Re: Lesefrüchte

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hal-croves
אור

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Deutsche im Ausland.

Mutter Germania gebar in legitimer Ehe mit dem Geiste der Zeit drei Söhne: den Konfektionsreisenden, den Oberlehrer und den Radfahrer. Da alle drei sich brav entwickelten, da sie ihre Kräfte üppig herausbildeten und sich ihres Wertes wohl bewußt waren, schickte Mama sie auf Reisen, wofür sich die Söhne im Lobe der guten Dame schier überbieten wollten. Leider hatte sich jedoch Mutter Germania auch einmal mit dem Geiste der Ewigkeit eingelassen, und diesem Bunde – Gott, man spricht ja nicht gerne davon – entsproß der deutsche Künstler. Um nicht an ihre Schande gemahnt zu werden, hatte Frau Deutschland diesen illegitimen Sohn schon frühzeitig verstoßen, – und das Unglück wollte, daß die Stiefbrüder im Auslande einander begegneten.
Hört zu, was der deutsche Künstler mir über die Begegnungen und die Anfechtungen, die sie für ihn im Gefolge hatten, erzählte:
Ich habe so viel vom Vater, begann er, und meine Mutter hat mich von jeher so schlecht behandelt, daß es Sie nicht wunder nehmen wird, daß ich ein wenig kosmopolitisch gesinnt bin. Zwar liebe ich sehr die Sprache meiner Mutter, wenn sie auch von meinen Brüdern arg mißbraucht wird und in ihrer Gewalt recht verblüht und kümmerlich aussieht – aber sie, die bei zarter Behandlung doch noch immer sehr verlockend, sehr reizvoll, sehr schmiegsam und hingebend ist, ist auch das einzige, was ich noch Liebenswertes aus meinem mütterlichen Erbteil zu ziehen weiß. Wohl steht meine Sehnsucht noch oft genug nach dem heimischen Erdboden: immer wieder möchte ich als Dichter die Sprache waschen und putzen, um die Spuren der Vergewaltigungen zu verwischen, die meine Brüder an ihr verübt haben; immer wieder möchte ich als Maler das Heimatland von den Geschmacklosigkeiten säubern, mit denen sie es verunziert haben. Aber der Geruch ihrer Fußsohlen ist so abscheulich, das Gebrüll, mit dem sie im Lobe des Landes das Land entweihen, so viehisch, daß es mich nie lange daheim hält; daß es mich immer wieder hinaustreibt nach Italien oder Frankreich, nach Ländern, wo ich Menschen finde, die mit mir den Vater gemeinsam haben.
Kann ich dafür, daß ich diese Deutschen, für die ich keinen Funken brüderlicher Empfindung mehr verspüre, die mir zuwider sind, wie mir kein Zuluneger zuwider ist, und die mich in den Tod hassen, weil ich den guten Ruf ihrer Mutter kompromittiere – kann ich dafür, daß ich sie auch im Ausland sehen muß, daß sie mich auch hierher verfolgen, wo sie mich umsomehr ekeln, als sie hier mit ihrer schmierigen Patzigkeit im Bewußtsein ihres Wertes ganz besonders plump auftreten und zu Vergleichen mit den Leuten herausfordern, die der polygame Geist der Zeit mit anderen Nationalitäten gezeugt hat? Und doch kann das mütterliche Blut in mir noch nicht ganz abgestorben, nicht ganz erkaltet sein; sonst könnte ich mir das heiße Schamgefühl nicht erklären, das mich bei allen ihren Handlungen und Äußerungen schüttelt, und das doch wohl nur auf einer innerstempfundenen Solidarität mit diesen nach Wunsch gearteten Kindern meiner Mutter beruhen kann, um derentwillen sie mich verstoßen hat.
Siehe da, der Konfektionsreisende! Wie er seine Ware preist! Wie meine geliebte, von ihm schmählich genotzüchtigte Sprache herhalten muß zum Preise seiner Wohlanständigkeit, die ihn ernährt. Er hausiert mit Lodenjoppen und Kunsturteilen. Und praktisch ist er – ich sage Ihnen! Stets trägt er sein Notizbuch in der Hand, in dem er jeden Pfennig bucht, den er ausgibt. Nicht etwa, daß er wenig ausgäbe – oh, er sorgt aufs üppigste für seine Verdauung. Er schmatzt seine Poularde mit so feistem Behagen herunter, daß jeder schon von ferne den deutschen Konfektionsreisenden in ihm erkennt. Aber er achtet wohl darauf, daß sein persönlichstes Recht an seinem Geld ihm nicht geschmälert werde. Einmal traf ich ihn in Gestalt eines Bücherschreibers, den ich von Deutschland her kannte, vor einem Kaffeehause in Florenz, wo er sich an Sorbeth und ähnlichen kostspieligen Genüssen gütlich tat. Ich hatte keinen Pfennig Geld – Mutter Germania sorgt nicht für ihren illegitimen Sohn –, aber es war Hochsommer und glühende Hitze, und ich sehnte mich nach einer halben Portion Eis. So bat ich den bücherschreibenden Konfektionsreisenden, mir eine Lire zu pumpen. »Wie?« meinte er, »Sie kommen ohne Geld nach Italien? Das ist unverantwortlich. Das kann ich keinesfalls unterstützen.« Die Moral des deutschen Konfektionsreisenden: Geld gibt Rechte. Hast du Geld, so darfst du die Welt sehen, deinen »Horizont erweitern« und im Kreise der Deinen mit Bildung renommieren. Hast du keines, so bleibe zuhause und lasse dich von deinen Stiefbrüdern ausschmarotzen. Pumpst du aber gar einen dieser Stiefbrüder im Auslande an, so erhältst du keine Hilfe, sondern eine moralische Belehrung. Ich habe noch verschiedene Versuche dieser Art in Florenz gemacht; denn dort ging es mir bitter schlecht. Der Konfektionsreisende begegnete mir in vielerlei Gestalt – aber wenn ich ihn bat, mir zu helfen, dann verleugnete er niemals seine Eigenschaft, dann gab es in allen Fällen Abweisungen. Ich pumpte auch Franzosen, ganz fremde, an: niemals erfuhr ich von ihnen einen Refus. Ja, der Konfektionsreisende ist mein praktischer Stiefbruder. Er trägt seinen Reiseplan wohlgesichtet in der Tasche. Er weiß, was er laut Bädeker anzuschauen hat, und welcher Zug ihn in 6 Wochen daheim wieder abliefert. Er versäumt keine Kirche und kein Denkmal, das bei Bädeker einen Stern hat, am allerwenigsten aber die Abfahrt eines Eisenbahnzugs. Wenn er – meist in Gestalt eines jungvermählten Paares oder einer deutschen Ferienfamilie – eine Sehenswürdigkeit besucht, so läßt er sich von einem Führer leiten, hört aufmerksam zu, was der Mann sagt, bleibt vor jedem Gemälde eine halbe Minute stehen, geht im Tempo des Redeflusses des Cicerone von Kunstwerk zu Kunstwerk und verläßt nach Abladung des Trinkgeldes die Stätte der Kunst, ohne einen Blick zurückzuwerfen, froh, der Besuchspflicht entledigt zu sein. Aber sein Warenbestand hat sich vergrößert, er kann eine Partie Kenntnisse mehr feilhalten, und wenn er wieder bei Seinesgleichen ist, dann kann er mitreden: ja, da bin ich auch gewesen! – und kann die tiefsinnigsten Urteile über die Kunstwerke, die er gesehen hat, mit großen Gebärden ins Schaufenster stellen.
Ich komme zum Stiefbruder Oberlehrer. Er erfreut sich im Auslande unter den Brüdern der weitesten Bekanntheit. Nur schade, daß man überall über ihn lacht. Seine Seele ist nämlich bucklig – darum ist er so komisch. Den Buckel, den seine Seele hat, nennt er Logik und Exaktheit. Der deutsche Oberlehrer ist gründlich und gebildet. Wissen Sie, ich will meiner Mutter Germania ja nicht zu nahe treten, aber manchmal hab‘ ich sie im Verdacht, daß sie doch auch Beziehungen zum Geiste der Vorzeit unterhalten haben muß; sonst wüßte ich kaum, wie ich mir den deutschen Oberlehrer erklären soll. Ich halte ihn für den gefährlichsten der drei Brüder. Der Konfektionsreisende und der Radfahrer stinken nur; der Oberlehrer aber fleckt. Er steckt seine Nase inbrünstig in jeden vergessenen Stumpfsinn und wischt sie dann mit lautem Schnäuzen an unseren besten Kulturen ab. Er muß alles wissen, und wer alles wissen muß, der weiß alles besser. Wenn Sie im Auslande bewundernd vor einem herrlichen Tempel stehen und das Unglück will es, so kommt der deutsche Oberlehrer und setzt Ihnen in dreistündigem Vortrag auseinander, warum der linke Quaderstein am dritten Portal rechts im falschen Winkel behauen ist, und wieso es kommt, daß dieser Tempel gerade hier und nicht sieben Meter weiter östlich erbaut ist. Der Oberlehrer verleidet einem jeden Kunst-, jeden Naturgenuß, weil er alles glaubt erklären zu müssen. Und er glaubt alles erklären zu müssen, weil er verzweifelt, wenn er niemand erziehen kann. Er erzieht zu Kenntnissen, zu korrektem Betragen, zur Benutzung der Sinnesorgane, zur Tugend – oder auch zur Freiheitlichkeit, je nachdem, was er gerade für eine Spezies protegiert. Wie er seine Frau zur Korrektheit erzog, habe ich auch einmal in Florenz an einem der heißesten Tage, die mir in Erinnerung sind, belauscht. Die Dame bestellte in einem Café eine Eisschokolade. Ihr Gatte aber, der ein deutscher Universitätsprofessor, etwa aus Halle an der Saale, gewesen sein muß, belehrte sie: »Das wirst du nicht trinken! Du siehst doch, kein Mensch trinkt Eisschokolade. Das kann man wohl in Rom oder Neapel tun, aber in Florenz doch nicht mehr!« Als ich darauf vernehmlichen Tones Eisschokolade verlangte, warf er mir einen vernichtenden Blick zu. Er ist – diese Eigenschaft teilt er mit den beiden anderen Stiefbrüdern – stets mit sich zufrieden. Für alles Weltgeschehen hat er hinreichende Erklärungen, so daß ihm die Mirakel der Kunst und der Natur nichts anhaben können. Nur über sich selbst ist er ganz unorientiert. Er hat keine Ahnung, wie ekelhaft er ist, wenn er jedes Kunstwerk auf die Farbensubstanz studiert, mit der es gemalt ist, ohne irgend welchen seelischen Nutzen daraus zu ziehen; er sieht nicht, welchen schönheitzerreißenden Eindruck seine Klumpfüße in die herrlichsten Gegenden treten; ihm kommt kein Gefühl dafür auf, wie grotesk sich seine Erscheinung im Vergleich zu den prächtigen Südeuropäern ausnimmt, die es verstehen, mit Genuß zu atmen. Dem Konfektionsreisenden kann man hier und da doch mal aus dem Wege gehen, – der Oberlehrer tritt einem überall auf die Zehen. Daher ist er der gefährlichste Sohn des Zeitgeistes.
Der Radfahrer ist der widerwärtigste. Er schwingt die schwarzweißroten Dessous der Mutter Germania mit jubelnder Grazienverlassenheit durch die Lande. Er heult sein »Deutschland, Deutschland über alles« durch jeden stillen poetischen Bergwald, von jedem Kirchturm und von jeder Felsspitze. Das Öldruckbild seines Landesvaters tröstet ihn über alle Qualen der Langweile, die er beim pflichtgemäßen Besuch der Kunstgallerien erdulden mußte. Er fragt nicht: Ist die Tour schön? sondern: Ist da eine gute Fahrstraße? Findet er die Tour trotzdem schön, so rechnet er das sich als Verdienst an: »Hä! ruft er aus. Das nenn‘ ich noch ’ne Gegend!« und lacht dazu aus vollem und belegtem Halse. Und da er gerade beim Lachen ist, erzählt er Anekdoten aus den ‚Fliegenden Blättern‘, gibt Mikoschwitze zum Besten oder zitiert gar Roda Roda. Die Kunst dünkt ihn eine ziemlich nutzlose Beschäftigung für Müßiggänger – sofern er selbst nicht gerade eine Kunst betreibt.
Denn sehen Sie, meine Stiefbrüder, der Konfektionsreisende sowohl wie der Oberlehrer und der Radfahrer gebrauchen alle möglichen Vorwände für ihre Existenz. Sie finden alle erdenklichen Verkleidungen und Bemäntelungen, in denen sie einen belästigen. Oft vertauschen sie auch ihre Gewänder. Dann kommt der Konfektionsreisende als Oberlehrer, oder der Radfahrer als Konfektionsreisender, oder der Oberlehrer als Radfahrer. Oder sie reisen als Studenten, als Rentiers, als Offiziere, als Schauspieler – aber nach den Kennzeichen, die ich Ihnen angedeutet habe, werden Sie sie leicht zu klassifizieren wissen.
Höchst bedenklich ist es nur, daß sie sehr häufig auch mit der Gebärde des Künstlers auftreten. Wie oft stößt man auf einen Maler, der sich durch seine Finanzgebarung plötzlich als Konfektionsreisenden verrät. Oder man trifft einen Musiker, der gelegentlich die Gepflogenheit italienischer armer Leute rügt, die Zigarrenstummel von der Straße aufzusammeln: er erweist sich als Oberlehrer. Oder es kommt einem Dichter bei, eine nichtsahnende Gesellschaft mit einem Kaiserhoch zu überfallen, was ihn sogleich als Radfahrer entlarvt.
Können Sie sich nun vorstellen, was ich, der Künstler, durch meine Stiefbrüder für Qualen erdulden muß? Im Auslande fortwährend unfreiwillig an den Spruch erinnert zu werden: Gedenke, daß du ein Deutscher bist! – das ist das tückischste aller Verhängnisse. Tapsig, flegelhaft, verbohrt, hinterhältig, geizig, unverschämt, kulturlos – das sind so die hervorstechendsten Eigenschaften derer, die man als seine Brüder betrachten soll. Das einzige nationale Gefühl, das ich mir im Auslande gewahrt habe, ist das nationale Schamgefühl. – – –
So urteilte der illegitime Sohn der Mutter Germania über die Deutschen im Ausland.
Erich Mühsam.

(Die Fackel: Nr. 210, 31.10.1906, S. 18-23)

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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=