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Sucher und Priester.*
(Zur Charakterologie.)
Von Otto Weininger.
Man kann die Menschen einteilen in Sucher und in Priester, und wird durch diese Einteilung viel gewinnen. Der Sucher sucht, der Priester teilt mit. Der Sucher sucht vor allem sich, der Priester teilt vor allem andern sich mit. Der Sucher sucht sein Leben lang sich selbst, seine eigene Seele; dem Priester ist sein Ich von vorneherein als Voraussetzung alles anderen gegeben. Den Sucher begleitet stets das Gefühl der Unvollkommenheit; der Priester ist vom Dasein der Vollkommenheit überzeugt.
Der Unterschied, den ich meine, wird so vielleicht am klarsten: Nur Sucher sind eitel (und empfindlich). Denn die Eitelkeit entspringt aus dem Bedürfnis nach dem Finden und dem Gefühle, noch nicht – sich noch nicht – gefunden zu haben. Der Priester ist nicht eitel, er fühlt sich nicht leicht getroffen, und ist ohne Bedürfnis nach der Anerkennung von außen, weil er diese Unterstützung nicht notwendig hat. Dagegen hat er Bedürfnis nach dem Ruhme; Voraussetzung des Ruhmbedürfnisses ist innerliche Überzeugtheit von sich; sein Wesen, dieses Ich den anderen möglichst vollkommen darzubringen und sich ihnen so zu verbinden. Der Ruhm wird hiedurch dem Opfer verwandt.
Ich will nun je vier Beispiele von Suchern und von Priestern anführen, bevor ich in der Analyse fortfahre.
Sucher waren: Hebbel, Fichte**, Brahms, Dürer; Priester waren: Shelley, Fechner, Händel, Böcklin. Den Suchern gemeinsam ist, wie man sieht, die Linie ohne Farbe; den Priestern gemein die Farbe ohne Linie.
Die Farbe ist hier als Symbol der Sinnlichkeit gedacht; zur Sinnlichkeit nämlich steigt der Priester herunter, indes der Sucher von ihr zur Geistigkeit hinauf will. Darum hat der Priester das eigentlich starke, große Verhältnis zur Natur; denn der Priester kommt vom Geiste, und sucht die Welt zur Deckung mit sich zu bringen; alles soll hell erstrahlen wie das Feuer in ihm selber. Der Sucher hingegen hat vor dem Priester voraus das Verhältnis zur Gesellschaft; denn sozial wird der Mensch, weil er sich selbst im andern sucht. Zur Kultur, zu Recht und Staat und Sitte tritt so nur der Sucher in ein tiefes Verhältnis; und in der Natur hat er höchstens für ein Phänomen großen Sinn: für den Wald, als das Symbol des Geheimnisses.
Denn der Priester hat die Offenbarung hinter sich, und Tag ist in ihm; der Sucher strebt zu ihr empor, aber er ist noch blind. Der Priester steht bereits im Bunde mit der Gottheit, nur er kennt die mystischen Erlebnisse (extreme Sucher wie Kant oder noch besser Fichte kennen solche nicht). Das Absolute, die Gottheit ist dem Priester als Voraussetzung, als Schatz gegeben, oder als Pfand des Höchsten; dem Sucher als Wert, als Ziel. Der Priester bringt sich der Welt dar, trägt ihr den Bund an; der Sucher entflieht der Welt, weil er noch keine Weihen empfangen hat. Jeder Suchende ist naturgemäß ein Fluchender; der Priester ist das Gegenteil des Blinden, ein Sehender und ein Segnender. Der Segen ist dem Sucher hingegen ewig unverständlich.
Man hält oft den Priester für den eigentlichen Künstler, und erklärt Männer wie Ibsen, der dem Sucher sehr nahe, und Hebbel, der ihm noch viel näher steht, für keine echten Künstler: ganz mit Unrecht; man ist hier getäuscht durch einen falschen Begriff von Sinnlichkeit in der Kunst. Shakespeare war gewiß ausschließlich Künstler, und doch viel mehr Sucher als Priester. Im übrigen sind Sucher und Priester Extreme; die größten Menschen sind beides, am öftesten zuerst Sucher, um sich dann in Priester zu verwandeln: wenn sie den Quell gefunden, sich selbst erlebt haben. So Goethe, so Wagner. Goethe ist Sucher im Urfaust, Priester in der Iphigenie; Wagner ist Sucher im Holländer, im Tannhäuser (der Pilgerchor gibt eine wunderbare Vorstellung von dem, was Suchen heißt), aber auch im Tristan, besonders im II. Akt – denn der Sucher ist erotisch, der Priester sexuell, ohne besonders von dem Geschlechtstrieb differenzierte Liebe. Priester ist Wagner schon im Lohengrin (der Sinn für das Fest, für Feier ist durchaus priesterlich); vor allem aber im dritten Akte des Siegfried, wo der Sinn für des Gefundenhaben, der Triumph der Erfüllung so ungeheuer groß ist. Denn der Priester muß kein friedlicher, idyllischer Mensch sein; aber er hat als Kämpfer nur Sinn für den Sieg, nicht für die Anstrengung des Ringens, nicht für das Bangen vor der Niederlage.
Nietzsche war lange Sucher; erst als Zarathustra tat er den Priestermantel um, und da steigen nun jene Reden vom Berge herunter, die bezeugen, wie viel Sicherheit er durch die Verwandlung gewonnen hat. Des Priesters (als des Sehers!) Erlebnisse sind intensiver als die des Suchers; und darum ist er überzeugter von sich, er fühlt sich als erkornen Sendboten von Sonne, Mond und Sternen, und horcht nur, um deren Sprache so ganz zu verstehen, wie er es als eine Pflicht fühlt.
Sucher waren noch Rousseau, wie es scheint, Calderon, Sophokles, Mozart; ein beinahe vollkommener Priester scheint Pindar. Beethoven ist Sucher im Fidelio, Priester in der Waldstein-Sonate, deren letzter Satz der höchste Gipfel der appolinischen Kunst ist.
Der psychophysische Parallelismus scheint eine priesterliche Vorstellung zu sein (denn der Priester kommt vom Geiste und will die Natur aufnehmen, er fühlt sich mehr vor der Natur, der Sucher mehr vor dem Geiste schuldig); er ist darum auch Determinist, weil ihm Freiheit und Gesetzlichkeit von vornherein eins sind. Der Sucher ist Indeterminist und Verflucher des Leibes. Der Sucher ist schweigsam, verschlossen (nicht zu verwechseln mit dem verschlossenen, d.h. unaufrichtigen und unsozialen Verbrecher); der Priester offen, sich darbietend (nicht zu verwechseln mit Schamlosigkeit), weil er nicht sucht, sondern die Vollendung schon enthält und nur ganz zu verstehen, auszudrücken sucht.
Fußnoten
* Diese Abhandlung ist einem nachgelassenen Werk des unlängst verstorbenen Philosophen entnommen und von dem Herausgeber des Nachlasses als Manuskript der ‚Fackel‘ übergeben worden. Das Werk wird in einigen Wochen unter dem Titel »Über die letzten Dinge« im Verlage Wilhelm Braumüller, Wien und Leipzig, erscheinen. – Den Kranz August Strindberg’s, welchen der Dichter (siehe den in Nr. 144 veröffentlichten Nachruf) dem Andenken des Verstorbenen widmete, hat der Herausgeber der ‚Fackel‘ am 17. Oktober auf das Grab Otto Weininger’s (Matzleinsdorfer Friedhof) niedergelegt.
Anm. d. Herausgebers.
** Fichte war Prediger. Man verwechsle das nicht mit Priester.
(Die Fackel: Nr. 145, 28.10.1903, S. 26-30)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=