Re: Lesefrüchte

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gypsy-tail-wind
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DAS VATERLAND

Unsere Staatsform ist die Republik. Wir dürfen machen, was wir wollen. Wir benehmen uns so ungezwungen, als es uns beliebt. Wir haben niemand von unsern Handlungen Rechenschaft abzulegen, als uns selbst, und das ist unser Stolz. Unsere Ehre allein ist die Grenze, die wir uns um unser Tun stecken. Andere Staaten blicken mit Verwunderung auf uns, daß wir uns durch uns selbst beherrschen vermögen. Wir sind niemandem untertan als unserer Einsicht und unserer ehrlichen Gesinnung, von der wir uns gern befehlen und leiten lassen. Wir haben keinen Platz für einen König oder Kaiser. Die Straßen unserer Städte sind nicht gebaut, um fürstliche Aufzüge passieren zu lassen, unsere Häuser sind keine Ställe, aber auch keine Paläste. Unsere Kirchen sind prunklos und unsere Rathäuser stolz und einfach. Unser Sinn ist wie unsere Wohnung, einfach und wohlhabend, unsere Herzen sind wie unsere Gegenden: rauh, aber nicht unfruchtbar. Wir benehmen uns wie Republikaner, wie Bürger, wie Krieger, wie Menschen. Die Untertanen anderer Länder sehen oft Haustieren ähnlich. Nicht, als ob Freiheit und Stolz unter anderen Völkern nicht auch heimisch wären, aber uns sind sie angeboren. Unsere Väter, die tapferen Eidgenossen, haben uns ihren Sinn hinterlassen, und wir wären zu beklagen, wenn wir anders als treu mit einem so herrlichen Geschenk umgingen. Es ist mir heilig ernst zumut, wenn ich das schreibe. Ich bin ein glühender Republikaner. So jung ich bin, trage ich doch bereits den Wunsch, meinem Vaterland eifrig zu dienen. Ich schreibe diesen Aufsatz mit bebenden Fingern. Ich wollte nur, es gefiele ihm bald, meine Dienste und Kräfte in Anspruch zu nehmen. Doch ich vergesse, daß ich noch ein Schüler der zweiten A-Klasse bin. Wie sehne ich mich, aus dieser dumpfen Jugendlichkeit hinauszutreten ins öffentliche große leben, mit seinen großen Anforderungen, mit seinen Stürmen, Ideen und Taten. Ich liege wie an der Kette. Ich fühle mich wie ein erwachsener verständiger Mensch, und nur der Spiegel, der mir mein Bild zeigt, überzeugt mich von meiner unbedeutenden Jugend. O ich werde, wenn ich einmal soweit bin, meinem Vaterland mit dem heiligsten Eifer dienen, meinen Stolz darin sehen, ihm dienen zu dürfen und nicht müde werden vor Aufgaben, die es ihm beliebt, mir zu stellen. Es brauche meine Kräfte, ja mein ganzes Leben. Wofür haben meine Eltern es mir gegeben? Man lebt nicht, wenn man nicht für etwas lebt, und für welches andere Wohl ließe sich ruhmreicher und edler fechten und leben als für das Wohl der Heimat? Ich bin glücklich, daß ich ein so schönes Leben noch vor mir habe. Das Vaterland ist groß, aber dazu beitragen zu dürfen, daß es noch größer werde, wird mein Stolz, mein Leben, meine Sehnsucht, meine Ehrsucht sein. O ich bin maßlos ehrgeizig, und ich bin es um so mehr, als ich weiß, daß in diesen Dingen ehrgeizig sein, keine Schande und kein unedler Trieb ist. Man kann immer noch ein Held sein. Das Heldentum hat nur ein anderes Aussehen bekommen. Wo es die Größe, den Ruhm, den Vorteil des Vaterlandes betrifft, ist es keine überflüssige Sache, ein Held, ein Opferer zu sein. O, ich noch ein Schüler der zweiten A-Klasse.

(Fritz Kocher, 1902)

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