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In einem reichsdeutschen Blatt lese ich die Besprechung eines Buches über das »Geschlechtsleben in England«. Der unkomplizierte Deutsche mag neidisch zur britischen Nation emporblicken, die dem Kontinent wie in allem so auch in der Kultur sexueller Perversität und in der Entwicklung sexueller Heuchelei überlegen ist, die das Genie Oskar Wilde hervorbringen und es morden konnte, die Flagellationsbordelle hat und Gesetze, welche den nuancierten Geschlechtsverkehr mit zehnjähriger Zuchthausstrafe bedrohen. Aber der deutsche Rezensent des deutschen Buches darf für seine Landsleute nicht allzu bescheiden sein. Kein Grund, mit frommem Augenaufschlag dem Himmel zu danken, daß wir nicht sind wie jene! Sollte wirklich erst der Fall Dippold für ein sadistisches Talent, das im deutschen Männerschlage schlummert, zeugen? Ein wenig deutsche Blutlust wird allerdings auch in jenem Artikel zugegeben. Und da finde ich denn den für österreichische Leser besonders interessanten Satz: »Kennen wir auch in Deutschland nicht jene würdige Spezies der englischen Hinrichtungs-Habitués, die meilenweit reisten, um den grausamen Anblick der Exekution aus nächster Nähe zu genießen, ja die, wie Goncourt in seinem Tagebuch erzählt, den Scharfrichter bestachen, daß er den Rock der Mörderin im Moment des Hängens etwas lüfte – so haben wir doch noch vor etwa zehn Jahren die erbauliche Tatsache erlebt, daß deutsche Bürger die Behörden um Billets zu einer Hinrichtung geradezu bestürmten … Heute wird dieser nicht nur für Psychiater und Romanschriftsteller interessante Akt freilich in aller Stille vollzogen«. England und Deutschland … Und Österreich? Endlich eine Sphäre, in der wir uns nicht Rückständigkeit vorwerfen lassen müssen. Was Deutschland seit zehn Jahren nicht erlebt hat, erleben wir Österreicher, wir Wiener bei jeder Hinrichtung. Die Behörden werden um Billets bestürmt, die Behörden genügen der Nachfrage in entgegenkommendster Weise. Wären die Karten gegen Bezahlung zu haben, wir wären jedesmal Zeugen einer Agiotage, wie sie wilder nicht einmal vor der Première der »Maria Theresia« geschaut ward. Nein, bei uns wird der »interessante Akt« eben nicht »in aller Stille vollzogen«, und jene Enterbten des Glücks, die sich zu spät um den Eintritt beworben haben, dürfen mit den anschaulichen Schilderungen einer Lokalpresse vorlieb nehmen, die mit einer oft gewürdigten Gewissenhaftigkeit ihres Nach-Nachrichteramtes waltet. Die Justizfunktionäre, die zu kontrolieren haben, ob »der Gerechtigkeit Genüge geschehen« ist, der Priester, der die legislative Greueltat in religiöser Weihe räuchert, sie ahnen in ihrem von keinerlei Lebenserfahrung angekränkelten, von keiner psychologischen Neugierde getrübten Beamtensinn nicht, welchen Regungen das Schauspiel, in dem sie statieren, Nahrung bietet. Der Henker weiß es. Und im Hochgefühle einer vollbrachten Guttat präsentiert er sich auf den Ansichtskarten, die nach jeder Wiener Hinrichtung in den Handel kommen … Heiliger Dippold!
(Die Fackel: Nr. 148, 02.12.1903, S. 18-20)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=