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Noch einmal haben die Musikanten über die Musiker gesiegt: Herr Hellmesberger ward noch einmal zum Dirigenten der Wiener Philharmoniker gewählt. Aeußerlich lief dabei alles glatt ab. Das Comité, dem die Inscenierung oblag, hatte Herrn Hellmesberger eingeladen, der Versammlung, in der die Wahl vorherbesprochen und vollzogen wurde, beizuwohnen, und weil Anträge, die sich gegen Herrn Hellmesberger richteten, in seiner Anwesenheit begründet und erörtert werden mußten, wurden sie von der eingeschüchterten Opposition nicht erst gestellt. In seiner wohlgepflegten Körperlichkeit saß der Candidat der Vielen da, den Geist seines Rivalen wagten die Wenigen nicht zu citieren. So wurde über die Frage, die durch die Wahl entschieden werden sollte, kein Wort gesprochen. Statt dessen rühmte man die Tradition der Philharmoniker, berief sich auf ihre Glanzperiode unter Hans Richter und klagte über schlechte Zeiten.
Aber nicht die Zeiten sind schlechter geworden, seitdem es in Wien statt jährlicher acht philharmonischer Concerte deren zwei Dutzend gibt. Das Interesse des Wiener Publicums an philharmonischen Concerten ist ebenso gewachsen, wie jenes an den Concerten der Philharmoniker gesunken ist. Und gegenüber der Concurrenz der Symphonieconcerte des Concertvereins kann man nicht durch die Pose einer Vornehmheit wirken, die ihre Lässigkeit für Gelassenheit, ihre Unzulänglichkeit für Unzugänglichkeit ausgeben möchte. Jene Concurrenz hat mit ihrem Bienenfleiß und mit einem Dirigenten, der es verstand, sich an die Spitze der Brahms- und zugleich der Bruckner-Partei zu stellen, in kurzer Zeit den ganzen Boden des Wiener Symphonie-Concertwesens occupiert. Indessen blieben die Philharmoniker ihrem alten Brauch getreu, um ein großes Werk – einen »Schlager«, und womöglich, damit das Einstudieren nicht zu viel Mühe mache, recht häufig den gleichen – ein Programm von allerlei musikalischem Flitterkram zu gruppieren. Programme, über welche die Kritiker verschiedener Richtung mit einander erbittert gestritten hätten, Programme, denen ein historischer oder ein propagandistischer Plan zugrunde gelegen wäre – nichts dergleichen hat es bei den Philharmonikern gegeben. Einer Körperschaft, der nicht wenige kunstbegeisterte Musiker angehören, haben jene Mitglieder ihren Geist einzuflößen gewusst, die im Besitz einer, zwar gegenwärtig reducierten, aber noch immer befriedigenden Bonification der Hofkapelle auf Arbeit, zu der kein innerer Drang sie führt, verzichten können. Und der Herr Hofkapellmeister, der Candidat der Mitglieder der Hofkapelle für den philharmonischen Dirigentenposten, ist auch der großen Masse der Musikantenseelen genehm, die von Verpflichtungen gegen einen »lieben, netten Menschen« sprechen, wo es sich um die Sache der Kunst handelt, jenen Gemüthlichen und Behäbigen, die immer lieber unter einem Kapellmeister forttrotten als sich von einem Dirigenten fortreißen lassen wollen. Liszt hat einmal gesagt, der Dirigent soll nicht Ruderknecht sein, sondern Steuermann. Aber Herr Hellmesberger hat nie das Steuer zu führen verstanden; er patscht mit dem weichen Händchen bloß seelenvergnügt ins Wasser, während das Schiff vorwärts treibt.
Die handwerksmäßige Geschicklichkeit des Herrn Hellmesberger soll keineswegs bestritten werden. Er kann alles und macht alles, was sich nur können und machen lässt. Aber eben weil Kunst von Können kommt, ist Können noch nicht Kunst, und alles, was einer macht, bedeutet nichts, Bedeutung hat bloß, was einer ist. Herr Hellmesberger gehört zu den Leuten, die immer etwas werden, nie etwas sind. Seine Wahl zum Dirigenten der Philharmoniker sucht man vergebens durch den Hinweis auf seine Arbeitstüchtigkeit zu rechtfertigen; sie war eine reine Personalangelegenheit, keine Kunstangelegenheit. Aber wenn gegen Gustav Mahler’s Wahl persönliche Antipathien geltend gemacht werden, wenn die Musikanten seine Ablehnung trotz geheuchelter Anerkennung seiner musikalischen Höhe als in seiner Person begründet hinstellen, so verbergen sie hinter den vorgeschützten persönlichen Motiven ihre wahren sachlichen Gründe: den tiefen Gegensatz zwischen den Unkünstlern und dem starken Künstler, die Furcht vor der Störung ihrer Bequemlichkeit, vor der Aufrüttelung ihres Philisterthums durch den Schaffensdrang eines wirklichen Musikers. Gewiss ist Mahler nicht der einzige, der Dirigent der Philharmoniker sein könnte; aber heute ist in Wien kein anderer, der es sein könnte. Und da er es nicht wird, leidet das Musikleben Wiens doppelt: weil Mahler in seiner Wirksamkeit als Dirigent, in seiner Musikerthätigkeit, in der er Großes zu leisten vermag und auf die er sich concentrieren sollte, beschränkt wird, und weil er nicht im andern Gebiet seiner Thätigkeit, in der Führung der Operndirection beschränkt oder ihrer unter Vermehrung seiner Dirigententhätigkeit enthoben wird. Die persönlichen Eigenschaften, die beim Dirigenten nicht in Betracht kommen, entscheiden über die Befähigung des Operndirectors. Daß dem Naturell Mahler’s das Diplomatengeschäft einer Theaterführung nicht organisch ist, steht heute für jeden seiner Anhänger außer Zweifel, offen geben es auch jene zu, die bisher Bedenken trugen, mit einer Parteikritik, die einer starken künstlerischen Persönlichkeit mit confessionellen Albernheiten beikommen möchte, in ein und dasselbe Horn zu stoßen: wenn sie den administrativen Fehlgriffen des Mannes lange genug zusahen, so haben sie an dem Tage ihr Urtheil gesprochen, an dem Mahler’s Laune die Verbitterung einer wahrhaft vornehmen Künstlerin bewirkte, die Wiener Hofoper mit dem Verlust des Fräuleins Walker bedrohte. Kein einsichtiger Schätzer eines Temperamentes, das sich heute in falschen Explosionen verbrauchen muß, zweifelt mehr, wo – die Tüchtigkeit des Herrn Hellmesberger in Ehren – Mahler’s Platz im Wiener Musikleben ist.(Die Fackel: Nr. 141, 20.06.1903, S. 14-17)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=Highlights von Rolling-Stone.deMusikalische Orgasmen: 6 Songs voller Höhepunkte
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WerbungIn einem reichsdeutschen Blatt lese ich die Besprechung eines Buches über das »Geschlechtsleben in England«. Der unkomplizierte Deutsche mag neidisch zur britischen Nation emporblicken, die dem Kontinent wie in allem so auch in der Kultur sexueller Perversität und in der Entwicklung sexueller Heuchelei überlegen ist, die das Genie Oskar Wilde hervorbringen und es morden konnte, die Flagellationsbordelle hat und Gesetze, welche den nuancierten Geschlechtsverkehr mit zehnjähriger Zuchthausstrafe bedrohen. Aber der deutsche Rezensent des deutschen Buches darf für seine Landsleute nicht allzu bescheiden sein. Kein Grund, mit frommem Augenaufschlag dem Himmel zu danken, daß wir nicht sind wie jene! Sollte wirklich erst der Fall Dippold für ein sadistisches Talent, das im deutschen Männerschlage schlummert, zeugen? Ein wenig deutsche Blutlust wird allerdings auch in jenem Artikel zugegeben. Und da finde ich denn den für österreichische Leser besonders interessanten Satz: »Kennen wir auch in Deutschland nicht jene würdige Spezies der englischen Hinrichtungs-Habitués, die meilenweit reisten, um den grausamen Anblick der Exekution aus nächster Nähe zu genießen, ja die, wie Goncourt in seinem Tagebuch erzählt, den Scharfrichter bestachen, daß er den Rock der Mörderin im Moment des Hängens etwas lüfte – so haben wir doch noch vor etwa zehn Jahren die erbauliche Tatsache erlebt, daß deutsche Bürger die Behörden um Billets zu einer Hinrichtung geradezu bestürmten … Heute wird dieser nicht nur für Psychiater und Romanschriftsteller interessante Akt freilich in aller Stille vollzogen«. England und Deutschland … Und Österreich? Endlich eine Sphäre, in der wir uns nicht Rückständigkeit vorwerfen lassen müssen. Was Deutschland seit zehn Jahren nicht erlebt hat, erleben wir Österreicher, wir Wiener bei jeder Hinrichtung. Die Behörden werden um Billets bestürmt, die Behörden genügen der Nachfrage in entgegenkommendster Weise. Wären die Karten gegen Bezahlung zu haben, wir wären jedesmal Zeugen einer Agiotage, wie sie wilder nicht einmal vor der Première der »Maria Theresia« geschaut ward. Nein, bei uns wird der »interessante Akt« eben nicht »in aller Stille vollzogen«, und jene Enterbten des Glücks, die sich zu spät um den Eintritt beworben haben, dürfen mit den anschaulichen Schilderungen einer Lokalpresse vorlieb nehmen, die mit einer oft gewürdigten Gewissenhaftigkeit ihres Nach-Nachrichteramtes waltet. Die Justizfunktionäre, die zu kontrolieren haben, ob »der Gerechtigkeit Genüge geschehen« ist, der Priester, der die legislative Greueltat in religiöser Weihe räuchert, sie ahnen in ihrem von keinerlei Lebenserfahrung angekränkelten, von keiner psychologischen Neugierde getrübten Beamtensinn nicht, welchen Regungen das Schauspiel, in dem sie statieren, Nahrung bietet. Der Henker weiß es. Und im Hochgefühle einer vollbrachten Guttat präsentiert er sich auf den Ansichtskarten, die nach jeder Wiener Hinrichtung in den Handel kommen … Heiliger Dippold!
(Die Fackel: Nr. 148, 02.12.1903, S. 18-20)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=Sucher und Priester.*
(Zur Charakterologie.)
Von Otto Weininger.
Man kann die Menschen einteilen in Sucher und in Priester, und wird durch diese Einteilung viel gewinnen. Der Sucher sucht, der Priester teilt mit. Der Sucher sucht vor allem sich, der Priester teilt vor allem andern sich mit. Der Sucher sucht sein Leben lang sich selbst, seine eigene Seele; dem Priester ist sein Ich von vorneherein als Voraussetzung alles anderen gegeben. Den Sucher begleitet stets das Gefühl der Unvollkommenheit; der Priester ist vom Dasein der Vollkommenheit überzeugt.
Der Unterschied, den ich meine, wird so vielleicht am klarsten: Nur Sucher sind eitel (und empfindlich). Denn die Eitelkeit entspringt aus dem Bedürfnis nach dem Finden und dem Gefühle, noch nicht – sich noch nicht – gefunden zu haben. Der Priester ist nicht eitel, er fühlt sich nicht leicht getroffen, und ist ohne Bedürfnis nach der Anerkennung von außen, weil er diese Unterstützung nicht notwendig hat. Dagegen hat er Bedürfnis nach dem Ruhme; Voraussetzung des Ruhmbedürfnisses ist innerliche Überzeugtheit von sich; sein Wesen, dieses Ich den anderen möglichst vollkommen darzubringen und sich ihnen so zu verbinden. Der Ruhm wird hiedurch dem Opfer verwandt.
Ich will nun je vier Beispiele von Suchern und von Priestern anführen, bevor ich in der Analyse fortfahre.
Sucher waren: Hebbel, Fichte**, Brahms, Dürer; Priester waren: Shelley, Fechner, Händel, Böcklin. Den Suchern gemeinsam ist, wie man sieht, die Linie ohne Farbe; den Priestern gemein die Farbe ohne Linie.
Die Farbe ist hier als Symbol der Sinnlichkeit gedacht; zur Sinnlichkeit nämlich steigt der Priester herunter, indes der Sucher von ihr zur Geistigkeit hinauf will. Darum hat der Priester das eigentlich starke, große Verhältnis zur Natur; denn der Priester kommt vom Geiste, und sucht die Welt zur Deckung mit sich zu bringen; alles soll hell erstrahlen wie das Feuer in ihm selber. Der Sucher hingegen hat vor dem Priester voraus das Verhältnis zur Gesellschaft; denn sozial wird der Mensch, weil er sich selbst im andern sucht. Zur Kultur, zu Recht und Staat und Sitte tritt so nur der Sucher in ein tiefes Verhältnis; und in der Natur hat er höchstens für ein Phänomen großen Sinn: für den Wald, als das Symbol des Geheimnisses.
Denn der Priester hat die Offenbarung hinter sich, und Tag ist in ihm; der Sucher strebt zu ihr empor, aber er ist noch blind. Der Priester steht bereits im Bunde mit der Gottheit, nur er kennt die mystischen Erlebnisse (extreme Sucher wie Kant oder noch besser Fichte kennen solche nicht). Das Absolute, die Gottheit ist dem Priester als Voraussetzung, als Schatz gegeben, oder als Pfand des Höchsten; dem Sucher als Wert, als Ziel. Der Priester bringt sich der Welt dar, trägt ihr den Bund an; der Sucher entflieht der Welt, weil er noch keine Weihen empfangen hat. Jeder Suchende ist naturgemäß ein Fluchender; der Priester ist das Gegenteil des Blinden, ein Sehender und ein Segnender. Der Segen ist dem Sucher hingegen ewig unverständlich.
Man hält oft den Priester für den eigentlichen Künstler, und erklärt Männer wie Ibsen, der dem Sucher sehr nahe, und Hebbel, der ihm noch viel näher steht, für keine echten Künstler: ganz mit Unrecht; man ist hier getäuscht durch einen falschen Begriff von Sinnlichkeit in der Kunst. Shakespeare war gewiß ausschließlich Künstler, und doch viel mehr Sucher als Priester. Im übrigen sind Sucher und Priester Extreme; die größten Menschen sind beides, am öftesten zuerst Sucher, um sich dann in Priester zu verwandeln: wenn sie den Quell gefunden, sich selbst erlebt haben. So Goethe, so Wagner. Goethe ist Sucher im Urfaust, Priester in der Iphigenie; Wagner ist Sucher im Holländer, im Tannhäuser (der Pilgerchor gibt eine wunderbare Vorstellung von dem, was Suchen heißt), aber auch im Tristan, besonders im II. Akt – denn der Sucher ist erotisch, der Priester sexuell, ohne besonders von dem Geschlechtstrieb differenzierte Liebe. Priester ist Wagner schon im Lohengrin (der Sinn für das Fest, für Feier ist durchaus priesterlich); vor allem aber im dritten Akte des Siegfried, wo der Sinn für des Gefundenhaben, der Triumph der Erfüllung so ungeheuer groß ist. Denn der Priester muß kein friedlicher, idyllischer Mensch sein; aber er hat als Kämpfer nur Sinn für den Sieg, nicht für die Anstrengung des Ringens, nicht für das Bangen vor der Niederlage.
Nietzsche war lange Sucher; erst als Zarathustra tat er den Priestermantel um, und da steigen nun jene Reden vom Berge herunter, die bezeugen, wie viel Sicherheit er durch die Verwandlung gewonnen hat. Des Priesters (als des Sehers!) Erlebnisse sind intensiver als die des Suchers; und darum ist er überzeugter von sich, er fühlt sich als erkornen Sendboten von Sonne, Mond und Sternen, und horcht nur, um deren Sprache so ganz zu verstehen, wie er es als eine Pflicht fühlt.
Sucher waren noch Rousseau, wie es scheint, Calderon, Sophokles, Mozart; ein beinahe vollkommener Priester scheint Pindar. Beethoven ist Sucher im Fidelio, Priester in der Waldstein-Sonate, deren letzter Satz der höchste Gipfel der appolinischen Kunst ist.
Der psychophysische Parallelismus scheint eine priesterliche Vorstellung zu sein (denn der Priester kommt vom Geiste und will die Natur aufnehmen, er fühlt sich mehr vor der Natur, der Sucher mehr vor dem Geiste schuldig); er ist darum auch Determinist, weil ihm Freiheit und Gesetzlichkeit von vornherein eins sind. Der Sucher ist Indeterminist und Verflucher des Leibes. Der Sucher ist schweigsam, verschlossen (nicht zu verwechseln mit dem verschlossenen, d.h. unaufrichtigen und unsozialen Verbrecher); der Priester offen, sich darbietend (nicht zu verwechseln mit Schamlosigkeit), weil er nicht sucht, sondern die Vollendung schon enthält und nur ganz zu verstehen, auszudrücken sucht.Fußnoten
* Diese Abhandlung ist einem nachgelassenen Werk des unlängst verstorbenen Philosophen entnommen und von dem Herausgeber des Nachlasses als Manuskript der ‚Fackel‘ übergeben worden. Das Werk wird in einigen Wochen unter dem Titel »Über die letzten Dinge« im Verlage Wilhelm Braumüller, Wien und Leipzig, erscheinen. – Den Kranz August Strindberg’s, welchen der Dichter (siehe den in Nr. 144 veröffentlichten Nachruf) dem Andenken des Verstorbenen widmete, hat der Herausgeber der ‚Fackel‘ am 17. Oktober auf das Grab Otto Weininger’s (Matzleinsdorfer Friedhof) niedergelegt.
Anm. d. Herausgebers.** Fichte war Prediger. Man verwechsle das nicht mit Priester.
(Die Fackel: Nr. 145, 28.10.1903, S. 26-30)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=Borneo, sagte unser Klassenvorstand, ist so groß wie Österreich-Ungarn und ist das Vaterland der Orang-Utans. Dabei blickte er uns beziehungsvoll an. Von derlei Bosheiten abgesehen, die er gelegentlich in den Unterricht einstreute, war aber der Alte eine grundgute Haut.
(Die Fackel: Nr. 160, 23.04.1904, S. 14-15)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=Rout bei Neumanns.
Im goldenen Prag, dem »Schmockkästchen der Monarchie«, ist auch allerlei Schnurriges zu lesen. Im ‚Prager Tagblatt‘ zum Beispiel ein Feuilleton unter dem Titel »Rout bei Neumanns«. Von dieser sinnigen Einrichtung, die der geschäftskundige Direktor des deutschen Landestheaters, Herr Angelo Neumann, eingeführt hat, war hier schon einmal die Rede: die Abfütterung der Journalisten ist eine so gründliche, daß sie es für ein ganzes Jahr satt bekommen, die Theaterwirtschaft des schlauen Händlers mit kritischen Augen zu betrachten. Schon über das Fressen selbst werden Reconnaissance-Feuilletons geschrieben. Die Frau Buska, Heroine, Salondame, erste Liebhaberin, Naive und Direktorsgattin, erreicht es wenigstens einmal im Jahr, »bezaubernd« zu sein. Wenn Journalisten essen, so essen sie immer – wie unappetitlich! – mit dem Messer der Kritik und wischen sich mit Zeitungspapier den Mund ab. Und immer dieselbe Fröhlichkeit, mit der die Absichten des Gastgebers quittiert werden, mag nun Herr Krupp in Berndorf, Herr Philipp Haas in Wien oder Herr Neumann in Prag sich gute Nachrede zu sichern wünschen. Als ob diese culinarische Beeinflußung der öffentlichen Meinung – zumal wenn auch Zigarren in beliebiger Auswahl zur Verfügung stehen – etwas Selbstverständliches, Normales und vom Standpunkt einer unparteiischen Presse zu Billigendes wäre. Der Prager Feuilletongourmand sagt von Herrn Neumann unumwunden: »Er sieht einen Kritiker durstig in der Ecke stehen; aber statt ihn mit einem Löffel Wasser zu vergiften, bietet er die Biere des Landes oder die Weine der Fremde in Überfluß an.« Es muß ja recht nett zugegangen sein: »Das reiche Buffet«, meldet der dankbare Gast, »bricht nicht nur unter der Last der Gerichte, sondern mehr noch unter der Last derjenigen, die sich darauf stürzen«. Der Anblick all der schönen Leckerbissen läßt ihn den Mund spitzen, und niedlich schreibt er: »Es ist uns gelungen, ein kleines Tischchen zu besetzen und Paula Conrad-Schlenther zu Tischchen zu führen«. Aber warum sagt das Schmöckchen »uns«? Bei der Erteilung kritischer Zensurnoten mag man sich majestätisch fühlen: man schreibt doch Gottseidank anonym und hält schützend die Macht der Zeitung vor sein dürftiges Ich. Aber man frißt doch nicht anonym? Man verzehrt doch eigenhändig all die guten Sachen, die die bezaubernde Frau Buska aufgetischt hat? Nein, der Kritiker kann von dem Plural nicht lassen, auch wenn er die armen Theaterleute, die bei solcher Gelegenheit eines ganzen Jahres Sünden abbüßen, schwitzend um sein leibliches Wohl bemüht sieht. In Prag scheint nämlich »das Theatervölkchen« auf der tiefsten Stufe der Demütigung vor der Presse angelangt zu sein: »Unsere ersten Schauspielkräfte mühen sich, uns ein reiches Souper aus zahllosen Hin- und Hergängen zu verschaffen.« Ich habe in meinem ganzen, an Erfahrungen vom Wesen der Presse reichen Leben einen Satz von ähnlicher Verworfenheit nicht gelesen. Der Stolz eines Schmocks, dem Schauspieler Kellnerdienste leisten müssen, und die höhnische Generosität, die statt Trinkgelder Kalauer verabreicht, vereinigen sich zum Eindruck einer Gesinnungsniedrigkeit, die selbst mich abgehärtetsten Leser verblüfft hat. Aber zur Verhöhnung der Rolle, in welche die Diener der Kunst gezwungen sind, tritt verdientermaßen die Geringschätzung des gastfreien Direktors, der sie ihnen, einer verwöhnten Kritik zu Gefallen, aufgezwungen hat. »Man würde es gar nicht glauben«, ulkt unser Feinschmecker, nachdem er sich bei Neumanns breit gemacht hat, »daß in eine solche Privatwohnung mehr Menschen hineingehen, als tatsächlich Platz haben.« Ja, gibt’s denn so viele Theaterkritiker in Prag? Ach nein, »die ganze Presse«, erzählt er, »sämtliche Rubriken vom Leitartikel bis zur Geschäftszeitung« waren ja vertreten. Und wenn man dazu bedenkt, daß jedes Ich in dieser Gesellschaft eigentlich ein »Wir« ist und nicht bloß sich, sondern gleich »uns« anpampfen will, so wird es begreiflich, daß Buffet und Wohnung sich als zu klein erwiesen.
Viele, aber nur zum Schein
Kamen zu den Fresserei’n,
Gingen zum Buffet direkt,
Nahmen sich, was ihnen schmeckt,
Gratulierten nicht einmal
Und verließen das Lokal.Der Unterschied zwischen der gesamten übrigen Publizistik und mir wird wieder einmal offenbar: Wir fressen, und ich übergebe mich …
(Die Fackel: Nr. 162, 19.05.1904, S. 22-23)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=Die Fackel
NR. 163 WIEN, 31. MAI 1904 VI. JAHR
Titel.
Neulich wurde ein armer Teufel abgestraft, der einen ihm verliehenen päpstlichen Orden getragen hatte, bevor ihm die Bewilligung, ihn zu tragen, erteilt ward. Das ist schrecklich. Die Erschütterungen, denen die dürftigen Gemüter hierzulande ausgesetzt sind, sind nachgerade unerträglich. Heute schwellt frohe Hoffnung die Brust, morgen drückt sie eine Enttäuschung ein. Und die Schadenfreude der ganzen Nachbarschaft! Es gibt wirklich noch immer Leute, die einem den Gregorsorden nicht gönnen … Manchmal glaube ich, der Spott über Ordens- und Titelsucht sei antiquiert. Aber dann höre ich wieder, daß sich einer sein ganzes Leben lang abquält, ein »Truchseß« zu werden. Über weniges wird er in St. Moritz zum zehntenmal an Kaisers Geburtstag die Volkshymne singen, und der Herbst wird in’s Land gehen, und wir werden alt werden, und er wird noch immer nicht Truchseß geworden sein. Dann höre ich wieder, daß ein Mann umgeht, dessen einziges Ziel ist, Bahnhofsportieren die Larve vom Gesicht und die unechten Orden von der Brust zu reißen. Nein, ich halte nur den »Serenissimus«-Spaß für veraltet, die Dummheit der Untertanen ist akuter denn je. Orden sind noch immer die Belohnung für Fleiß und gute Sitten; aber die Vorzugsschüler des Staates sitzen auf der Eselsbank. Nichts scheint abgebrauchter als die witzige Unterscheidung zwischen Titeln und Mitteln. Aber in Österreich sind jene noch immer zugkräftiger als diese. Wird man sich endlich entschließen, einem tiefgefühlten Bedürfnis der Bevölkerung nachzugeben, und einen Wechsel der Werte »kaiserlicher Rat« und »Regierungsrat« vornehmen? In einem Land, wo der musikalische Sinn des Volkes zunächst auf den Klang eines Namens reagiert, ist es geradezu töricht, den Regierungsrat noch länger über einem kaiserlichen gestellt zu lassen. Der Richter, der eine Verhandlung leitet, wird wohl manchmal mit »Herr Gerichtshof« oder »Kaiserlicher Adler« angesprochen, von den Gebildeteren aber doch mit »kaiserlicher Rat«. In diesem Namen liegt die äußerste Summe von Devotion, die der Österreicher zu vergeben hat. Daß er der übliche Titel für jeden Großhändler ist, der zum Laienrichter ernannt wurde oder 20.000 Gulden für irgendeinen Korruptionszweck hergegeben hat, und daß in Österreich’s Jammer guter Rat noch immer teurer ist als ein kaiserlicher, ahnt das gute Volk nicht. Man braucht gar nicht an das Pariser Mißverständnis von dem als österreichischer Staatsmann angesehenen »conseiller impérial« zu erinnern; in einem monarchischen Staat und unter Bürgern, für die es schmeichelhaft ist, von einem Hofwagen überfahren zu werden, ist die heutige Rangordnung widersinnig und bloß geeignet, eine unverdiente Geringschätzung der Regierungsräte herbeizuführen. In dem besten Einfall des Wollustspiels »Herzogin Crevette« ist etwa der Widerspruch vereinigt, der zwischen Klang und Bedeutung des Titels »kaiserlicher Rat« besteht. Dem Gesandten von Oceanien – die trefflichste Gestaltung des unvergleichlichen Maran – wird eingeredet, daß die Wendung »Ich pfeif‘ drauf« den Ausdruck tiefster Teilnahme oder höchsten Respekts bedeute, und so weiß er auf jede gewichtige Mitteilung nur mit unerschütterlichem Ernst zu erwidern: Ich pfeif‘ drauf … Herr Mendel Singer, der vielleicht seinen Titel »kaiserlicher Rat« nicht orthographisch schreiben kann, der journalistische Aushorcher sämtlicher politischen Parteien, zieht sich allsommerlich in ein Tiroler Dorf zurück und wird dort am Geburtstag des Kaisers als dessen Vertreter mit Tusch und Trubel gefeiert. Nichts ist in Österreich unmöglich, und ich rate dir: hast du keinen Titel, so mach‘ dir einen. Denn siehe, vor mir liegt ein Briefpapier, das an seiner Spitze einen sonderbaren Aufdruck hat. Das Konterfei von drei Orden an einer Kette, und darunter steht wörtlich: »Jagdverleger und Jagdschriftsteller Camillo Morgan, Ritter königlicher und fürstlicher Orden sowie ausgezeichnet vom Thronfolger Österreich-Ungarns Seiner kaiserlichen und königlichen Hoheit dem durchlauchtigsten Herrn Erzherzog Franz Ferdinand durch eine Busennadel aus Brillanten. Wien, IX/[SUB]4 Sobieski-Platz 4«. Ich weiß weder, wer Herr Morgan, noch was ein Jagdverleger ist; ich weiß nicht, ob die Busennadel, die Herr Morgan bekam, vielen oder wenigen einen Stich ins Herz versetzt hat. Aber ich weiß, daß die Wirkung noch epatanter wäre, wenn der Besitzer des Briefpapiers auch sämtliche Titel und Orden des Erzherzogs Franz Ferdinand angeführt hätte. Unterzeichnet ist der Brief mit »Camillo Morgan, Fürstlicher Rat«. Was ist das? So etwas wie die Kaulquappe zum kaiserlichen Rat? Meines Wissens gibt’s den Titel in Österreich nicht. Aber ich wette hundert gegen eins, daß Herr Morgan damit die Einwohner eines österreichischen Gebirgsdorfes alarmieren kann. Jahraus jahrein werfen die Leute in der Großstadt das Geld hinaus, um wirkliche Titel zu ergattern. In einem Land, dessen Bevölkerung für Ehrerbietung so sehr disponiert ist, bedarf’s solcher Anstrengung nicht. Und ist die Zulegung irgend eines »Rats« doch ein wenig zu riskant, so versuche man’s einfach mit einem Fremdwort. Ein Fremdwort ersetzt in Österreich sogar die Protektion. Mein Freund hat einmal in einem gesteckt vollen Eisenbahnzug auf die folgende Art ein Separatcoupé erlangt. »Reserviert!« schreit der Kondukteur. »Das gibts nicht!« schreit mein Freund. »Aber für den Herrn Oberrevidenten!« schreit der Kondukteur. »Und wissen Sie nicht, wer ich bin?« schreit der Andere – »Ich bin Hypochonder!« … Rief’s, und mit ergebener Bitte um Entschuldigung, daß er ihn nicht sogleich erkannt habe, öffnete der Kondukteur die Tür des Separatcoupés.
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=Mit der Ausstellung „Goethes Zebra“ wagt sich das Braun-
schweigische Landesmuseum derzeit an eine der letzten
Forschungslücken in der Goethe-Biografie. Kurator Hans-Peter
Litscher erläutert die Tragweite der Begegnung zwischen dem
Dichterfürsten und dem afrikanischen Unpaarhufer im Jahr 1784:„Es gab ganz wenige Leute, die überhaupt wussten, dass
Goethe ein Zebra gesehen hatte – obwohl es einen berühmten
Brief gibt von Goethe an Frau von Stein. Aber außer diesem
Brief war verhältnismäßig wenig über dieses Zebra bekannt.
Wir wissen aber mittlerweile, wem das Zebra gehört hat, wo
es herkam, wo es hinging […].“(DRadio Kultur, 17.06.2014)
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[…] Beim Buchhändler blättert man in den neuesten Erscheinungen, Antiquare packen mit Vorliebe den Ansichtssendungen ganze Kollektionen moderner Poesie bei. Man liest das irre Stammeln, die hinkenden Schülerverse. Enttäuschte Gattinnen schildern die Dränge der ersten Nacht. Jünglinge verwenden ihre erste Bordellbekanntschaft zu tiefgründig psychologischen Studien, und geile Backfische schreien nach dem reinen Mann. Ein heißes Mitleid wallt in uns auf für die beklagenswerten Setzer, die diesem Schund zum Leben verhalfen, für die Redakteure, die solche Gourmandisen samt den lobhudelnden Beizetteln der Verleger zu allererst genießen dürfen. Und auch jene Enterbten des Glücks dürfen unseres Mitgefühls sicher sein, die, ihre Abendatzung vom Greisler holend, nicht ahnen, daß die Lektüre der Emballage ihnen schlimmer bekommen wird als Wurstgift und Schimmel. […]
(Die Fackel: Nr. 171, 17.12.1904, S. 13-14)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=DAS VATERLAND
Unsere Staatsform ist die Republik. Wir dürfen machen, was wir wollen. Wir benehmen uns so ungezwungen, als es uns beliebt. Wir haben niemand von unsern Handlungen Rechenschaft abzulegen, als uns selbst, und das ist unser Stolz. Unsere Ehre allein ist die Grenze, die wir uns um unser Tun stecken. Andere Staaten blicken mit Verwunderung auf uns, daß wir uns durch uns selbst beherrschen vermögen. Wir sind niemandem untertan als unserer Einsicht und unserer ehrlichen Gesinnung, von der wir uns gern befehlen und leiten lassen. Wir haben keinen Platz für einen König oder Kaiser. Die Straßen unserer Städte sind nicht gebaut, um fürstliche Aufzüge passieren zu lassen, unsere Häuser sind keine Ställe, aber auch keine Paläste. Unsere Kirchen sind prunklos und unsere Rathäuser stolz und einfach. Unser Sinn ist wie unsere Wohnung, einfach und wohlhabend, unsere Herzen sind wie unsere Gegenden: rauh, aber nicht unfruchtbar. Wir benehmen uns wie Republikaner, wie Bürger, wie Krieger, wie Menschen. Die Untertanen anderer Länder sehen oft Haustieren ähnlich. Nicht, als ob Freiheit und Stolz unter anderen Völkern nicht auch heimisch wären, aber uns sind sie angeboren. Unsere Väter, die tapferen Eidgenossen, haben uns ihren Sinn hinterlassen, und wir wären zu beklagen, wenn wir anders als treu mit einem so herrlichen Geschenk umgingen. Es ist mir heilig ernst zumut, wenn ich das schreibe. Ich bin ein glühender Republikaner. So jung ich bin, trage ich doch bereits den Wunsch, meinem Vaterland eifrig zu dienen. Ich schreibe diesen Aufsatz mit bebenden Fingern. Ich wollte nur, es gefiele ihm bald, meine Dienste und Kräfte in Anspruch zu nehmen. Doch ich vergesse, daß ich noch ein Schüler der zweiten A-Klasse bin. Wie sehne ich mich, aus dieser dumpfen Jugendlichkeit hinauszutreten ins öffentliche große leben, mit seinen großen Anforderungen, mit seinen Stürmen, Ideen und Taten. Ich liege wie an der Kette. Ich fühle mich wie ein erwachsener verständiger Mensch, und nur der Spiegel, der mir mein Bild zeigt, überzeugt mich von meiner unbedeutenden Jugend. O ich werde, wenn ich einmal soweit bin, meinem Vaterland mit dem heiligsten Eifer dienen, meinen Stolz darin sehen, ihm dienen zu dürfen und nicht müde werden vor Aufgaben, die es ihm beliebt, mir zu stellen. Es brauche meine Kräfte, ja mein ganzes Leben. Wofür haben meine Eltern es mir gegeben? Man lebt nicht, wenn man nicht für etwas lebt, und für welches andere Wohl ließe sich ruhmreicher und edler fechten und leben als für das Wohl der Heimat? Ich bin glücklich, daß ich ein so schönes Leben noch vor mir habe. Das Vaterland ist groß, aber dazu beitragen zu dürfen, daß es noch größer werde, wird mein Stolz, mein Leben, meine Sehnsucht, meine Ehrsucht sein. O ich bin maßlos ehrgeizig, und ich bin es um so mehr, als ich weiß, daß in diesen Dingen ehrgeizig sein, keine Schande und kein unedler Trieb ist. Man kann immer noch ein Held sein. Das Heldentum hat nur ein anderes Aussehen bekommen. Wo es die Größe, den Ruhm, den Vorteil des Vaterlandes betrifft, ist es keine überflüssige Sache, ein Held, ein Opferer zu sein. O, ich noch ein Schüler der zweiten A-Klasse.
(Fritz Kocher, 1902)
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #157: Benny Golson & Curtis Fuller – 12.11.2024 – 22:00 / #158 – 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tbaDeutsche im Ausland.
Mutter Germania gebar in legitimer Ehe mit dem Geiste der Zeit drei Söhne: den Konfektionsreisenden, den Oberlehrer und den Radfahrer. Da alle drei sich brav entwickelten, da sie ihre Kräfte üppig herausbildeten und sich ihres Wertes wohl bewußt waren, schickte Mama sie auf Reisen, wofür sich die Söhne im Lobe der guten Dame schier überbieten wollten. Leider hatte sich jedoch Mutter Germania auch einmal mit dem Geiste der Ewigkeit eingelassen, und diesem Bunde – Gott, man spricht ja nicht gerne davon – entsproß der deutsche Künstler. Um nicht an ihre Schande gemahnt zu werden, hatte Frau Deutschland diesen illegitimen Sohn schon frühzeitig verstoßen, – und das Unglück wollte, daß die Stiefbrüder im Auslande einander begegneten.
Hört zu, was der deutsche Künstler mir über die Begegnungen und die Anfechtungen, die sie für ihn im Gefolge hatten, erzählte:
Ich habe so viel vom Vater, begann er, und meine Mutter hat mich von jeher so schlecht behandelt, daß es Sie nicht wunder nehmen wird, daß ich ein wenig kosmopolitisch gesinnt bin. Zwar liebe ich sehr die Sprache meiner Mutter, wenn sie auch von meinen Brüdern arg mißbraucht wird und in ihrer Gewalt recht verblüht und kümmerlich aussieht – aber sie, die bei zarter Behandlung doch noch immer sehr verlockend, sehr reizvoll, sehr schmiegsam und hingebend ist, ist auch das einzige, was ich noch Liebenswertes aus meinem mütterlichen Erbteil zu ziehen weiß. Wohl steht meine Sehnsucht noch oft genug nach dem heimischen Erdboden: immer wieder möchte ich als Dichter die Sprache waschen und putzen, um die Spuren der Vergewaltigungen zu verwischen, die meine Brüder an ihr verübt haben; immer wieder möchte ich als Maler das Heimatland von den Geschmacklosigkeiten säubern, mit denen sie es verunziert haben. Aber der Geruch ihrer Fußsohlen ist so abscheulich, das Gebrüll, mit dem sie im Lobe des Landes das Land entweihen, so viehisch, daß es mich nie lange daheim hält; daß es mich immer wieder hinaustreibt nach Italien oder Frankreich, nach Ländern, wo ich Menschen finde, die mit mir den Vater gemeinsam haben.
Kann ich dafür, daß ich diese Deutschen, für die ich keinen Funken brüderlicher Empfindung mehr verspüre, die mir zuwider sind, wie mir kein Zuluneger zuwider ist, und die mich in den Tod hassen, weil ich den guten Ruf ihrer Mutter kompromittiere – kann ich dafür, daß ich sie auch im Ausland sehen muß, daß sie mich auch hierher verfolgen, wo sie mich umsomehr ekeln, als sie hier mit ihrer schmierigen Patzigkeit im Bewußtsein ihres Wertes ganz besonders plump auftreten und zu Vergleichen mit den Leuten herausfordern, die der polygame Geist der Zeit mit anderen Nationalitäten gezeugt hat? Und doch kann das mütterliche Blut in mir noch nicht ganz abgestorben, nicht ganz erkaltet sein; sonst könnte ich mir das heiße Schamgefühl nicht erklären, das mich bei allen ihren Handlungen und Äußerungen schüttelt, und das doch wohl nur auf einer innerstempfundenen Solidarität mit diesen nach Wunsch gearteten Kindern meiner Mutter beruhen kann, um derentwillen sie mich verstoßen hat.
Siehe da, der Konfektionsreisende! Wie er seine Ware preist! Wie meine geliebte, von ihm schmählich genotzüchtigte Sprache herhalten muß zum Preise seiner Wohlanständigkeit, die ihn ernährt. Er hausiert mit Lodenjoppen und Kunsturteilen. Und praktisch ist er – ich sage Ihnen! Stets trägt er sein Notizbuch in der Hand, in dem er jeden Pfennig bucht, den er ausgibt. Nicht etwa, daß er wenig ausgäbe – oh, er sorgt aufs üppigste für seine Verdauung. Er schmatzt seine Poularde mit so feistem Behagen herunter, daß jeder schon von ferne den deutschen Konfektionsreisenden in ihm erkennt. Aber er achtet wohl darauf, daß sein persönlichstes Recht an seinem Geld ihm nicht geschmälert werde. Einmal traf ich ihn in Gestalt eines Bücherschreibers, den ich von Deutschland her kannte, vor einem Kaffeehause in Florenz, wo er sich an Sorbeth und ähnlichen kostspieligen Genüssen gütlich tat. Ich hatte keinen Pfennig Geld – Mutter Germania sorgt nicht für ihren illegitimen Sohn –, aber es war Hochsommer und glühende Hitze, und ich sehnte mich nach einer halben Portion Eis. So bat ich den bücherschreibenden Konfektionsreisenden, mir eine Lire zu pumpen. »Wie?« meinte er, »Sie kommen ohne Geld nach Italien? Das ist unverantwortlich. Das kann ich keinesfalls unterstützen.« Die Moral des deutschen Konfektionsreisenden: Geld gibt Rechte. Hast du Geld, so darfst du die Welt sehen, deinen »Horizont erweitern« und im Kreise der Deinen mit Bildung renommieren. Hast du keines, so bleibe zuhause und lasse dich von deinen Stiefbrüdern ausschmarotzen. Pumpst du aber gar einen dieser Stiefbrüder im Auslande an, so erhältst du keine Hilfe, sondern eine moralische Belehrung. Ich habe noch verschiedene Versuche dieser Art in Florenz gemacht; denn dort ging es mir bitter schlecht. Der Konfektionsreisende begegnete mir in vielerlei Gestalt – aber wenn ich ihn bat, mir zu helfen, dann verleugnete er niemals seine Eigenschaft, dann gab es in allen Fällen Abweisungen. Ich pumpte auch Franzosen, ganz fremde, an: niemals erfuhr ich von ihnen einen Refus. Ja, der Konfektionsreisende ist mein praktischer Stiefbruder. Er trägt seinen Reiseplan wohlgesichtet in der Tasche. Er weiß, was er laut Bädeker anzuschauen hat, und welcher Zug ihn in 6 Wochen daheim wieder abliefert. Er versäumt keine Kirche und kein Denkmal, das bei Bädeker einen Stern hat, am allerwenigsten aber die Abfahrt eines Eisenbahnzugs. Wenn er – meist in Gestalt eines jungvermählten Paares oder einer deutschen Ferienfamilie – eine Sehenswürdigkeit besucht, so läßt er sich von einem Führer leiten, hört aufmerksam zu, was der Mann sagt, bleibt vor jedem Gemälde eine halbe Minute stehen, geht im Tempo des Redeflusses des Cicerone von Kunstwerk zu Kunstwerk und verläßt nach Abladung des Trinkgeldes die Stätte der Kunst, ohne einen Blick zurückzuwerfen, froh, der Besuchspflicht entledigt zu sein. Aber sein Warenbestand hat sich vergrößert, er kann eine Partie Kenntnisse mehr feilhalten, und wenn er wieder bei Seinesgleichen ist, dann kann er mitreden: ja, da bin ich auch gewesen! – und kann die tiefsinnigsten Urteile über die Kunstwerke, die er gesehen hat, mit großen Gebärden ins Schaufenster stellen.
Ich komme zum Stiefbruder Oberlehrer. Er erfreut sich im Auslande unter den Brüdern der weitesten Bekanntheit. Nur schade, daß man überall über ihn lacht. Seine Seele ist nämlich bucklig – darum ist er so komisch. Den Buckel, den seine Seele hat, nennt er Logik und Exaktheit. Der deutsche Oberlehrer ist gründlich und gebildet. Wissen Sie, ich will meiner Mutter Germania ja nicht zu nahe treten, aber manchmal hab‘ ich sie im Verdacht, daß sie doch auch Beziehungen zum Geiste der Vorzeit unterhalten haben muß; sonst wüßte ich kaum, wie ich mir den deutschen Oberlehrer erklären soll. Ich halte ihn für den gefährlichsten der drei Brüder. Der Konfektionsreisende und der Radfahrer stinken nur; der Oberlehrer aber fleckt. Er steckt seine Nase inbrünstig in jeden vergessenen Stumpfsinn und wischt sie dann mit lautem Schnäuzen an unseren besten Kulturen ab. Er muß alles wissen, und wer alles wissen muß, der weiß alles besser. Wenn Sie im Auslande bewundernd vor einem herrlichen Tempel stehen und das Unglück will es, so kommt der deutsche Oberlehrer und setzt Ihnen in dreistündigem Vortrag auseinander, warum der linke Quaderstein am dritten Portal rechts im falschen Winkel behauen ist, und wieso es kommt, daß dieser Tempel gerade hier und nicht sieben Meter weiter östlich erbaut ist. Der Oberlehrer verleidet einem jeden Kunst-, jeden Naturgenuß, weil er alles glaubt erklären zu müssen. Und er glaubt alles erklären zu müssen, weil er verzweifelt, wenn er niemand erziehen kann. Er erzieht zu Kenntnissen, zu korrektem Betragen, zur Benutzung der Sinnesorgane, zur Tugend – oder auch zur Freiheitlichkeit, je nachdem, was er gerade für eine Spezies protegiert. Wie er seine Frau zur Korrektheit erzog, habe ich auch einmal in Florenz an einem der heißesten Tage, die mir in Erinnerung sind, belauscht. Die Dame bestellte in einem Café eine Eisschokolade. Ihr Gatte aber, der ein deutscher Universitätsprofessor, etwa aus Halle an der Saale, gewesen sein muß, belehrte sie: »Das wirst du nicht trinken! Du siehst doch, kein Mensch trinkt Eisschokolade. Das kann man wohl in Rom oder Neapel tun, aber in Florenz doch nicht mehr!« Als ich darauf vernehmlichen Tones Eisschokolade verlangte, warf er mir einen vernichtenden Blick zu. Er ist – diese Eigenschaft teilt er mit den beiden anderen Stiefbrüdern – stets mit sich zufrieden. Für alles Weltgeschehen hat er hinreichende Erklärungen, so daß ihm die Mirakel der Kunst und der Natur nichts anhaben können. Nur über sich selbst ist er ganz unorientiert. Er hat keine Ahnung, wie ekelhaft er ist, wenn er jedes Kunstwerk auf die Farbensubstanz studiert, mit der es gemalt ist, ohne irgend welchen seelischen Nutzen daraus zu ziehen; er sieht nicht, welchen schönheitzerreißenden Eindruck seine Klumpfüße in die herrlichsten Gegenden treten; ihm kommt kein Gefühl dafür auf, wie grotesk sich seine Erscheinung im Vergleich zu den prächtigen Südeuropäern ausnimmt, die es verstehen, mit Genuß zu atmen. Dem Konfektionsreisenden kann man hier und da doch mal aus dem Wege gehen, – der Oberlehrer tritt einem überall auf die Zehen. Daher ist er der gefährlichste Sohn des Zeitgeistes.
Der Radfahrer ist der widerwärtigste. Er schwingt die schwarzweißroten Dessous der Mutter Germania mit jubelnder Grazienverlassenheit durch die Lande. Er heult sein »Deutschland, Deutschland über alles« durch jeden stillen poetischen Bergwald, von jedem Kirchturm und von jeder Felsspitze. Das Öldruckbild seines Landesvaters tröstet ihn über alle Qualen der Langweile, die er beim pflichtgemäßen Besuch der Kunstgallerien erdulden mußte. Er fragt nicht: Ist die Tour schön? sondern: Ist da eine gute Fahrstraße? Findet er die Tour trotzdem schön, so rechnet er das sich als Verdienst an: »Hä! ruft er aus. Das nenn‘ ich noch ’ne Gegend!« und lacht dazu aus vollem und belegtem Halse. Und da er gerade beim Lachen ist, erzählt er Anekdoten aus den ‚Fliegenden Blättern‘, gibt Mikoschwitze zum Besten oder zitiert gar Roda Roda. Die Kunst dünkt ihn eine ziemlich nutzlose Beschäftigung für Müßiggänger – sofern er selbst nicht gerade eine Kunst betreibt.
Denn sehen Sie, meine Stiefbrüder, der Konfektionsreisende sowohl wie der Oberlehrer und der Radfahrer gebrauchen alle möglichen Vorwände für ihre Existenz. Sie finden alle erdenklichen Verkleidungen und Bemäntelungen, in denen sie einen belästigen. Oft vertauschen sie auch ihre Gewänder. Dann kommt der Konfektionsreisende als Oberlehrer, oder der Radfahrer als Konfektionsreisender, oder der Oberlehrer als Radfahrer. Oder sie reisen als Studenten, als Rentiers, als Offiziere, als Schauspieler – aber nach den Kennzeichen, die ich Ihnen angedeutet habe, werden Sie sie leicht zu klassifizieren wissen.
Höchst bedenklich ist es nur, daß sie sehr häufig auch mit der Gebärde des Künstlers auftreten. Wie oft stößt man auf einen Maler, der sich durch seine Finanzgebarung plötzlich als Konfektionsreisenden verrät. Oder man trifft einen Musiker, der gelegentlich die Gepflogenheit italienischer armer Leute rügt, die Zigarrenstummel von der Straße aufzusammeln: er erweist sich als Oberlehrer. Oder es kommt einem Dichter bei, eine nichtsahnende Gesellschaft mit einem Kaiserhoch zu überfallen, was ihn sogleich als Radfahrer entlarvt.
Können Sie sich nun vorstellen, was ich, der Künstler, durch meine Stiefbrüder für Qualen erdulden muß? Im Auslande fortwährend unfreiwillig an den Spruch erinnert zu werden: Gedenke, daß du ein Deutscher bist! – das ist das tückischste aller Verhängnisse. Tapsig, flegelhaft, verbohrt, hinterhältig, geizig, unverschämt, kulturlos – das sind so die hervorstechendsten Eigenschaften derer, die man als seine Brüder betrachten soll. Das einzige nationale Gefühl, das ich mir im Auslande gewahrt habe, ist das nationale Schamgefühl. – – –
So urteilte der illegitime Sohn der Mutter Germania über die Deutschen im Ausland.
Erich Mühsam.(Die Fackel: Nr. 210, 31.10.1906, S. 18-23)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=Joachim Ringelnatz
BoxkampfBums! Kock, Canada: Bums!
Käsow aus Moskau: Puff! puff!
Kock der Canadier: Plumps!
Richtet sich abermals uff.
Ob dann der Käsow den Kock haut,
Oder ob er das vollzieht,
Ob es im Bauchstoß, im Knock-out*
Oder von seitwärts geschieht
Kurz: Es verlaufen die heit’ren
Stunden wie Kinderpipi.
Sparen wir daher die weit’ren
Termini technici.
Und es endet zuletzt
Reizvoll, wie es beginnt:
Kock wird tödlich verletzt.
Käsow aber gewinnt.
Leiche von Kock wird bedeckt.
Saal wird langsam geräumt.
Käsow bespült sich mit Sekt.
Leiche aus Canada träumt:
Boxkampf
Boxer
Boxen
Boxel
Boxkalf
Boxtrott
Boxtail
Boxbeutel.* Sprich „nock“, wie bei Butternockerlsuppe
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Ignatius fühlte sich immer schlechter. Sein Magenventil war wie zugeschweißt und ließ sich auch durch ausdauerndstes Treppenhüpfen nicht mehr öffnen. Gewaltige Rülpser kämpften sich durch die verschiedenen Trakte seines Verdauungsapparats aufwärts; manche traten dröhnend ans Tageslicht, andere blieben in der Brustgegend hängen und verursachten schreckliches Sodbrennen.
Die organische Ursache für diese Beschwerden lag, das war Ignatius bewusst, im exzessiven Genuss von Paradise-Würstchen. Ebenso klar war ihm aber, dass es auch andere, subtilere Gründe gab. Da war zum Beispiel seine Mutter, die allmählich außer Rand und Band geriet mit ihrer unermüdlichen Streitlust. Gut möglich, dass sie sich einer Nazi-Splittergruppe angeschlossen hatte, in der Bösartigkeit zum guten Ton gehörte. Jedenfalls hatte sie kürzlich in der braunen Küche eine regelrechte Hexenjagd veranstaltet und alles über seine politische Einstellung wissen wollen. Sonderbar. Bisher war seine Mutter ein komplett apolitischer Mensch gewesen. Wenn sie überhaupt an Wahlen teilnahm, hatte sie ihre Stimme immer nur an Kandidaten vergeben, von denen sie gehört hatte, dass sie gute Söhne und nett zu ihren Müttern seien. Vier Amtsperioden lang hatte sie treu hinter Roosevelt gestanden – aber nicht wegen des New Deal, sondern weil Franklin Delanoe seiner Mutter Sara Ehre und Respekt zollte. Später dann hatte sie ihre Stimme nicht eigentlich Harry Truman, sondern eher dessen Mutter Martha gegeben, die auf jener Fotografie so nett vor ihrem viktorianischen Haus in Independence, Missouri, stand. Mrs. Reilly hatte auch Nixon und Kennedy gewählt, aber die wichtigsten Vornamen waren für sie Hannah und Rose gewesen, nicht Richard und John. Mit mutterlosen Kandidaten konnte sie nichts anfangen, und bei mutterlosen Wahlen blieb sie zu Hause. Weshalb sie nun plötzlich dazu übergegangen war, den American Way of Life gegen ihren eigenen Sohn zu verteidigen, war Ignatius ein Rätsel.
Und dann war da auch noch Myrna, die ihm in einer Serie von Träumen erschienen war: das Ganze erinnerte ihn an jene Batman-Serie, die er als Kind im Kino gesehen hatte. In einer besonders grausigen Folge hatte er auf einer U-Bahn-Plattform gestanden als die Wiedergeburt des heiligen Jakobs des Jüngeren, der von den Juden zu Tode gemartert wurde. Myrna war durch ein Drehkreuz auf ihn zugekommen mit einem Schild, auf dem FRIEDENSMARSCH FÜR DIE SEXUELL BEDÜRFTIGEN stand, und Ignatius-Jakob hatte die Arme ausgebreitet und „Jesus ist die Vorhut der Vorhaut!“ verkündet. Dann hatte ihn Myrna höhnisch grinsend mit ihrem Schild auf die Schienen gestoßen, als gerade der nächste Zug heranraste, und in der Sekunde vor dem todbringenden Aufprall war er aufgewacht. Die Minkoff-Träume waren schlimmer als seine früheren Scenicruiser-Alpträume, in denen Ignatius auf dem Oberdeck von Geisterbussen gesessen hatte, die Brückengeländer durchschlugen und nach endlosem freiem Fall auf vollgetankten Düsenflugzeugen zerschellten, die nichtsahnend vom Hangar hinaus zur Startbahn rollten.
Nachts litt er unter seinen Träumen, tagsüber unter der Hotdog-Route, die Mr. Clyde ihm aufgezwungen hatte. Im gesamten French Quarter hatte – so schien es zumindest – kein Mensch Lust auf Hotdogs. Sein Nettolohn sank von Tag zu Tag, parallel dazu verschlechterte sich die Laune seiner Mutter. Wann und wie würde dieser Teufelskreis enden?
In der Morgenzeitung hatte Ignatius gelesen, dass eine Gruppe einheimischer Freizeit-Kunstmalerinnen ihre Werke in der Pirate’s Alley ausstellte. Da er zuversichtlich annahm, dass die Bilder schlecht genug sein würden, um ihm eine Weile Spaß zu machen, schob er seinen Karren hinüber zum Gitterzaun hinter der Kathedrale, an dem die Werke hingen. Am Bug seiner Blechwurst hatte er zu Werbezwecken ein Blatt aus einem seiner linierten Schulhefte aufgeklebt, auf dem stand: DREISSIG ZENTIMETER (30 CM) AUF DEM WEG INS PARADIES! Bisher hatte niemand auf die Botschaft reagiert.
Die Gasse war voll gutgekleideter Damen mit großen Hüten. Ignatius richtete seinen Karren auf sie und fuhr los. Eine Dame las die Nachricht auf dem linierten Blatt, schrie auf und bedeutete ihren Gefährtinnen mit heftigen Armbewegungen, sich vor dieser garstigen Erscheinung, die da ihre Ausstellung heimsuchte, in Sicherheit zu bringen.
„Wünschen die Damen einen Hotdog?“, fragte Ignatius liebenswürdig.
Die Damen musterten das Schild, den Ohrring, den Schal und den Säbel, dann ersuchten sie ihn, doch bitte seines Wegs zu gehen. Es wäre schon schlimm genug gewesen, wenn ihre Ausstellung wegen Regens ins Wasser gefallen wäre – aber das hier!
„Hotdogs! Hotdogs!“, wiederholte Ignatius, nun schon etwas gereizt. „Kosten Sie unsere Köstlichkeiten aus der blitzsauberen Küche von Paradise Vendors Incorporated!“
Die Stille, die sich darauf breitmachte, durchbrach er mit einem mächtigen Rülpser. Die Damen betrachteten aufmerksam den Flug der Wolken am Himmel und die Blumen im Gärtchen hinter der Kathedrale.
Weil das Hotdog-Verkaufen im Moment keine realistische Option war, ließ Ignatius seinen Karren stehen und walzte hinüber zum Eisengitter, an dem die Ölbilder, Pastellzeichnungen und Aquarelle hingen. Diese unterschieden sich durchaus im Grad ihrer Unbeholfenheit, aber die Motive waren praktisch identisch: Kamelien in bauchigen Glasvasen, ambitiös arrangierte Azaleenbuketts und Magnolien, die wie weiße Windmühlen aussahen. Einsam, mit finsterem Blick und in aller Ausgiebigkeit betrachtete Ignatius ein Werk nach dem anderen, und während er so das Eisengitter abschritt, scharten sich die Damen angstvoll zu einer Art Wagenburg zusammen. Weit abseits vom Geschehen stand einsam der Hotdog-Karren.
„Großer Gott!“, brüllte Ignatius, nachdem er die Ausstellung zweimal abgeschritten hatte. „Wie können Sie es nur wagen, solche Scheußlichkeiten öffentlich herzuzeigen?“
„Bitte gehen Sie weiter, Sir“, sagte eine der Damen mutig.
„So sieht doch keine Magnolie aus.“ Ignatius deutete mit seinem Plastiksäbel auf die fragliche Pastellzeichnung. „Sie brauchen Nachhilfe in Botanik. Vielleicht auch in Geometrie.“
„Niemand zwingt Sie, unsere Bilder anzuschauen“, sagte eine beleidigte Stimme – vermutlich die Künstlerin, welche die inkriminierte Pastellmagnolie gemalt hatte.
„Oh doch!“, schrie Ignatius. „Jemand muss Ihnen sagen, was für Verbrechen auf Leinwand Sie begehen. Gütiger Himmel! Wer von Ihnen hat diese Kamelie zu verantworten? Sie soll vortreten. Das Wasser in dieser Vase sieht aus wie Motorenöl.“
„Lassen Sie uns in Frieden!“, rief eine schrille Stimme.
„Sie sollten Ihre Teekränzchen mal eine Weile aussetzen und zeichnen lernen!“, donnerte Ignatius. „Zuallererst müssen Sie lernen, wie man einen Pinsel in der Hand hält. Ich würde vorschlagen, dass Sie sich alle zusammentun und als erste Übung jemandem das Haus neu streichen.“
„Verschwinden Sie!“
„Wenn man ‚Künstlerinnen‘ wie Sie auf die Sixtinische Kapelle losgelassen hätte, würde diese jetzt aussehen wie eine Bahnhofshalle in Nevada.“
„Wir müssen uns doch hier nicht von einem Hotdog-Verkäufer beleidigen lassen“, sagte würdevoll eine Dame, die einen besonders großen Hut trug.
„Haben Sie etwas gegen Hotdog-Verkäufer?“, brüllte Ignatius. „Leute wie Sie sind es, die den guten Ruf meines Berufsstands untergraben!“
„Der Kerl spinnt.“
„Wie vulgär er ist.“
„Und primitiv.“
„Wir wollen ihn nicht noch provozieren.“
„Ihre Anwesenheit ist hier nicht erwünscht“, sagte die Dame mit dem besonders großen Hut.
„Das glaub ich gern!“, schnaubte Ignatius. „Das gefällt Ihnen natürlich nicht, dass einer mit Realitätssinn Ihnen sagt, was für einen Mist Sie hier öffentlich herzeigen.“
„Bitte gehen Sie jetzt.“
„Das tu ich, keine Sorge.“ Ignatius fasste die Griffstange seines Karrens und schob ihn an. „Aber Sie alle sollten die Menschheit für das, was hier an diesem Zaun hängt, auf Knien um Vergebung bitten.“
Ignatius watschelte davon und die Damen schauten ihm erleichtert hinterher. „Dass so was frei rumlaufen darf“, seufzte die Dame mit dem besonders großen Hut. „Mit dieser Stadt geht’s wirklich bergab.“
Es überraschte Ignatius dann doch, als ihn ein kleiner Stein am Hinterkopf traf. Wütend schob er seinen Karren zum Ende der Gasse und parkte ihn in einen schmalen Durchgang zwischen zwei Häusern, wo er außer Sicht war. Seine Füße schmerzten, er musste sich ausruhen. Während der Pause wollte er nicht von Fremden um einen Hotdog angegangen werden. Auch wenn die Geschäfte schlecht liefen, musste der Mensch doch auch mal an sich und an seine Gesundheit denken. Schließlich konnte Mr. Clyde nicht von ihm verlangen, dass er sich die Füße blutig lief.
Die Seitentreppe zur Kathedrale, auf der Ignatius sich niederließ, erwies sich als ziemlich unbequem. Überhaupt war ihm in letzter Zeit, da er erheblich an Gewicht zugenommen hatte und wegen seines verschlossenen Magenventils an Blähungen litt, jede Körperhaltung mit Ausnahme des Stehens und Liegens unangenehm. Er zog die Stiefel aus und unterzog seine großen Füße einer eingehenden Inspektion.
„Meine Güte, was ist denn das?“, rief jemand hoch über ihm. „Da komme ich her und will mir die furchtbare Ausstellung anschauen, und was sehe ich als erstes? Den Geist von Kapitän Lafitte! Nein, es ist Fatty Arbuckle. Oder Marie Dressler? Sagen Sie’s mir, ich sterbe vor Neugier.“
Ignatius schaute zu der Stimme hinauf. Es war der junge Mann, der seiner Mutter im Night of Joy den Hut abgekauft hatte.
„Hau ab, du Lackaffe. Wo ist der Hut meiner Mutter?“
„Ach, der …“, seufzte der junge Mann. „Ich fürchte, der ist bei einem wirklich wüsten nächtlichen Beisammensein kaputtgegangen. Wir hatten alle viel Spaß damit.“
„Das kann ich mir vorstellen. Die Frage nach den näheren Umständen erspare ich mir.“
„Ich wäre auch nicht in der Lage, darüber Auskunft zu geben. Zu viele Martinis in meinem hübschen Köpfchen.“
„Grundgütiger!“
„Aber sagen Sie, was um Himmels willen treiben Sie hier in dieser bizarren Verkleidung? Sie sehen ja aus wie Charles Laughton, der sich für eine Transvestitenschau als Zigeunerkönigin verkleidet hat. Was soll denn das darstellen? Ich bin wirklich neugierig.“
„Hau ab, du Schnösel.“ Ignatius ließ einen derart gewaltigen Rülpser fahren, dass sein Echo von den Hausmauern widerhallte und am anderen Ende der Gasse die Damen mit den großen Hüten sich nochmal nach ihm umdrehten. Hasserfüllt musterte er das lohfarbene Samtjackett des jungen Burschen, den violetten Kaschmirpullover und die blonde Tolle, die ihm keck ins glatte Gesicht fiel. „Schleich dich, bevor ich dich zu Boden schlage.“
„Du liebes bisschen.“ Der junge Mann kicherte, dass sein Samtjackett bebte. „Sie sind komplett verrückt, habe ich recht?“
„Wie kannst du es wagen!“ Ignatius löste die Sicherheitsnadel seines Plastiksäbels und schlug nach den Waden des jungen Burschen. Dieser wich kichernd, tänzelnd und Pirouetten drehend aus, und als er außer Reichweite auf der anderen Straßenseite angelangt war, warf Ignatius ihm einen seiner elefantengroßen Wildlederstiefel hinterher.
„Oh“, quiekte der junge Mann. Er hob den Stiefel auf, warf ihn zurück und traf Ignatius mitten ins Gesicht.
„Mein Gott!“, schrie Ignatius. „Ich bin für immer entstellt.“
„Ach was.“
„Ich zeig dich wegen Körperverletzung an.“
„Ich an Ihrer Stelle würde einen großen Bogen um jede Polizeiwache machen. Was würden die wohl sagen, wenn Sie mit Ihrem Supergirl-Outfit antanzen und behaupten, ich hätte Sie angegriffen? Da wollen wir doch realistisch bleiben. Ich find’s schon verwunderlich, dass Sie in Ihrem Wahrsagerinnenkostüm frei rumlaufen dürfen.“ Der junge Mann klappte sein Feuerzeug auf und zündete sich eine Salem an. „Und dann noch barfuß und mit diesem Spielzeugschwert. Soll das eigentlich ein Scherz sein?“
„Die Polizei wird mir aufs Wort glauben.“
„Na gut, versuchen Sie’s.“
„Du kommst für Jahre hinter Gitter.“
„Sie sind wirklich komplett durchgedreht.“
„Das muss ich mir nicht länger anhören“, sagte Ignatius, während er seinen Stiefel wieder anzog.
„Dieser Gesichtsausdruck, hihi!“, jubelte der junge Mann. „Wie Bette Davis mit Magenverstimmung.“
„Sprich nicht mehr zu mir, du Missgeburt. Geh spielen mit deinen süßen kleinen Freunden. Von denen gibt’s jede Menge hier im French Quarter.“
„Wie geht’s eigentlich Ihrer reizenden Frau Mama?“
„Ich dulde nicht, dass du den Namen dieser Heiligen in deinen schmutzigen Mund nimmst.“
„Da es nun aber schon passiert ist, geht es ihr gut? So eine natürliche, nette und unverdorbene Frau. Sie sind wirklich ein Glückskind.“
„Mit dir rede ich nicht über meine Mutter.“
„Wie Sie wollen. Ich hoffe nur, dass die arme Frau nicht weiß, dass Sie hier als ungarische Jungfrau von Orléans durch die Gegend rennen. Ich glaube, der Ohrring macht’s. Der ist ausgesprochen ungarisch.“
„Kauf dir selbst so ein Kostüm, wenn es dir gefällt, aber lass mich jetzt in Ruhe“, sagte Ignatius.
„So was kann man doch nirgends kaufen. Zu schade, das wäre der Knüller auf jeder Party.“
„Ich kann mir gut vorstellen, was für apokalyptische Szenen sich auf deinen Partys abspielen. Das habe ich schon vor langer Zeit vorausgesagt, dass unsere Gesellschaft mal so enden wird. Nur wenige Jahre noch, dann werden Leute wie du die Macht in diesem Land übernehmen.“
„Genau das haben wir vor“, sagte der junge Mann mit einem strahlenden Lächeln. „Wir haben Verbindungen in allerhöchste Kreise. Sie würden staunen.“
„Nein, das würde ich nicht. Hroswitha hätte das schon längst prophezeien können.“
„Wer ist denn Hroswitha?“
„Eine Nonne und Seherin aus dem Mittelalter. Sie leitet mich durch mein Leben.“
„Sie sind ja wirklich unglaublich. Und dicker geworden sind Sie auch seit dem letzten Mal, das hätte man nicht für möglich gehalten. Ich frage mich nur, wo das alles enden soll. Ihre Fettleibigkeit hat etwas Protziges, finden Sie nicht?“
Ignatius erhob sich und stieß dem jungen Mann seinen Plastiksäbel in den Kaschmirpullover. „Nimm das, du Wüstling!“ Die Spitze des Säbels brach ab und fiel zu Boden.
„He, was soll das!“, kreischte der junge Mann. „Sie machen mir ja ein Loch in den Pulli, Sie dicker Spinner.“
Am anderen Ende der Gasse nahmen die Damen mit den breiten Hüten ihre Bilder vom Zaun und klappten die Gartenstühle zusammen wie Beduinen, die ihr Lager abbrechen. Für dieses Jahr war ihnen die traditionelle Freiluftausstellung verdorben.
„Ich bin der Rächer von Anstand und gutem Geschmack!“, schrie Ignatius. Als er den Pullover mit seinem Säbelstumpf zerfetzte, traten die Damen den Rückzug in die Royal Street an. Ein paar Nachzüglerinnen rafften panisch die letzten Magnolien und Kamelien zusammen.
„Das war mein schönster Pulli! Mit Freaks wie Ihnen sollte man sich besser nicht einlassen.“
„Du Hure!“, kreischte Ignatius und fuhr dem jungen Mann mit dem Säbel ein weiteres Mal über die Brust.
Der junge Mann wollte davonlaufen, aber Ignatius hielt ihn mit seiner freien Hand am Arm fest. Da hakte er einen Finger in Ignatius‘ Ohrring, zog diesen nach unten und keuchte: „Lassen Sie den Säbel fallen!“
„O Gott!“ Ignatius ließ den Säbel fallen. „Jetzt ist mein Ohr kaputt.“
Der junge Mann gab den Ohrring frei.
„Du dummer Junge, jetzt hast du’s geschafft!“, wimmerte Ignatius. „Du wirst für den Rest deines Lebens im Zuchthaus verrotten.“
„Schauen Sie sich meinen Pulli an, Sie ekelhaftes Monster.“
„Eine solche Abscheulichkeit kann nur ein farbenblinder Brüllaffe anziehen. Hast du denn gar keine Scham im Leib?“
„Sie schrecklicher Mensch. Sie dickes Ding.“
„Bis mein Ohr wiederhergestellt ist, werde ich mich wahrscheinlich einer mehrjährigen Behandlung in der Hals-, Nasen-, Ohrenklinik unterziehen müssen“, sagte Ignatius und fummelte an seinem Ohr herum. „An deiner Stelle würde ich mich darauf gefasst machen, dass du monatlich ziemlich gesalzene Rechnungen bekommst. Morgen früh werden meine Anwälte bei dir vorsprechen, wo immer du deiner zweifelhaften Tätigkeit nachgehen magst. Meine Anwälte sind Stützen der Gesellschaft, musst du wissen, kreolische Aristokraten und Gelehrte, die Allerbesten auf ihrem Gebiet. Wenn sie überhaupt eine Schwäche haben, dann höchstens die, dass sie mit den niedrigeren Formen menschlichen Lebens nicht recht vertraut sind. Ich werde sie vorwarnen, dass sie sich bei dir auf alles gefasst machen müssen. Wenn ich es recht bedenke, werden sie sich womöglich weigern, mit dir Kontakt aufzunehmen, und stattdessen einen ihrer Juniorpartner schicken.“
„Sie widerliches Rindvieh.“
„Wenn du dir allerdings diese unangenehme Begegnung mit meinen juristischen Geistesgrößen ersparen willst, lass ich vielleicht über einen Vergleich mit mir reden. Fünf oder sechs Dollar wären, so scheint mir, angemessen.“
„Mein Pulli hat vierzig Dollar gekostet“, sagte der junge Mann und tastete die Spuren ab, die der Säbel darauf hinterlassen hatte. „Sind Sie bereit, für den Schaden aufzukommen?“
„Natürlich nicht. Ich lasse mich nie auf Streit mit Sozialhilfeempfängern ein.“
„Ich könnte Sie ohne weiteres verklagen.“
„Vielleicht sollten wir beide von gerichtlichen Schritten Abstand nehmen. Ein so feierlicher Anlass wie eine Gerichtsverhandlung würde dir nur in den Kopf steigen, du würdest im Abendkleid und Diadem aufkreuzen und den betagten Richter zu bezirzen versuchen. Und am Ende würden wir womöglich beide schuldig gesprochen.“
„Sie Scheusal.“
„Warum läufst du nicht los und nimmst an einer jener zweifelhaften Vergnügungen teil, die dir und deinesgleichen solchen Spaß machen?“ Ignatius rülpste. „Dort unten in der Chartres Street habe ich vorhin einen Matrosen gesehen, der ziemlich einsam aussah.“
Der junge Mann spähte zur Chartres Street am Ende der Gasse hinunter. „Ach der. Das ist nur Timmy.“
„Timmy?“, fragte Ignatius aufgebracht. „Kennst du den?“
„Natürlich“, sagte der junge Mann höchst gelangweilt. „Ein lieber, alter Freund von mir. Aber alles andere als ein Matrose.“
„Was?“, brüllte Ignatius. „Willst du damit sagen, dass er das Ehrenkleid der amerikanischen Kriegsmarine zu Unrecht trägt?“
„Manchmal trägt er auch was anderes.“
„Das sind erschütternde Neuigkeiten.“ Ignatius runzelte die Stirn, dass der rote Seidenschal über seine Jagdmütze bis zu den Augenbrauen hinunterrutschte. „Das bedeutet, dass jeder Soldat oder Matrose, dem man auf der Straße begegnet, ein verrückter Perversling sein kann. Mein Gott, womöglich ist das Teil einer allumfassenden Verschwörung. Ich hab schon immer geahnt, dass so was eines Tages geschehen könnte. Wahrscheinlich stehen die Vereinigten Staaten von Amerika ohne jede Verteidigung da!“
Der junge Mann und der Matrose winkten einander freundschaftlich zu. Dann verschwand der Matrose hinter der Kathedrale. Einige Schritte hinter ihm folgte Wachmann Mancuso in Kunstmalerverkleidung mit Barett und Ziegenbärtchen.
„Oh!“, jubelte der junge Mann. „Schauen Sie nur, das ist dieser köstliche Polizist. Haben die auf der Wache noch immer nicht begriffen, dass den im French Quarter jeder kennt?“
„Du kennst ihn auch?“, fragte Ignatius misstrauisch. „Der Mann ist extrem gefährlich!“
„‚Ach, den kennt hier jeder. Gottseidank ist er wieder da, wir haben uns schon Sorgen gemacht. Wir lieben ihn alle! Ich kann es jedes Mal kaum erwarten, dass er wieder mit einem neuen Kostüm daherkommt. Sie hätten ihn vor ein paar Wochen sehen sollen, bevor er verschwunden ist – als Cowboy war er Spitze!“ Der junge Mann schüttelte sich vor Lachen. „Er konnte kaum gehen in seinen Stiefeln, dauernd sind ihm die Knöchel umgeknickt. Einmal hat er mich angehalten, als ich in der Chartres Street mit dem Hut Ihrer Mama eine kleine Show abzog. Ein anderes Mal ist er mir mit Hornbrille und Sweater in der Dumaine Street hinterhergelaufen und hat behauptet, er sei Student in Princeton. Er ist einfach fabelhaft! Ich bin so froh, dass die Polizei ihn wieder hierherversetzt hat, wo man seine Qualitäten wirklich zu schätzen weiß. Überall sonst wäre er am falschen Ort. Und erst sein Akzent! Manche mögen ihn am liebsten, wenn er einen englischen Touristen spielt. Na ja, die Geschmäcker sind verschieden. Ich selber ziehe seinen Südstaatenoberst vor, aber das ist Geschmackssache, wie gesagt. Zweimal haben wir ihn übrigens wegen unsittlichen Benehmens angezeigt, so was bringt die Polizei immer herrlich durcheinander. Ich hoffe nur, dass man ihn nicht zu sehr in die Mangel genommen hat, denn wir haben ihn hier wirklich ins Herz geschlossen.“
„Der Mann ist durch und durch böse“, bemerkte Ignatius. „Aber ich würde doch zu gern wissen, wie viele unserer angeblichen ‚Militärs‘ nur verkleidete Stricher sind wie dein Freund da.“
„Wer weiß? Von mir aus alle.“
„Andererseits könnte es sich auch um einen weltweiten Tuntenkomplott zur Unterwanderung der Streitkräfte handeln, dann wäre der nächste Krieg nichts weiter als eine einzige große Schwulenparty. Meine Güte. Wie viele Generäle auf dieser Welt sind nur geisteskranke alte Sodomiten, die ihre persönliche Kostümphantasie ausleben? Vielleicht ist das ja ein Segen für unsere alte Mutter Erde. Gut möglich, dass dies das Ende aller Kriege bedeutet. Was meinst du, ob wir den Schlüssel zum ewigen Frieden in Händen halten?“
„Warum nicht?“, sagte der junge Mann versöhnlich. „Frieden um jeden Preis.“
In diesem Augenblick berührten sich zwei Nervenenden in Ignatius‘ Hirn, worauf sich in seinem Geist zwei Bilder verbanden. Sein Instinkt sagte ihm, dass er auf dem richtigen Weg war. Jetzt würde er der Minkoff-Mieze so richtig zeigen, welches Potential in Ignatius J. Reilly steckte.
„Ich könnte mir vorstellen“, sagte er zum jungen Mann, „dass die machtbesessenen Fürsten dieser Welt nicht schlecht staunen würden, wenn sich ihre Offiziere und Soldaten als verkleidete Sodomiten herausstellen würden, die nichts Eiligeres zu tun haben, als sich mit den sodomistischen Armeen anderer Länder zu vereinigen, orgiastische Feste zu feiern und ein paar neue Tanzschritte zu lernen.“
„Wäre das nicht wunderbar? Und die Regierung würde unsere Reisekosten übernehmen. Göttlich. Die Schlächterei hätte ein Ende. Glaube, Liebe und Hoffnung würden die Welt regieren.“
„Vielleicht bist du die große Hoffnung für die Zukunft der Menschheit.“ Ignatius klatschte dramatisch in die Hände. „Es ist ja sonst nichts Vielversprechendes in Sicht.“
„Auch das Problem der Bevölkerungsexplosion würden wir lösen.“
„Wahrhaftig.“ Das blaue und das gelbe Auge blitzten. „Deine Methode wär wahrscheinlich ebenso effizient wie meine äußerst restriktive Methode der Geburtenkontrolle, die ich bisher propagiert habe. Ich werde darauf in meinen Schriften eingehen müssen, das Thema verdient eine gründliche Vertiefung aus kulturhistorischer und kulturkritischer Sicht. Ich bin dir für diesen wertvollen Hinweis sehr zu Dank verpflichtet.“
„Ach, was ist das heute für ein lustiger Tag! Sie sind eine Zigeunerbraut, Timmy ist Matrose, und unser fabelhafter Polizist ist ein Künstler.“ Der junge Mann seufzte. „Es ist wie Mardi Gras, und ich bin nicht dabei. Ich laufe jetzt nach Hause und verkleide mich.“
„Einen Augenblick noch“, sagte Ignatius. Diese Gelegenheit durfte er sich nicht entgehen lassen.
„Ich werde Stöckelschuhe anziehen, heute fühle ich mich wie Ruby Keeler.“ Dann fing der junge Mann an zu singen: „You go home and get your scanties, I’ll go home and get my panties, and away we’ll go. Oh-ho-ho. Off we’re gonna shuffle, shuffle off to Buffalo-ho-ho …“
„Hör sofort auf mit dieser widerlichen Vorstellung!“, befahl Ignatius. Es war an der Zeit, dass er dem Burschen Disziplin beibrachte.
Der junge Mann tanzte auf leisen Sohlen um Ignatius herum. „Ruby war sooo süß! Ich schaue mir jeden Film von ihr an, der im Fernsehen kommt. And for just a silver quarter, we can tipp the pullman porter, turn the lights down low, oh-ho-ho, off we’re gonna shuffle, shuffle, off to …“
„Jetzt hör auf rumzuhopsen, wir wollen mal eine Sekunde ernst sein.“
„Moi? Hopsen? Was wünschst du dir denn von mir, schöne Zigeunerin?
„Habt ihr jemals daran gedacht, eine Partei zu gründen und einen Kandidaten aufzustellen?“
„Politik? O heilige Jungfrau von Orléans, so was Langweiliges.“
„Das ist sehr wichtig!“ Ignatius würde Myrna Minkoff schon zeigen, wie man Sex und Politik auf einen Nenner bringt. „Der Gedanke ist zwar noch neu und gewöhnungsbedürftig, aber es könnte tatsächlich sein, dass du und deine Freunde den Schlüssel zur Zukunft in Händen haltet.“
„Und was soll daraus werden, Eleanor Roosevelt?“
„Ihr müsst eine Partei gründen. Eine Strategie entwickeln.“
„Oh, bitte“, erwiderte der junge Mann. „Solches Männergerede macht mich ganz schwach im Kopf.“
„Wir sind hier im Begriff, die Welt zu retten!“, tönte Ignatius wie ein Volkstribun. „Herr im Himmel, wieso bin ich da nicht schon früher drauf gekommen?“
„Gespräche dieser Art deprimieren mich mehr, als Sie sich jemals werden vorstellen können“, sagte der junge Mann. „Allmählich erinnern Sie mich an meinen Vater, und etwas Deprimierenderes gibt es nicht.“ Der junge Mann seufzte. „Ich muss jetzt los, es ist Zeit zum Umziehen.“
„Nein!“ Ignatius hielt ihn am Kragen seiner Samtjacke fest.
„O mein Gott, was für eine Aufregung!“, stöhnte der junge Mann und fasste sich an die Kehle. „Ich brauche jetzt dringend eine Tablette, sonst kippe ich aus den Schuhen.“
„Wir müssen uns sofort organisieren.“
„Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr Sie mich deprimieren.“
„Wir müssen eine Gründungsversammlung durchführen, um unsere Kampagne zu starten.“
„Das wäre dann aber eine Party, oder?“
„Irgendwie schon. Aber wir müssen unsere Botschaft rüberbringen.“
„Das könnte sogar Spaß machen. In letzter Zeit waren die Partys hier nämlich ganz furchtbar öde.“
„Das wird aber keine Party, du Arsch!“
„Verstehe, wir machen Ernst. Alles sehr, sehr ernst.“
„Genau. Jetzt hör mir zu. Ich werde ein Grundsatzreferat halten, das unsere Parteigänger ideologisch auf den richtigen Weg führt. Ich habe einige Erfahrung mit politischen Veranstaltungen.“
„Herrlich. Und Sie müssen unbedingt dieses phantastische Kostüm tragen“, quietschte der junge Mann und hielt sich vor Aufregung die Hand vor den Mund. „Damit sind Sie der Mittelpunkt der Party, das verspreche ich. Ach, das wird ein Spaß!“
„Wir dürfen keine Zeit verlieren“, sagte Ignatius streng. „Der Jüngste Tag steht vor der Tür.“
„Wir machen’s nächste Woche bei mir zu Hause.“
„Dazu brauchen wir rotes, weißes und blaues Krepppapier“, gab Ignatius zu bedenken. „Das ist bei politischen Veranstaltungen üblich.“
„Ich werde das Zeug ballenweise besorgen und denke mir eine schöne Dekoration aus. Dann rufe ich ein paar von meinen besten Freunden an, dass sie mir helfen.“
„Ja, mach das!“ Ignatius war begeistert. „Die Organisation muss auf jeder Ebene ansetzen.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass du so nett sein kannst. Damals in dieser schrecklichen, schmutzigen Bar warst du so gemein zu mir.“
„Ich bin ein Mensch mit vielen Gesichtern.“
„Und ein erstaunlicher Mensch“, sagte der junge Mann und musterte Ignatius von oben bis unten. „Dass man dich frei herumlaufen lässt … irgendwie imponierst du mir.“
„Verbindlichen Dank“, sagte Ignatius und schaute geschmeichelt beiseite. „Die meisten kleineren Geister sind nicht in der Lage, meine Weltsicht zu erfassen.“
„Das kann ich mir gar nicht vorstellen.“
„Ich ahne, dass sich unter deiner weibisch-vulgären Fassade doch eine Art Seele verbirgt. Hast du je Boethius gelesen?“
„Wen? Meine Güte, nein. Ich lese noch nicht mal Zeitung.“
„Dann müssen wir dir sofort ein Leseprogramm zusammenstellen, damit du die Krise unserer Epoche verstehen lernst“, teilte ihm Ignatius feierlich mit. „Wir fangen mit den späten Römern an, vor allem natürlich Boethius. Danach musst du dich möglichst gründlich mit dem Mittelalter befassen. Renaissance und Aufklärung lassen wir aus, das ist nur gefährliche Propaganda. Wenn ich es recht bedenke, solltest du auch die Klassik und die Romantik auslassen. Zum Verständnis der Gegenwart solltest du ein paar ausgewählte Comics studieren.“
„Ach, wie aufregend.“
„Besonders ans Herz legen würde ich dir Batman, weil er gewissermaßen die korrupte Zivilisation, in die er geraten ist, hinter sich lässt. Er ist ein streng moralischer Mensch. Ich respektiere Batman sehr.“
„Oh, da kommt Timmy wieder“, sagte der junge Mann. Tatsächlich überquerte der Matrose die Chartres Street in entgegengesetzter Richtung. „Immer dieselbe Strecke, hin und zurück, hin und zurück. Das muss dem doch irgendwann verleiden. Schau, er trägt noch immer seine Sommeruniform, dabei ist es Winter. Und dann wundert er sich, wenn die Sittenpolizei ihn erwischt. Ein bisschen blöd ist er ja schon, der gute Timmy.“
„Jedenfalls macht er ein Gesicht, als ob er Sorgen hätte. O mein Gott, schau nur!“, rief Ignatius, als ein paar Schritte hinter dem Matrosen der Kunstmaler mit Barett und Ziegenbärtchen wieder auftauchte. „Diese Lachnummer von einem Gesetzeshüter mischt sich wieder ein, der wird uns noch alles vermasseln. Lauf schnell und hol deinen falschen Matrosen von der Straße, bevor ein Unglück geschieht. Wenn die Marine ihn enttarnt, fliegt unsere ganze Strategie auf. Na los, bring ihn in Sicherheit, bevor der teuflischste Politcoup in der Geschichte der westlichen Zivilisation Schiffbruch erleidet.“
„Oh ja!“, quietschte der junge Mann und klatschte begeistert in die Hände. „Timmy fällt glatt in Ohnmacht, wenn ich ihm sage, was er beinahe angestellt hätte.“
„Aber vergiss die Vorbereitungen zum Parteitag nicht“, ermahnte ihn Ignatius.
„Ich werde schuften bis zum Umfallen“, sagte der junge Mann. „Wir machen Bezirksversammlungen, Wahllisten, Programme, Ausschüsse … so um acht legen wir los, ja? Ich wohne in der St. Peter Street, in dem gelben Stuckhaus gleich an der Ecke zur Royal Street. Du kannst es nicht verfehlen. Hier ist meine Karte.“
„Grundgütiger!“, murmelte Ignatius, als er die nüchterne kleine Karte las. „Dein Name ist tatsächlich Dorian Greene?“
„Aber ja, ist das nicht lustig? Wenn ich dir meinen wirklichen Namen nenne, sprichst du kein Wort mehr mit mir, so sterbenslangweilig ist er. Ich bin auf einer Weizenfarm in Nebraska zur Welt gekommen. Da kannst du dir ja vorstellen, wie ich heiße.“
„Wie auch immer – mein Name ist Ignatius J. Reilly.“
„Das geht ja noch. Ich hätte gedacht, du heißt Horace oder Humphrey oder so. Also, bitte enttäusch mich nicht, bereite deine Rede gut vor. Wir werden ein volles Haus haben, das garantiere ich dir. In letzter Zeit war hier alles so furchtbar langweilig, da werden sich die Leute um eine Einladung reißen. Ruf mich an, dann machen wir ein Datum aus.“
„Du musst aber allen klarmachen, wie wichtig diese historische Zusammenkunft ist“, sagte Ignatius. „Wir bilden hier die Kerngruppe, Luftikusse können wir nicht gebrauchen.“
„Ein paar Kostümierte werden wahrscheinlich schon auch kommen“, gab Dorian Greene zu bedenken. „Das ist ja gerade das Schöne an New Orleans, dass man Mardi Gras das ganze Jahr über haben kann. Im French Quarter geht’s oft zu wie auf einem Maskenball, ich selber kann Freund und Feind manchmal nicht mehr unterscheiden. Aber wenn du wirklich keine Kostüme dabeihaben willst, gebe ich eben allen Bescheid, obwohl ihnen das einen kleinen Stich in ihre Herzchen geben wird. Es ist schon so lange her, seit wir eine wirklich gute Party hatten.“
„Gegen ein paar geschmackvolle, dezente Masken hätte ich durchaus nichts einzuwenden“, sagte Ignatius nach einigem Nachdenken. „Sie könnten sogar zum internationalen Flair unserer Versammlung beitragen. Ich habe festgestellt, dass Politiker sehr gern irgendwelchen Deppen in Trachten oder Federschmuck die Hand schütteln, da wär’s vielleicht doch gut, wenn wir zwei oder drei Kostüme dabeihätten. Aber bitte keine Damenimitatoren, mit denen wollen Politiker nicht gesehen werden. Sie erwecken Misstrauen bei der ländlichen Wählerschaft.“
„So, jetzt muss ich mir aber diesen dummen Timmy schnappen. Den erschrecke ich zu Tode!“
„Nimm dich in Acht vor diesem Satan von einem Polizisten. Wenn der von unserer Sache Wind bekommt, ist alles verloren.“
„Wir könnten auf der Wache anrufen und ihn verhaften lassen, weil er mich belästigt hat. Obwohl’s ein bisschen schade wäre, wo er doch erst grad wieder aufgetaucht ist. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für ein herrlich dummes Gesicht der jedes Mal macht, wenn der Einsatzwagen vorfährt und ihn mitnimmt. Und erst die anderen Polizisten! Es ist unbezahlbar. Ich bin so froh, dass er wieder da ist. Eine Weile werden jetzt alle nett sein zu ihm, da bin ich sicher. Bis dann, Zigeunerfürstin.“
Dorian hüpfte die Gasse hinunter, seinem Matrosen hinterher. Ignatius schaute zur Royal Street hinauf und stellte fest, dass die Damen mit den großen Hüten verschwunden waren. Er kehrte zum Durchgang zurück, in dem er seinen Karren abgestellt hatte, bereitete sich einen Hotdog zu und betete, dass ihn in seinem Versteck vor der Abenddämmerung doch noch ein Kunde entdecken möge. Dass er so tief sinken würde, dass er um Kundschaft für seinen Hotdog-Stand beten würde, hätte er nie für möglich gehalten. Fortuna hatte ihm übel mitgespielt, sein Glücksrad war auf dem Tiefpunkt angelangt. Aber dann fiel ihm ein, dass er nun immerhin eine echte Wunderwaffe gegen Myrna Minkoff in Anschlag gebracht hatte; der Gedanke an die Gründungsversammlung stimmte ihn wieder heiter. Diesmal würde er die Göre zur Hölle schicken.(aus: John Kennedy Toole, Die Verschwörung der Idioten. [OT: A Confederacy of Dunces.] Neu übersetzt von Alex Capus)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=[…]
Der Schreibtischmensch, der eben seinen eigenen Schreibtisch hat. Sein Haus, sein Zettelkasten. In der literarischen Persönlichkeit lebt der Gedanke von der Form, und die Form vom Gedanken. In Herrn Harden vegetieren sie armselig nebeneinander, der Gedanke fristet sein Dasein von der kläglichen Gewißheit, daß ihn die Anderen nicht hatten, und die unbestreitbare Eigenart des Ausdrucks besteht von Gnaden der Indolenz, mit der die deutsche Sprache im Zeitungsdienst jegliche Notzucht zu ertragen gelernt hat. Wäre Herr Harden nicht durchaus originell, er wäre überhaupt nicht. Die tiefere Selbständigkeit, die sich’s zutraut, manchmal ja zu sagen, fehlt ihm ganz und gar, und darum kann er nur nein sagen. Weil aber die mechanische Promptheit der Negierung die Banalität des verkappten Jasagers verraten könnte, stellt sich die Sprache auf Stelzen, um sich doch über den Durchschnitt zu erheben. Aber sie unterscheidet sich nur von jenen, die auf zwei eigenen Beinen stehen. Schwulst ist Krücke. Humorlosigkeit ist immer affektiert. Witz ist kein sprachlicher Neutöner, er setzt die Sprache voraus und verträgt keine terminologische Hemmung. Temperament hat so viel zu sagen, daß es nicht Zeit hat, kalligraphische Schnörkel anzubringen. […](Die Fackel: Nr. 234-235, 31.10.1907, S. 9)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=Nach so viel Text zur Nacht noch was Feines von Richard Brautigan:
Sie haben es wirklich gut
Sie haben es wirklich gut.
Sie trinken Wein
und reden über Sachen
die sie mögen.--
l'enfer c'est les autres...[…] Es ist natürlich möglich, daß ich übertreibe; ich hoffe ernstlich, daß es so ist. Denn wo keine Übertreibung, da ist kein Verständnis. Nur über Dinge, die einem nicht nahegehen, hat man ein wirklich unparteiisches Urteil; dies ist vermutlich der Grund, warum ein unparteiisches Urteil immer vollkommen wertlos ist. […]
(Oscar Wilde, in: Die Fackel: Nr. 239-240, 31.12.1907, S. 12-13)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<= -
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