Antwort auf: 100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

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vorgarten

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LANQUIDITY

sun ra, gale, ray, gilmore, thompson, omoe, allen, jacson, pressley, disco kid, williams, williams, ali, anderson, artaukatune, atakatun odun, tyson, sun ra, blank (17.7.1978)

„lanquid“ heißt lustlos, matt, träge, unenthusiastisch. hey, kauf unser neues album, es heißt „lustlosigkeit“. wenn man’s hört, versteht man den titel sofort. die band, übermüdet, hungrig, nach einem fernsehauftritt, in einer fremden stadt, zwischen 1:30 uhr und dem morgengrauen, spürt einer negativen energie nach, die aus etwas anderem kommt als einer verabredeten performance-situation. wer sich noch auf den beinen halten kann, spielt hier ein bisschen mit. und irgendwas, zwischen schlaf, trance, kater, kopfschmerz, kommt ins rollen. es war nicht planbar, wer hier dabei ist. und ob die alle ins wohnzimmerstudio passen. es gab ein paar themen, skizzen, die wurden nicht weiterverfolgt. sun ra arrangiert, platziert, ordnet, öffnet spontan. auf jedem stück gibt es einen lasziven groove und eine trocken-funkige bassline. (ich habe das strut-reissue, und jedesmal vergesse ich, dass das auf 45 umdrehungen gespielt werden muss, weswegen zuerst der eindruck noch größerer entschleunigung entsteht). das ist bereits ein teil der magie – der zweite ist das disziplinierte, zurückhaltende, pointierte dazuspiel. auf dem papier sieht das wüst aus (2 gitarren, 2 oboen, 2 trompeten, 3 mal percussion, 2 baritonsaxofone, diverse flöten), der akustische eindruck ist dagegen völlig klar, geordnet, luftig. da sich die solisten wenige mikrofone teilen, erheben sich immer nur einzelne stimmen kurz über den schwebenden groove. dritter teil der magie sind rätselhafte overdubs, am anfang und am ende, ra-sounds aus diversen tasteninstrumenten, obwohl er auf der session eigetlich nur ein warmes, konzentriertes e-piano spielt. stimmen am ende. vom tag danach, als schon wieder die sonne schien. rätselkapseln, federnd bewegt, schlau wird man nicht daraus, aber man wird sofort angenehm hineingezogen in diese warme, etwas kratzige decke, in die ein paar glasfaserwollfäden eingewebt sind. es gibt andere welten, von denen man dir noch nicht erzählt hat, lautet das träge versprechen. daran können sich dann kulturwissenschaftler*innen und diskograf*innen die zähne ausbeißen. das raumschiff hängt zwischen philadelphia und new york, der produzent hat noch einen imbiss gefunden, der nachts aufhat, die vielen trommeln müssen in den nebenraum, das mikrofon ist kurz frei für john gilmore, und sun ra spielt am nächsten tag noch einen synthesizer-akkord dazu, wann hat man sonst mal 24 spuren zur verfügung. der sympathische toningenieur hatte eine lustige idee: er hängt eine pyramide über die aufnahmekonsole. sun ra sieht das und sagt: nimm das weg.

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