100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

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  • #12496075  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Harry Edison natürlich auch. Buck Clayton in den Fünfzigern auch eine Option, aber der landete nicht bei Granz (schade eigentlich – gibt nur das Album mit Edison glaub ich). Frankie Newton war halt da schon tot … und Thomas zu der Zeit fast vergessen (gibt ja noch das unwahrscheinliche Atlantic-Album mit Vic Dickenson und Herbie Nichols). Wer findiges hätte mal Miles Davis, Kenny Dorham oder Thad Jones eingeladen, die wären 1954/55 alle möglich und möglicherweise durchaus passend gewesen mit etwas anderen Bands).

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #164: Neuheiten aus dem Archiv, 10.6., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
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    #12496263  | PERMALINK

    vorgarten

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    68



    LANQUIDITY

    sun ra, gale, ray, gilmore, thompson, omoe, allen, jacson, pressley, disco kid, williams, williams, ali, anderson, artaukatune, atakatun odun, tyson, sun ra, blank (17.7.1978)

    „lanquid“ heißt lustlos, matt, träge, unenthusiastisch. hey, kauf unser neues album, es heißt „lustlosigkeit“. wenn man’s hört, versteht man den titel sofort. die band, übermüdet, hungrig, nach einem fernsehauftritt, in einer fremden stadt, zwischen 1:30 uhr und dem morgengrauen, spürt einer negativen energie nach, die aus etwas anderem kommt als einer verabredeten performance-situation. wer sich noch auf den beinen halten kann, spielt hier ein bisschen mit. und irgendwas, zwischen schlaf, trance, kater, kopfschmerz, kommt ins rollen. es war nicht planbar, wer hier dabei ist. und ob die alle ins wohnzimmerstudio passen. es gab ein paar themen, skizzen, die wurden nicht weiterverfolgt. sun ra arrangiert, platziert, ordnet, öffnet spontan. auf jedem stück gibt es einen lasziven groove und eine trocken-funkige bassline. (ich habe das strut-reissue, und jedesmal vergesse ich, dass das auf 45 umdrehungen gespielt werden muss, weswegen zuerst der eindruck noch größerer entschleunigung entsteht). das ist bereits ein teil der magie – der zweite ist das disziplinierte, zurückhaltende, pointierte dazuspiel. auf dem papier sieht das wüst aus (2 gitarren, 2 oboen, 2 trompeten, 3 mal percussion, 2 baritonsaxofone, diverse flöten), der akustische eindruck ist dagegen völlig klar, geordnet, luftig. da sich die solisten wenige mikrofone teilen, erheben sich immer nur einzelne stimmen kurz über den schwebenden groove. dritter teil der magie sind rätselhafte overdubs, am anfang und am ende, ra-sounds aus diversen tasteninstrumenten, obwohl er auf der session eigetlich nur ein warmes, konzentriertes e-piano spielt. stimmen am ende. vom tag danach, als schon wieder die sonne schien. rätselkapseln, federnd bewegt, schlau wird man nicht daraus, aber man wird sofort angenehm hineingezogen in diese warme, etwas kratzige decke, in die ein paar glasfaserwollfäden eingewebt sind. es gibt andere welten, von denen man dir noch nicht erzählt hat, lautet das träge versprechen. daran können sich dann kulturwissenschaftler*innen und diskograf*innen die zähne ausbeißen. das raumschiff hängt zwischen philadelphia und new york, der produzent hat noch einen imbiss gefunden, der nachts aufhat, die vielen trommeln müssen in den nebenraum, das mikrofon ist kurz frei für john gilmore, und sun ra spielt am nächsten tag noch einen synthesizer-akkord dazu, wann hat man sonst mal 24 spuren zur verfügung. der sympathische toningenieur hatte eine lustige idee: er hängt eine pyramide über die aufnahmekonsole. sun ra sieht das und sagt: nimm das weg.

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    #12496301  | PERMALINK

    soulpope
    "Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"

    Registriert seit: 02.12.2013

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    Ad 68 :

    Der unermüdliche Tanz des Richard Williams …. die „alternate version“ schafft diesbezüglich unmissverständliche Klarheit ….

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      "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
    #12496413  | PERMALINK

    vorgarten

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    67

    LET MY CHILDREN HEAR MUSIC
    mingus, hillyer, wilder, young, jones, moody, mcpherson, watkins, hanna, mccracken, richmond, macero, payne, tonkel (23.9.-18.11.1971)

    die früheren verbeugungen vor ellington waren simpler ausgefallen. hier kommt ein programmatisches suitenwerk ohne programm und suitenbehauptung undezent als selbstverordnetes großmeisterwerk daher. sich so etwas zuzutrauen, hat sicherlich mit ellington zu tun, andererseits war fehlendes selbstbewusstsein bei mingus nie das problem. und auch nicht, dass er einlöst, was er sich selbst verordnet hat. wie schnell die klangfarben hier wechseln, wie viele elemente jeweils gleichzeitig im spiel sind, wie heiß das alles postproduktiv zusammengenäht ist, wie deutlich man manchmal das umblättern der noten hört (buchstäblich!), ist letztlich nebensächlich, wenn das alles so aus einem guß erscheint, dabei quasi mingusismen aus der gesamten karriere nochmal durchblättert werden (clowns, hobos, balladen, zuspielbänder, klavierimprovisationen, rezitation und attacke) und gleichzeitig die cabaret und die philharmonic card gezückt wird. ein abstand zu dieser anstrengung könnte sich z.b. daraus ergeben, dass die großen individualistischen querstimmen fehlen, und das aufgeblähte instrumentensätze vielleicht doch etwas vordergründig mit zugespielten flamenco-, walzer- und shufflerythmen bewegt oder eingefangen werden. und manches allzu reichhaltige hebt eben nicht mehr richtig ab.

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    #12496445  | PERMALINK

    vorgarten

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    66

    SONGS FOR DISTINGUE LOVERS
    holiday, edison, webster, rowles, kessel, mitchell, stoller, granz, ? (3.-9.1.1957)

    ich glaube, ich kenne wenig sessions, bei denen ich so sehr den eindruck habe, dass sich alle beteiligten miteinander wohl fühlen, wie diese hier. vornehme liebhaber, allesamt. tin pan alley material, alle werden diese songs schon mindestens 300 mal vorher öffentlich gespielt haben. und nicht aus faulheit, sondern weil es einfach großartige songs sind. sie lassen sich ganz locker nochmal darauf ein hier, machen keinen druck, spielen ein paar der vielen möglichkeiten aus, immer wieder die melodien anzusteuern, ohne sie eigentlich zu spielen. und da nimmt sich die stimme natürlich nicht aus. reizvoll liegen komponierte linie und tatsächlicher vortrag so übereinander, dass sie immer wieder leicht auseinanderlaufen und 2 takte später wieder mühelos wieder übereinanderliegen. etwas kantig bei rowles, ein bisschen poppiger bei kessel (mit leichtem verziehen der saiten), gesprächig bei edison, genuschelt bei webster. stoller reagiert leicht und aufmerksam und geht immer im richtigen moment, beim richtigen solo, nie schematisch, zu den sticks über. alle sprechen die gleiche sprache. und der produzent verbiegt das alles nicht: klar wird aus der kratzigen stimme eine vornehme lady gemacht, aber das cover sagt dann wieder: keine angst, die veredelung hat ihre grenzen, ihr kriegt die dramatische holiday, wie ihr sie kennt. und natürlich wird mit diesen songs das fenster nur noch halb geöffnet zur alterweisen kennerin der vielen spielarten des verliebt- und verlassenseins, die mit diesem spiel noch nicht durch ist – während der körper schon deutliche signale sendet, dass das leben bereits gelebt ist. mittendrin „one for my baby“, da weiß holiday, da wissen alle in der band, dass das eigentlich der song der stunde ist. und dann klingt es wieder so dramatisch wie man es erwartet.

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    #12496467  | PERMALINK

    soulpope
    "Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"

    Registriert seit: 02.12.2013

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    Ad 67 :

    Charles Mingus ein meisterhafter Bassist – wesentlicher Teil davon war sein ungemein körperbetontes Spiel mit Attacke, welches oft die Schwerkraft in Frage stellte …. dieser Raubbau an seiner Substanz zeigte ab den mitt/spät 60ern aber immer stärker Wirkung und das (Selbst)bewusstsein darüber liess ihn andere Wege gehen, zunehmend vor allem in der Rolle eines „master minds“ …. „Let my children hear music“ trägt dieser Veränderung Rechnung, wobei Mingus diese Entwicklung (auch) mit einem grossorchestralen Ansatz zu kaschieren versucht …. but the power (and glory) is gone …..

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      "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
    #12496545  | PERMALINK

    vorgarten

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    65

    SUNDAY AT THE VILLAGE VANGUARD
    evans, la faro, motian, keepnews, jones (25.6.1961)

    das besondere ist herausgearbeitet. die mikrofone sind vom quatschenden publikum weg gerichtet, der eindruck entsteht, dass die musiker quasi unbemerkt spielen und ihnen nun durch die aufnahme gerechtigkeit widerfährt. und von den fünf (!) sets an diesem tag wurden stücke ausgewählt, die den gerade verstorbenen bassisten ins spotlight rücken und keine live-zusammenhänge abbilden. zwei schöne stücke hat er komponiert, insgesamt wirkt er besonders agil und zieht den pianisten mit, alles wirkt deutlich lebendiger und ausgeschlafener als auf dem nachgeschobenen WALTZ FOR DEBBY. introversion gibt es hier eigentlich kaum, „my man’s gone now“ geht gar nicht erst in die tiefe, sondern hat ein neues harmoniegerüst drübergestülpt, macht tempo und lässt viel raum für bass-mikro-soli. ich interessiere mich hier sehr für paul motian, dessen becken irgendwie von selbst schwingen, weil sie immer dann angeschlagen werden, wenn man gerade nicht hinhört. wo der noch lücken findet im dichten interplay der beiden hauptdarsteller, ist bemerkenswert. am ende wirken die fast so, als würden sie den swing des drummers ornamentieren. ein auf vielen ebenen beeindruckendes album, das man sich nicht zurechthören kann.

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    #12496557  | PERMALINK

    stardog

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    vorgarten65 SUNDAY AT THE VILLAGE VANGUARD evans, la faro, motian, keepnews, jones (25.6.1961) das besondere ist herausgearbeitet. die mikrofone sind vom quatschenden publikum weg gerichtet, der eindruck entsteht, dass die musiker quasi unbemerkt spielen und ihnen nun durch die aufnahme gerechtigkeit widerfährt. und von den fünf (!) sets an diesem tag wurden stücke ausgewählt, die den gerade verstorbenen bassisten ins spotlight rücken und keine live-zusammenhänge abbilden. zwei schöne stücke hat er komponiert, insgesamt wirkt er besonders agil und zieht den pianisten mit, alles wirkt deutlich lebendiger und ausgeschlafener als auf dem nachgeschobenen WALTZ FOR DEBBY. introversion gibt es hier eigentlich kaum, „my man’s gone now“ geht gar nicht erst in die tiefe, sondern hat ein neues harmoniegerüst drübergestülpt, macht tempo und lässt viel raum für bass-mikro-soli. ich interessiere mich hier sehr für paul motian, dessen becken irgendwie von selbst schwingen, weil sie immer dann angeschlagen werden, wenn man gerade nicht hinhört. wo der noch lücken findet im dichten interplay der beiden hauptdarsteller, ist bemerkenswert. am ende wirken die fast so, als würden sie den swing des drummers ornamentieren. ein auf vielen ebenen beeindruckendes album, das man sich nicht zurechthören kann.

    Klasse 👏🏽 Eine wahre Freude hier mitzulesen.

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    #12496589  | PERMALINK

    soulpope
    "Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"

    Registriert seit: 02.12.2013

    Beiträge: 56,509

    Ad 65 :

    Sicherlich das präsentere der beiden Village Vanguard Alben – wohl auch der stupenden Aufnahmetechnik geschuldet – und durch die getroffene Trackauswahl scheint die unfassbare Dominanz von Scott La Faro besser integriert …. schliesslich auch eine klare Empfehlung für die „The Complete Village Recordings“ Version, welche die 5 Sets des 25ten Juni 1961 in chronologischer Reihenfolge bietet und so die Detailentwicklung dieses Ausnahmetrios selbst innerhalb eines Tages nachvollziehbar macht ….

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      "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
    #12496597  | PERMALINK

    jimmydean

    Registriert seit: 13.11.2003

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    soulpopeAd 65 : Sicherlich das präsentere der beiden Village Vanguard Alben – wohl auch der stupenden Aufnahmetechnik geschuldet – und durch die getroffene Trackauswahl scheint die unfassbare Dominanz von Scott La Faro besser integriert …. schliesslich auch eine klare Empfehlung für die „The Complete Village Recordings“ Version, welche die 5 Sets des 25ten Juni 1961 in chronologischer Reihenfolge bietet und so die Detailentwicklung dieses Ausnahmetrios selbst innerhalb eines Tages nachvollziehbar macht ….

    mir ist aber eh nicht ganz klar, wie damals die trackauswahl gemacht wurde… wurde da eh gleich beschlossen alles zu veröffentlichen und auf zwei alben verteilt, oder ging es so ähnlich zu wie bei radioheads „kid a“ und „amnesiac“ ?

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    i don't care about the girls, i don't wanna see the world, i don't care if i'm all alone, as long as i can listen to the Ramones (the dubrovniks)
    #12496615  | PERMALINK

    soulpope
    "Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"

    Registriert seit: 02.12.2013

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    jimmydean

    soulpopeAd 65 : Sicherlich das präsentere der beiden Village Vanguard Alben – wohl auch der stupenden Aufnahmetechnik geschuldet – und durch die getroffene Trackauswahl scheint die unfassbare Dominanz von Scott La Faro besser integriert …. schliesslich auch eine klare Empfehlung für die „The Complete Village Recordings“ Version, welche die 5 Sets des 25ten Juni 1961 in chronologischer Reihenfolge bietet und so die Detailentwicklung dieses Ausnahmetrios selbst innerhalb eines Tages nachvollziehbar macht ….

    mir ist aber eh nicht ganz klar, wie damals die trackauswahl gemacht wurde… wurde da eh gleich beschlossen alles zu veröffentlichen und auf zwei alben verteilt, oder ging es so ähnlich zu wie bei radioheads „kid a“ und „amnesiac“ ?

    Die beiden Alben beinhalten nur einen Teil der (Gesamt)aufnahmen …. hinsichtlich deren Trackauswahl kann ich nur vermuten, dass „Waltz For Debby“ von den Songs her ein typisches Bill Evans Set abbilden sollte ….

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      "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
    #12496617  | PERMALINK

    vorgarten

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    @jimmydean
    kann man ja alles schnell bei wiki nachlesen: es sollte ursprünglich nur ein album geben. nach dem tod von la faro haben evans und keepnews erstmal eine auswahl zusammengestellt, die la faro in den mittelpunkt stellen sollte. WALTZ FOR DEBBY kam 1 jahr später, auch hier löst die auswahl die live-set-folge komplett auf. in den 80ern gab es noch ein drittes album auf milestone (MORE FROM THE VANGUARD), danach die komplettausgaben. alles ist von einem aufnahmetag, das engagement im vanguard lief aber insgesamt 2 wochen, der 25.6. war der letzte tag, an dem sie alle 5 sets spielen konnten, vorher waren sie vorband für lambert hendricks and ross. der club war nicht voll, was man ja auch hört. die ursprüngliche setlist, und wie die tracks auf die alben verteilt wurden, steht hier.

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    #12496655  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Mich irritieren manche Kommentare hier ein wenig, weil sie überhaupt nicht auf die schönen Texte eingehen, die @vorgarten hier schreibt. Thema des Threads hier ist ja nicht die RS-Liste sondern eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit den Alben, die dort drin stehen. In diesem Sinn fände es schön, wenn die weiteren Kommentare auch dort ansetzen könnten: einen Gedanken fortspinnen, auch mal Widerrede einlegen, ein Detail vertiefen, etwas im eigenen Wahrnehmen vergessen gegangenes monieren oder so … Weitere Kommentare sind ja durchaus erwünscht und schweifen natürlich auch mal ab (ich hab selbst hier schon welche abgegeben, die Frage nach den Trompetern um Billie Holiday ist ein aktuelles Beispiel – der Ausgangspunkt waren hier aber die Zeilen zu Charlie Shavers im Post zu Album #69), aber eben: erstmal daran anknüpfen, würdigen, was hier ausgebreitet wird, fände ich angemessen – und wenn es danach weiter geht: völlig in Ordnung.

    That said: Ich hinke mit Lesen und nachdenken über das Gelesene gerade hinterher, aber auf das Bill Evans Trio im Village Vanguard kriege ich gerade wieder mal grosse Lust!

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    #12496661  | PERMALINK

    vorgarten

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    ONCE UPON A SUMMERTIME

    dearie, lowell, brown, thipgen, granz, dearie, ? (12.&13.9.1958)

    schöner zufall, dearie gleich nach evans zu hören, der ja ihren pianistischen einfluss zugegeben hat. über ihr klavierspiel spricht man ja sonst eher selten, obwohl es ihr primärer zugang zum jazz war und sie in interessante kreise gebracht hat: legrand (noch in paris), gil evans, miles davis, über comden & green dann bernstein. karriere machte sie als sängerin, und da muss man die zeit mitlesen: ihre kopfstimme als „mädchenhaft“ entschärft, eine frau ohne unterleib, die den himmel noch auf der schultafel abtastet und im ABC die liebe sucht – nichts davon hat wirklich funktioniert, und ihr produzent norman granz hat das verstanden. eine intelligente frau darf mit kopfstimme (und brille, die ja irgendwie doch auch aufs cover durfte) singen und trotzdem viel über sex wissen, ihr material selbst auswählen und arrangieren, die doppelbödigkeit der silly tunes als rollenspiel aufführen, in dem alle wissen, dass das leben komplizierter ist als diese worte es transportieren („teach me tonight“). miles davis, der ja über so blöde schubladen stets hinwegschauen konnte, hat dearie einfach „soul“ zugestanden, weil sowas eben nichts mit kopf- oder bruststimme zu tun hat.

    das album kommt sehr selbstverständlich daher, mit einer band, die am ball ist und auch weiß, dass es der leaderin trotz des materials um jazz geht. da ist dann auch mal zeit für ein bass-solo. und für einen agilen modernen ausdruck, der sehr gut zum geist der arrangements passt: großartig langsame versionen von „tea for two“ und „manhattan“, eine rasend schnelle von „down with love“, man hört die songs ganz neu, auch durch die interessante akkordbegleitung, bei der bill evans fündig werden konnte, wobei das hier vielleicht schon wieder umgekehrt lief. das klavierspiel geht zur band, die stimme ins mikrofon. und das new york der frühen 60er, in dem viele schichten übereinander lagen, hatte einen leichten sound, der über nichts hinwegtäuscht.

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    #12496763  | PERMALINK

    vorgarten

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    @gypsy-tail-wind: danke, die irritation teile ich natürlich.

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    SIN & SOUL
    brown jr., butterfield, wilder, solde, bodner, levinsky, levister, leighton, morris, cernett, arnone, barksdale, carroll, duvivier, benjamin, rosengarden, devens, johnson, francis, hamm, ? (jun/aug/oct 1960)

    sehr viel bruststimme hier. und eine deutlichere form des rollenspiels. brown jr. entwickelt figuren aus der afroamerikansichen erfahrung heraus, er nimmt jazztracks und betextet sie, hat eine funktional-hippe riege aus studiomusikern an die seite bekommen und verdichtet sozialkommentare aus figurenperspektive (gefangener und verkaufter körper, melonenverkäufer und lumpensammler, schnorrer und mensch aus der zukunft) in verschiedenen stimmen auf knackige singlelänge. das hat großes selbstbewusstsein und war bestimmt eine kleine herausforderung für columbia (das merkwürdige zweiteilungsmanöver in eine „sin-“ und eine „soul“-seite macht nicht so viel sinn, von wessen sünde soll hier die rede sein?). brown singt zwar von liebe, trübsal, arbeit, sex, aber er verkauft das nicht als allgemein-menschliche, sondern als sehr konkret-besondere erfahrungen. das sklaven-auktions-reenactment („bid ‚em in“, das wird bei matana roberts wieder auftauchen) sitzt schwer zwischen den community-songs, nicht unähnlich „strange fruit“ auf LADY SINGS THE BLUES. danach kann man nicht mehr anders, als einen rahmen gesetzt zu sehen. dazu kommt die praxis des signifying, die das problem (rassimus) nicht offen anspricht, aber im kreativen spiel der rollen immer wieder umkreist. manchmal vermisse ich das „eigentliche“ auch der stimme, kriege brown nicht recht zu fassen zwischen schärfe und jovialität, aber genau das ist das spiel, glaube ich.

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