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Noch einmal haben die Musikanten über die Musiker gesiegt: Herr Hellmesberger ward noch einmal zum Dirigenten der Wiener Philharmoniker gewählt. Aeußerlich lief dabei alles glatt ab. Das Comité, dem die Inscenierung oblag, hatte Herrn Hellmesberger eingeladen, der Versammlung, in der die Wahl vorherbesprochen und vollzogen wurde, beizuwohnen, und weil Anträge, die sich gegen Herrn Hellmesberger richteten, in seiner Anwesenheit begründet und erörtert werden mußten, wurden sie von der eingeschüchterten Opposition nicht erst gestellt. In seiner wohlgepflegten Körperlichkeit saß der Candidat der Vielen da, den Geist seines Rivalen wagten die Wenigen nicht zu citieren. So wurde über die Frage, die durch die Wahl entschieden werden sollte, kein Wort gesprochen. Statt dessen rühmte man die Tradition der Philharmoniker, berief sich auf ihre Glanzperiode unter Hans Richter und klagte über schlechte Zeiten.
Aber nicht die Zeiten sind schlechter geworden, seitdem es in Wien statt jährlicher acht philharmonischer Concerte deren zwei Dutzend gibt. Das Interesse des Wiener Publicums an philharmonischen Concerten ist ebenso gewachsen, wie jenes an den Concerten der Philharmoniker gesunken ist. Und gegenüber der Concurrenz der Symphonieconcerte des Concertvereins kann man nicht durch die Pose einer Vornehmheit wirken, die ihre Lässigkeit für Gelassenheit, ihre Unzulänglichkeit für Unzugänglichkeit ausgeben möchte. Jene Concurrenz hat mit ihrem Bienenfleiß und mit einem Dirigenten, der es verstand, sich an die Spitze der Brahms- und zugleich der Bruckner-Partei zu stellen, in kurzer Zeit den ganzen Boden des Wiener Symphonie-Concertwesens occupiert. Indessen blieben die Philharmoniker ihrem alten Brauch getreu, um ein großes Werk – einen »Schlager«, und womöglich, damit das Einstudieren nicht zu viel Mühe mache, recht häufig den gleichen – ein Programm von allerlei musikalischem Flitterkram zu gruppieren. Programme, über welche die Kritiker verschiedener Richtung mit einander erbittert gestritten hätten, Programme, denen ein historischer oder ein propagandistischer Plan zugrunde gelegen wäre – nichts dergleichen hat es bei den Philharmonikern gegeben. Einer Körperschaft, der nicht wenige kunstbegeisterte Musiker angehören, haben jene Mitglieder ihren Geist einzuflößen gewusst, die im Besitz einer, zwar gegenwärtig reducierten, aber noch immer befriedigenden Bonification der Hofkapelle auf Arbeit, zu der kein innerer Drang sie führt, verzichten können. Und der Herr Hofkapellmeister, der Candidat der Mitglieder der Hofkapelle für den philharmonischen Dirigentenposten, ist auch der großen Masse der Musikantenseelen genehm, die von Verpflichtungen gegen einen »lieben, netten Menschen« sprechen, wo es sich um die Sache der Kunst handelt, jenen Gemüthlichen und Behäbigen, die immer lieber unter einem Kapellmeister forttrotten als sich von einem Dirigenten fortreißen lassen wollen. Liszt hat einmal gesagt, der Dirigent soll nicht Ruderknecht sein, sondern Steuermann. Aber Herr Hellmesberger hat nie das Steuer zu führen verstanden; er patscht mit dem weichen Händchen bloß seelenvergnügt ins Wasser, während das Schiff vorwärts treibt.
Die handwerksmäßige Geschicklichkeit des Herrn Hellmesberger soll keineswegs bestritten werden. Er kann alles und macht alles, was sich nur können und machen lässt. Aber eben weil Kunst von Können kommt, ist Können noch nicht Kunst, und alles, was einer macht, bedeutet nichts, Bedeutung hat bloß, was einer ist. Herr Hellmesberger gehört zu den Leuten, die immer etwas werden, nie etwas sind. Seine Wahl zum Dirigenten der Philharmoniker sucht man vergebens durch den Hinweis auf seine Arbeitstüchtigkeit zu rechtfertigen; sie war eine reine Personalangelegenheit, keine Kunstangelegenheit. Aber wenn gegen Gustav Mahler’s Wahl persönliche Antipathien geltend gemacht werden, wenn die Musikanten seine Ablehnung trotz geheuchelter Anerkennung seiner musikalischen Höhe als in seiner Person begründet hinstellen, so verbergen sie hinter den vorgeschützten persönlichen Motiven ihre wahren sachlichen Gründe: den tiefen Gegensatz zwischen den Unkünstlern und dem starken Künstler, die Furcht vor der Störung ihrer Bequemlichkeit, vor der Aufrüttelung ihres Philisterthums durch den Schaffensdrang eines wirklichen Musikers. Gewiss ist Mahler nicht der einzige, der Dirigent der Philharmoniker sein könnte; aber heute ist in Wien kein anderer, der es sein könnte. Und da er es nicht wird, leidet das Musikleben Wiens doppelt: weil Mahler in seiner Wirksamkeit als Dirigent, in seiner Musikerthätigkeit, in der er Großes zu leisten vermag und auf die er sich concentrieren sollte, beschränkt wird, und weil er nicht im andern Gebiet seiner Thätigkeit, in der Führung der Operndirection beschränkt oder ihrer unter Vermehrung seiner Dirigententhätigkeit enthoben wird. Die persönlichen Eigenschaften, die beim Dirigenten nicht in Betracht kommen, entscheiden über die Befähigung des Operndirectors. Daß dem Naturell Mahler’s das Diplomatengeschäft einer Theaterführung nicht organisch ist, steht heute für jeden seiner Anhänger außer Zweifel, offen geben es auch jene zu, die bisher Bedenken trugen, mit einer Parteikritik, die einer starken künstlerischen Persönlichkeit mit confessionellen Albernheiten beikommen möchte, in ein und dasselbe Horn zu stoßen: wenn sie den administrativen Fehlgriffen des Mannes lange genug zusahen, so haben sie an dem Tage ihr Urtheil gesprochen, an dem Mahler’s Laune die Verbitterung einer wahrhaft vornehmen Künstlerin bewirkte, die Wiener Hofoper mit dem Verlust des Fräuleins Walker bedrohte. Kein einsichtiger Schätzer eines Temperamentes, das sich heute in falschen Explosionen verbrauchen muß, zweifelt mehr, wo – die Tüchtigkeit des Herrn Hellmesberger in Ehren – Mahler’s Platz im Wiener Musikleben ist.
(Die Fackel: Nr. 141, 20.06.1903, S. 14-17)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=