Re: Lesefrüchte

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hal-croves
אור

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Die Fackel

NR. 163 WIEN, 31. MAI 1904 VI. JAHR

Titel.

Neulich wurde ein armer Teufel abgestraft, der einen ihm verliehenen päpstlichen Orden getragen hatte, bevor ihm die Bewilligung, ihn zu tragen, erteilt ward. Das ist schrecklich. Die Erschütterungen, denen die dürftigen Gemüter hierzulande ausgesetzt sind, sind nachgerade unerträglich. Heute schwellt frohe Hoffnung die Brust, morgen drückt sie eine Enttäuschung ein. Und die Schadenfreude der ganzen Nachbarschaft! Es gibt wirklich noch immer Leute, die einem den Gregorsorden nicht gönnen … Manchmal glaube ich, der Spott über Ordens- und Titelsucht sei antiquiert. Aber dann höre ich wieder, daß sich einer sein ganzes Leben lang abquält, ein »Truchseß« zu werden. Über weniges wird er in St. Moritz zum zehntenmal an Kaisers Geburtstag die Volkshymne singen, und der Herbst wird in’s Land gehen, und wir werden alt werden, und er wird noch immer nicht Truchseß geworden sein. Dann höre ich wieder, daß ein Mann umgeht, dessen einziges Ziel ist, Bahnhofsportieren die Larve vom Gesicht und die unechten Orden von der Brust zu reißen. Nein, ich halte nur den »Serenissimus«-Spaß für veraltet, die Dummheit der Untertanen ist akuter denn je. Orden sind noch immer die Belohnung für Fleiß und gute Sitten; aber die Vorzugsschüler des Staates sitzen auf der Eselsbank. Nichts scheint abgebrauchter als die witzige Unterscheidung zwischen Titeln und Mitteln. Aber in Österreich sind jene noch immer zugkräftiger als diese. Wird man sich endlich entschließen, einem tiefgefühlten Bedürfnis der Bevölkerung nachzugeben, und einen Wechsel der Werte »kaiserlicher Rat« und »Regierungsrat« vornehmen? In einem Land, wo der musikalische Sinn des Volkes zunächst auf den Klang eines Namens reagiert, ist es geradezu töricht, den Regierungsrat noch länger über einem kaiserlichen gestellt zu lassen. Der Richter, der eine Verhandlung leitet, wird wohl manchmal mit »Herr Gerichtshof« oder »Kaiserlicher Adler« angesprochen, von den Gebildeteren aber doch mit »kaiserlicher Rat«. In diesem Namen liegt die äußerste Summe von Devotion, die der Österreicher zu vergeben hat. Daß er der übliche Titel für jeden Großhändler ist, der zum Laienrichter ernannt wurde oder 20.000 Gulden für irgendeinen Korruptionszweck hergegeben hat, und daß in Österreich’s Jammer guter Rat noch immer teurer ist als ein kaiserlicher, ahnt das gute Volk nicht. Man braucht gar nicht an das Pariser Mißverständnis von dem als österreichischer Staatsmann angesehenen »conseiller impérial« zu erinnern; in einem monarchischen Staat und unter Bürgern, für die es schmeichelhaft ist, von einem Hofwagen überfahren zu werden, ist die heutige Rangordnung widersinnig und bloß geeignet, eine unverdiente Geringschätzung der Regierungsräte herbeizuführen. In dem besten Einfall des Wollustspiels »Herzogin Crevette« ist etwa der Widerspruch vereinigt, der zwischen Klang und Bedeutung des Titels »kaiserlicher Rat« besteht. Dem Gesandten von Oceanien – die trefflichste Gestaltung des unvergleichlichen Maran – wird eingeredet, daß die Wendung »Ich pfeif‘ drauf« den Ausdruck tiefster Teilnahme oder höchsten Respekts bedeute, und so weiß er auf jede gewichtige Mitteilung nur mit unerschütterlichem Ernst zu erwidern: Ich pfeif‘ drauf … Herr Mendel Singer, der vielleicht seinen Titel »kaiserlicher Rat« nicht orthographisch schreiben kann, der journalistische Aushorcher sämtlicher politischen Parteien, zieht sich allsommerlich in ein Tiroler Dorf zurück und wird dort am Geburtstag des Kaisers als dessen Vertreter mit Tusch und Trubel gefeiert. Nichts ist in Österreich unmöglich, und ich rate dir: hast du keinen Titel, so mach‘ dir einen. Denn siehe, vor mir liegt ein Briefpapier, das an seiner Spitze einen sonderbaren Aufdruck hat. Das Konterfei von drei Orden an einer Kette, und darunter steht wörtlich: »Jagdverleger und Jagdschriftsteller Camillo Morgan, Ritter königlicher und fürstlicher Orden sowie ausgezeichnet vom Thronfolger Österreich-Ungarns Seiner kaiserlichen und königlichen Hoheit dem durchlauchtigsten Herrn Erzherzog Franz Ferdinand durch eine Busennadel aus Brillanten. Wien, IX/[SUB]4 Sobieski-Platz 4«. Ich weiß weder, wer Herr Morgan, noch was ein Jagdverleger ist; ich weiß nicht, ob die Busennadel, die Herr Morgan bekam, vielen oder wenigen einen Stich ins Herz versetzt hat. Aber ich weiß, daß die Wirkung noch epatanter wäre, wenn der Besitzer des Briefpapiers auch sämtliche Titel und Orden des Erzherzogs Franz Ferdinand angeführt hätte. Unterzeichnet ist der Brief mit »Camillo Morgan, Fürstlicher Rat«. Was ist das? So etwas wie die Kaulquappe zum kaiserlichen Rat? Meines Wissens gibt’s den Titel in Österreich nicht. Aber ich wette hundert gegen eins, daß Herr Morgan damit die Einwohner eines österreichischen Gebirgsdorfes alarmieren kann. Jahraus jahrein werfen die Leute in der Großstadt das Geld hinaus, um wirkliche Titel zu ergattern. In einem Land, dessen Bevölkerung für Ehrerbietung so sehr disponiert ist, bedarf’s solcher Anstrengung nicht. Und ist die Zulegung irgend eines »Rats« doch ein wenig zu riskant, so versuche man’s einfach mit einem Fremdwort. Ein Fremdwort ersetzt in Österreich sogar die Protektion. Mein Freund hat einmal in einem gesteckt vollen Eisenbahnzug auf die folgende Art ein Separatcoupé erlangt. »Reserviert!« schreit der Kondukteur. »Das gibts nicht!« schreit mein Freund. »Aber für den Herrn Oberrevidenten!« schreit der Kondukteur. »Und wissen Sie nicht, wer ich bin?« schreit der Andere – »Ich bin Hypochonder!« … Rief’s, und mit ergebener Bitte um Entschuldigung, daß er ihn nicht sogleich erkannt habe, öffnete der Kondukteur die Tür des Separatcoupés.

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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=