about him and it’s the thing that still impresses me about him.“ …

    Ja genau da las ich das auch. Aber wenn man den Text noch einmal liest: Zuerst behauptet der Autor, Coleman bezeichne Konitz als wichtigen Einfluss. Was Coleman dann aber sagt, ist etwas anderes: Er schätze Konitz. Das ist keineswegs das Selbe. — Ich fand schließlich ein Interview, in dem Coleman Folgendes sagte: „Ein paar Mal sagten Leute, mein Spiel würde sie an Lee [Konitz] erinnern, allerdings in Situation, in denen ich Standards oder sowas spiele. Leute ziehen Vergleiche entsprechend dem, was sie kennen. Es ist eine Sache eines inneren Vergleichs. Wenn einer schon sein ganzes Leben lang auf Eric Kloss steht, wird er sagen: ‚Du klingst wie Eric Kloss.‘ Ich sage: ‚Komm schon, Mann?!‘ Aber für diese Person ist es eben so, man kommt dagegen nicht an.“

    gypsy tail wind… Einflüsse und Prägungen sind doch bei jedem von uns komplex und vielschichtig …

    Natürlich, aber es ist für eine andere Person wahnsinnig schwierig, auch nur einigermaßen realistisch die (wie Du richtig sagst) „komplexen und vielschichtigen“ Einflüsse eines Musikers zu beurteilen. Das besser zu können als der Betreffende selbst, wäre sogar bei jemandem, der die Laufbahn des Musikers in unmittelbarem Kontakt verfolgt hat, eine Anmaßung. In Wahrheit läuft exakt das ab, was Coleman in der von mir gerade zitierten Aussage dargestellt hat. – Vor kurzem las ich einen Artikel des sehr bekannten englischen Publizist John Fordham, in dem er feststellt, dass Steve Coleman bedeutend ist: Fordham hat bis Mitte 2011 dazu gebraucht und es ist offensichtlich, dass er keine Ahnung hat. Er hat nicht einmal Colemans Aussagen auf seiner Homepage gelesen. Zum Vergessen!

    gypsy tail wind
    „Überhaupt: In meinen Augen ist Charlie Parker der Punkt, warum die 1960er vorbei sind! So ungefähr.“
    … Was willst Du damit sagen? …

    Ich denk, die so genannten „Stile“ der Jazz-Geschichte sind immer mit einem gewissen Jazz-Verständnis, mit gewissen Auffassungen von Jazz-Qualität verbunden. Für Mezz Mezzrow machte Charlie Parkers Musik überhaupt keinen Sinn. Für Louis Armstrong auch nicht. Armstrong war absolut nicht dumm, primitiv, altmodisch, Onkel-Tom-mäßig oder so etwas, sondern er hatte ein anderes Verständnis. – So bilden sich aus meiner Sicht immer wieder neue Musiker-Kreise mit eigenen Auffassungen, die dann nebeneinanderher bestehen. – Im deutschen Sprachraum haben die Intellektuellen aus dem „Free Jazz“-Umfeld stark das Bild vom Jazz und von Jazz-Qualität geprägt. Berendt, Jost usw. spielten da eine große Rolle. Und wenn Brötzmann soeben der höchste deutsche Jazz-Preis verliehen wurde, dann zeigt das, dass ihre Perspektive nach wie vor Gewicht hat.

    Steve Coleman wuchs im „Schwarzen“-Viertel von Chicago auf – in der großen Zeit des Chicagoer „Free Jazz“ (AACM usw.). Er rannte jedoch Sonny Stitt nach, weil Stitt ein großer Meister aus der Parker-Zeit war, weil Coleman das können wollte. Stitt brachte ihn zu Von Freeman. Coleman kam auch mit Bunky Green in Kontakt, der in seinen jungen Jahren sämtliche auf Platten erschienen Parker-Soli nachspielen gekonnt hatte.

    Coleman schrieb 2007: „Die Musiker, die ich bevorzuge, sind eher die, die hoch entwickelte und spezifische Sprachen der Rhythmik und Tonalität entwickelt haben. Wie diese Musiker finde ich, dass die Elemente der Klangfarbe Hilfsmittel für den Ausdruck anspruchsvoller Rhythmusmelodien sind. Es gibt natürlich die, die überhaupt nicht mit mir übereinstimmen, und deshalb tendiert ihre Musik in Richtungen, die die Qualitäten der Klangfarbe hervorheben. Ich für mich bevorzuge einen subtileren Ausdruck der Klangfarbe. – Ich habe sehr den Eindruck, dass die jüngere Generation, die heute an der kreativen Musik beteiligt ist, auf die von den älteren Meistern hervorgebrachten detaillierten rhythmischen und melodischen Entwicklungen (welche eine unglaubliche Menge an Konzentration in Anspruch nahmen, um sie zu entwickeln) verzichtet zugunsten von mehr „Effekten“. Diese Trends neigen dazu, vor und zurück zu pendeln, indem jede Generation auf die Übertreibungen der vorhergehenden Generation mit einer Bewegung in die entgegengesetzte Richtung reagiert.“

    Für mich war es ein wirklich essentieller Gewinn, Colemans Artikel über Parker zu lesen:
    http://www.jazzseite.at/Zur_Musik_von_Steve_Coleman/text_SConParker.html

    Bei dem tollen Greg Osby, bei Gary Thomas und vielen anderen Saxofonisten dieser Generation hört man meines Erachtens sofort, dass sie viel mehr auf dieser letztlich von Parker herkommenden Linie sind als jene Musiker, die mit den expressiven Klangfarben und mit theatralischen Elementen arbeiteten.

    Übrigens scheint es bei Coleman später auch einen Einfluss von Henry Threadgill (den Du erwähnt hast) zu geben. Er sprach auch sehr anerkennend von Muhal Richard Abrams und Anthony Braxton; Anzeichen für einen Einfluss auf Colemans Musik von Abrams und Braxton sehe ich allerdings keine.

    --

    #5139937  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Du hast schon recht, Fef, aber Deinen Satz

    FefÜberhaupt: In meinen Augen ist Charlie Parker der Punkt, warum die 1960er vorbei sind! So ungefähr.

    verstehe ich deswegen noch immer nicht wirklich, aber egal.

    Ich empfinde es allerdings nicht als Anmassung, jemandes Werk von aussen zu betrachten und Mutmassungen über Einflüsse anzustellen, die auch dem „Autor“ verborgen sind (oder die er uns bewusst oder unbewusst vorenthält) – im Gegenteil, das gehört für mich zur Beschäftigung mit jedem Werk, auch mit Texten. Natürlich bleibt dabei immer viel Persönliches, und darüber muss ebenfalls Rechenschaft abgelegt werden (im Sinne, dass das auch immer wieder reflektiert und in die Beurteilung einbezogen werden soll).

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    #5139939  | PERMALINK

    vorgarten

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    der von mir schon vielfach wärmstens empfohlene bassist clayton thomas hat neben der AUS-band (mit johannes bauer und tony buck) zwei weitere, ebenso großartige regelmäßige trios, mit denen er immer wieder auftritt, sobald die mitspieler mal nach berlin kommen.

    gestern z.b. das trio mit tobias delius und dem in singapur lebenden drummer darren moore wiedergesehen, von dem es leider keinen tonträger gibt. delius hat einen außerirdisch schönen ton und eine große lässigkeit, die sich sehr reizvoll gegen das schlagzeuggewitter von moore abhebt. hier ein kleiner clip (richtig spannend wird’s ab min. 4):
    http://www.youtube.com/watch?v=35MIOrxfvlA

    das zweite trio darf gerade seine erste clean-feed-veröffentlichung feiern (verzögert sich leider gerade bis november): THE AMES ROOM, bestehend aus jean-luc guionnet, clayton thomas und will guthrie. das ist ziemlich heftiges, aber sehr präzises zeug; der slogan „minimal maximal terror jazz“ trifft es eigentlich ganz gut. HIER ein paar infos.

    mehr dazu vielleicht wirklich endlich mal im neuerscheinungs-thread…

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    #5139941  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Oh, Delius ist irre! Hab ihn mal mit dem ICP Orchestra erleben dürfen – grossartige Erinnerungen!

    Lustig, dass Du den Thread ausgerechnet heute hochbringst, ich hab mir nämlich vorhin mal wieder „Feet Music“ von Atomic angehört und überlegt, ob ich das erwähnen soll… tolle Band, muss mich wohl gelegentlich mal um die neueren Releases kümmern (ich hab noch „Happy New Ears!“ und „The Bikini Tapes“).

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    #5139943  | PERMALINK

    vorgarten

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    gypsy tail wind
    Lustig, dass Du den Thread ausgerechnet heute hochbringst, ich hab mir nämlich vorhin mal wieder „Feet Music“ von Atomic angehört und überlegt, ob ich das erwähnen soll… tolle Band, muss mich wohl gelegentlich mal um die neueren Releases kümmern (ich hab noch „Happy New Ears!“ und „The Bikini Tapes“).

    totale bildungslücke meinerseits.

    --

    #12310259  | PERMALINK

    vorgarten

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    jean-philippe allard ist gestorben.

    https://www.jazzradio.fr/news/FALSE/40555/jean-philippe-allard-decede-a-l-age-de-67-ans

    „jean-philippe always had our back, those of us artists who thought about music first and the market later.“ (graham haynes auf fb)

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