100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

Startseite Foren Über Bands, Solokünstler und Genres Eine Frage des Stils Blue Note – das Jazzforum 100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

Ansicht von 15 Beiträgen - 436 bis 450 (von insgesamt 459)
  • Autor
    Beiträge
  • #12543461  | PERMALINK

    vorgarten

    Registriert seit: 07.10.2007

    Beiträge: 13,209

    sind das ernstgemeinte fragen?

    den schlangenbschwörer-begriff mag ich ja ganz gerne, weil er uns zur schlange macht, aber ich habe ihn ja schon augenzwinkernd auf das tenorsax übertragen. wahrscheinlich kam man drauf wegen des coverfotos, die ausrichtung nach unten, und so häufig hatte man das instrument vielleicht noch nicht gesehen. aber es kann auch mit der spielweise zusammenhängen.

    die zweite frage kann ich nicht beantworten.

    --

    Highlights von Rolling-Stone.de
    Werbung
    #12543481  | PERMALINK

    redbeansandrice

    Registriert seit: 14.08.2009

    Beiträge: 14,688

    Speziell beim Sopransax hätte ich jetzt gesagt, was da ein bisschen zusammenkommt ist der nasale, oboenartige Sound, den alle geraden Saxophone haben, auch das gerade Alt von Elton Dean oder Roland Kirk zB, und die Intonationsprobleme, die das Sopransax hat, wenn der Spieler nicht gegensteuert und die dem Instrument so einen leicht exotischen Touch geben, weil sie zB an Skalen aus Indien erinnern können…

    --

    .
    #12543485  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
    Biomasse

    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 69,529

    Von den Intonationsproblemen kommt vermutlich der zweite Name, den ich eigentlich noch lieber mag und mit Steve Lacy in Verbindung bringe: „fish horn“ – was im Titel von Lukas Lindenmaiers Lacy-Diskographie steht (die ist natürlich hoffnungslos veraltet, aber ich freue mich trotzdem darüber, ein Exemplar davon zu haben … und einen DNB-Eintrag hat sie immerhin auch und ist auch in der Bibliothek der Cité de la Musique vorhanden).

    --

    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #166: First Visit: Live-Dokumente aus dem Archiv von ezz-thetics/Hat Hut Records - 14.10., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #12543533  | PERMALINK

    vorgarten

    Registriert seit: 07.10.2007

    Beiträge: 13,209

    10

    MONEY JUNGLE
    ellington, mingus, roach, douglas, schwartau (17.9.1962)

    „think of me as a poor man’s bud powell“, soll ellington am vortag zu mingus und roach gesagt haben. eine eigenartige tiefstapelei. aber man kann sich vorstellen, dass hier niemand angstfrei in die session gegangen ist. alle hatten etwas zu verlieren – der orchesterleiter ohne plattenvertrag, der als solist neues terrain betritt; der ellington-verehrer mingus, der von diesem mal gefeuert worden war; und max roach vielleicht auch, weil mingus darauf bestand, dass er hier alles zusammenhalten soll. neun tage später ging ellington mit coltrane ins studio (siehe hier album #100) und beide machten einander geschenke – hier, in dieser ego-kollision schenkt niemand niemandem etwas.

    als happening ist das spannend, auch wenn der gossip drum herum bestimmt aufgebauscht ist (läuft meistens darauf hinaus, dass mingus mal wieder unartig war). vielleicht hat man ein elegant rhapsodisches klavier erwartet, das sehr viel bass und schlagzeug durchlässt – statt dessen bekommt man nichols, monk, hope und poor man’s bud powell, der nicht nur melodiekürzel und ihre dissonanten voicings vorhämmert, sondern sich auch noch in die percussion einmischt und dessen linke hand auch den bass mitspielt (einmal, in „caravan“ sogar einen formvollendeten walking-bass-abwärtslauf). who’s he boss? keine frage. was mingus dazu einfällt, kann man als trotzig und resistent wahrnehmen: gedehnte störattacken auf einem ton, mehrfingriges tremolo, das auf dem bass unmöglich präzise zu steuern ist, kontralinien. vielleicht kann man das aber auch anders hören: wenn der boss schon so viel wagt, ist eigentlich die bahn frei für jedes nur denkbare bekloppte experiment.

    in miles‘ berühmten blindfoldtest von 1964 (das ist der, in dem er androht, dolphy auf den fuß zu treten, cecil taylor als altmodisch bezeichnet, und sich vorstellen kann, sich von joão gilberto mit genuss die zeitung vorlesen zu lassen) wird ja behauptet, dass mingus und roach nicht mit ellington zusammenspielen konnten. ein mismatch, die ergänzen sich nicht. und die plattenfirmen sollte man für sowas in den arsch treten. aber das album heißt „money jungle“, und elligton hat dazu new yorker schlangen gezeichnet, die die ausbeuter und agenten repräsentieren sollten – vielleicht ist das ganze projekt dahingehend ein arschtritt?

    heute hört man, dass eine ganze reihe von pianisten, die auch den bass und das schlagzeug mitspielen (wie allen, moran, iyer), auch musikalisch sehr viel aus MONEY JUNGLE herausgezogen haben: das aufgekratzte anrumpeln gegen die zustände, mit der linken hand im proto-jazz. und bei denen müssen sich die mitspielenden auch was neues überlegen, um dem etwas hinzuzufügen.

    --

    #12543559  | PERMALINK

    thelonica

    Registriert seit: 09.12.2007

    Beiträge: 4,426

    vorgartensind das ernstgemeinte fragen? den schlangenbeschwörer-begriff mag ich ja ganz gerne, weil er uns zur schlange macht, aber ich habe ihn ja schon augenzwinkernd auf das tenorsax übertragen. wahrscheinlich kam man drauf wegen des coverfotos, die ausrichtung nach unten, und so häufig hatte man das instrument vielleicht noch nicht gesehen. aber es kann auch mit der spielweise zusammenhängen.

    Halbwegs. ;-)   Ich finde ja, dass sich Emotionen und Energie beim Hören der Musik irgendwie übertragen und das mag etwas anders bei „Summertime“ sein („A Love Supreme“ kann das ja auch). Zur Schlange macht das mich jedenfalls nicht, aber ich höre die frühen Sachen mit Sopransaxofon von ihm wirklich gerne (mit Duke z.B., oder „Coltrane Plays The Blues“). Interessant finde ich den Einwurf mit den Intonationsproblemen, die der Laie vielleicht gar nicht als solche empfindet.

    --

    #12543569  | PERMALINK

    redbeansandrice

    Registriert seit: 14.08.2009

    Beiträge: 14,688

    vorgarten

    redbeansandriceWo ich auch heute wieder ein Problem hab, sind die Spannungsbögen, die sind für mich einfach oft zu lang, also: so lang, dass ich sie nicht wahrnehme…

    interessanter punkt. außer auf „sanctuary“ gibt es kaum spannungsbögen, außer, dass das miles-solo immer den höhepunkt bildet eigentlich gibt es klare solo-abfolgen, aber das funktioniert anders als im bop: nicht so, dass das einzelne instrument oder der einzelne spieler einen spotlight bekommt, sondern eher, dass geschaut wird, was sich im sound verändert, wenn z.b. die e-pianos übernehmen. das wäre zumindest meine idee dazu.

     
    Danke, das ist sehr hilfreich, dass man das ganze Album im Grunde als ausgeuferte Hintergründe für Miles Soli hören kann/muss… Und das ist ja in der Tat auch eine Art, zB die Alben mit Gil Evans zu hören… Da muss man dann halt wirklich das Interesse für Miles als Solisten mitbringen, um hier wirklich was von zu haben… Was ich zB über das erste und zweite Quintett so nicht sagen würde…

    --

    .
    #12543585  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
    Biomasse

    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 69,529

    thelonica
    Interessant finde ich den Einwurf mit den Intonationsproblemen, die der Laie vielleicht gar nicht als solche empfindet.

    Die hat Coltrane ja auch im Griff … bzw. er überspielt sie mit seinem nasalen, lauten Ton (Lacy ist da technisch schon deutlich weiter, aber der wählte das ja als sein Hauptinstrument … Lucky Thompson wäre ein weiterer Gegenpol zu Coltrane, mit weichem, vollem Ton am Sopransax vs. dem harten, schneidenden, nasalen von Coltrane) … so geht das relativ easy. Das Instrument ist einfach wahnsinnig heikel, was das anbelangt. Alle tieferen Saxophone und auch die Klarinette sind da viel stabiler. Warum weiss ich gar nicht so genau, hat sicher was mit der Konstruktion zu tun, ich tippe auf den fehlenden S-Bogen … es gibt ja auch gebogene Sopran- und v.a. Sopranino-Saxophone … da ist oben anstelle des S-Bogens (der bei Alt- und Tenor- ein eigenes Bauteil ist, beim Bari auch aber wegen der Extra-Schleife viel kleiner) nur ein leichter Knick. Aber ich nehme an, der hat auf die Luftsäule einen Einfluss (und bei der Klarinette ist der Durchmesser viel kleiner, das hat wohl auch einen stabilisierenden Einfluss, dafür kriegst Du nicht das weite Vibrato hin, das z.B. Bechet auf dem Sopransax hat). Hier ein paar verschiedene Instrumente:

    Von oben ein gebogenes E♭ Sopranino, ein gerades E♭ Sopranino, ein C Sopran (hab ich nie in echt gesehen glaub ich, vermutlich so rar wie das C-Melody, das quasi ein Tenor in C ist) und ein reguläres B♭ Sopran mit leichtem Knick. Und wie ich hier lese (ich hab ein grades an einem Stück, da kommt nur das Mundstück drauf) gibt es Sopransaxophone auch mit S-Bogen – sogar welche ohne Krümmung:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Sopransaxophon

    --

    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #166: First Visit: Live-Dokumente aus dem Archiv von ezz-thetics/Hat Hut Records - 14.10., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #12543607  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
    Biomasse

    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 69,529

    Um wieder on topic zu kommen: schöner Text zu „Money Jungle“! Ich glaub schon, dass da eine innermusikalische Spannung in der Luft liegt, zwischen Roach und Mingus und ihren Vorstellungen von „time“ … und dass die dadurch entstehende Reibung Teil des Erfolgs des Albums ist (das ich mit 15 oder so in der erweiterten CD-Version entdeckte und quasi auswendig kenne). Und ich würde das mit Monk und Nichols und Ellington auch umdrehen, zumindest in beide Richtungen öffnen wollen, mit der Behauptung, hier kriege man den Ellington zu hören, der eben gerade für die verschrobenen Pianisten der jüngeren Generation durchaus ein Vorbild war mit seinem akkordischen Spiel voller sehr eigener Voicings … ein Klavierspiel voller Eigenheiten, wie es sie bei Waller, Hines, Wilson, Garner etc. nicht gibt. Ellington der Modernist. Und „Money Jungle“ ist die Chance, das alles verdichtet wie unter dem Brennglas hören zu können. Und dazu brauchte er zwei starke Partner, die zwar (bestimmt!) nicht angstfrei in die Session gingen – aber das Kalkül ging auf. Keine anderen Small Group-Session bringt die ganzen Eigenwilligkeit von Ellington dem Pianisten so schön heraus (nicht solo oder in Duos mit Bassisten oder in anderen Trios – die ja in der Regel einfach mit den jeweiligen Rhythmusgruppen seiner Band entstanden: Wendell Marshall und Butch Ballard, Aaron Bell oder John Lamb und Sam Woodyard) – aber das war dennoch alles irgendwie da: die Rhythmen, die Akkorde, die Attacke, die Pausen, der Drive sowieso …

    --

    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #166: First Visit: Live-Dokumente aus dem Archiv von ezz-thetics/Hat Hut Records - 14.10., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #12544339  | PERMALINK

    vorgarten

    Registriert seit: 07.10.2007

    Beiträge: 13,209

    redbeansandrice

    vorgarten

    redbeansandriceWo ich auch heute wieder ein Problem hab, sind die Spannungsbögen, die sind für mich einfach oft zu lang, also: so lang, dass ich sie nicht wahrnehme…

    interessanter punkt. außer auf „sanctuary“ gibt es kaum spannungsbögen, außer, dass das miles-solo immer den höhepunkt bildet eigentlich gibt es klare solo-abfolgen, aber das funktioniert anders als im bop: nicht so, dass das einzelne instrument oder der einzelne spieler einen spotlight bekommt, sondern eher, dass geschaut wird, was sich im sound verändert, wenn z.b. die e-pianos übernehmen. das wäre zumindest meine idee dazu.

    Danke, das ist sehr hilfreich, dass man das ganze Album im Grunde als ausgeuferte Hintergründe für Miles Soli hören kann/muss… Und das ist ja in der Tat auch eine Art, zB die Alben mit Gil Evans zu hören… Da muss man dann halt wirklich das Interesse für Miles als Solisten mitbringen, um hier wirklich was von zu haben… Was ich zB über das erste und zweite Quintett so nicht sagen würde…

    mir geht es ein bisschen anders, auch wenn ich miles als solisten hier auf einem von mehreren höhepunkten finde (sehr originell, ohne klischees). mir sind die „hintergründe“ sehr viel wert, ich kann das anders hören als in (fehlenden) spannungsbögen. es gibt die ganze zeit verdichtungen, verschiebungen, mich langweilt das nie. die späteren sachen, z.b. AGHARTA, sind anders, da ist die stimme von miles wie ein zerbrechlicher einwurf letzter kraft gegen die geräte und kurzgeschlossenen stromkreisläufe, wo quasi maschinen mit anderen maschinen kommunizieren. da gibt es auch keine spannungsbögen und auch keine großen soli, aber ich finde es nicht weniger faszinierend.

    --

    #12544341  | PERMALINK

    vorgarten

    Registriert seit: 07.10.2007

    Beiträge: 13,209

    gypsy-tail-wind Ellington der Modernist.

    da hätte ich ein fragezeichen, glaube ich. aber danke für deine einordungen, finde ich spannend.

    --

    #12544823  | PERMALINK

    friedrich

    Registriert seit: 28.06.2008

    Beiträge: 5,445

    vorgarten16


    BRILLIANT CORNERS

    monk, rollins, henry, terry, pettiford, chambers, roach, keepnews, higgins (9. & 15.10. / 9.12.1956)
    (…)

    Thelonious Monk, mein alter Held!

    Dieses Album gehörte zu dem ganzen Stapel Monk-CDs, die ich in den 90ern bei Zweitausendeins gekauft habe. Habe Monk damals hoch und runter gehört, bis irgendwann der Sättigungseffekt einsetzte. Aber Brilliant Corners war mir dann doch so lieb, dass ich die alte CD in den 2000ern durch ein Remaster ersetzte. Zum Glück gibt mein alter obere untere Mittelklasse-Verstärker das für meine Ohren überzeugend wieder. ;-) Nur die frühen Blue Note-Aufnahmen von Monk waren mir auch noch so kostbar, dass ich sie mal durch eine neuere Ausgabe ersetzte. Aber letztere qualifizieren sich nicht für diese Liste, da sie ursprünglich nicht als Album veröffentlicht worden waren.

    Man hört Brilliant Corners an, dass man Monk hier endlich mal und demonstrativ ohne Kompromisse präsentieren wollte. Das Titelstück ist noch vertrackter als man es von Monk sowieso schon gewohnt ist, der Bolivar Blues wird breit ausgewalzt und die Band kostet diesen behäbigen, fast schon karikaturhaften und grotesken Blues voll aus. Sonny Rollins ist der ideale rauhe und zupackende Saxofonist dafür. Mit Pannonica ein drittes erstmalig aufgenommenes Stück, ein Standard solo Piano und dann mit Bemsha Swing noch ein damals schon bewährtes Schlachtross. Jedes der Stücke hat was originelles. Das volle Programm!

    Wirklich kein easy listening. Muss damals noch schwerer verdaulich gewirkt haben als heute, stellt sich in den Gehörgängen etwas quer und ist eine Herausforderung. Manchmal wirkt das auf mich fast schon etwas überambitioniert – das Titelstück zu spielen, war ja offenbar auch nicht ganz unproblematisch. Aber egal: Es ist mutig gewesen, das aufzunehmen und zu veröffentlichen und auch beim Wiederhören nach einigen Jahren bleibt Brilliant Corners in seiner sperrigen Art bei mir hängen.

    Um die alte Mikulski-LP beneide ich Dich!

    --

    “There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.”                                                                                                                                          (From the movie Sinners by Ryan Coogler)
    #12545083  | PERMALINK

    vorgarten

    Registriert seit: 07.10.2007

    Beiträge: 13,209

    9

    THE SHAPE OF JAZZ TO COME
    coleman, cherry, haden, higgins, ertegün, howe (22.5.1959)

    das coverfoto von william claxton ist großartig. das stylische crème-weiße grafton-acrylsaxofon verschmilzt mit dem körper, coleman hat es quasi untergehakt, es sendet keine anzeichen von bedrohung aus. gleichzeitig werden körper und instrument zusammen zu einer art abstraktem zeichen. the shape, die gestalt: das ganze ist etwas anderes als die summe seiner teile (kernaussage der gestalttheorie). das plastikhorn formt den klang, es passt nicht gut zu anderen blechbläsern, sagen ehemalige nutzer, aber auf der anderen seite steht hier ein kornett, das kann sich mischen. zusammen bewegen sie sich über ungefährem gelände. man meint zu verstehen, was man da hört, es gibt walkingbässe, schnelle unisono-themen, swing-rhythmen und eine präzise punktierende spielweise, die weiß, wo sie rhythmisch sitzt. es gibt thematische entwicklungen (manchmal, selten), angebote werden aufgegriffen, soli gehen ineinander über. man steht einer musik gegenüber, die sich vertraut gemacht hat. 1959, im jahr von KIND OF BLUE und GIANT STEPS und TIME OUT und AH UM erwartete man das unerwartete, aber vielleicht nicht eine derartige selbstverständliche fremdheit: abstrakte zeichen, freundlich untergehakt, plastik und science-ficition („the shape of things to come“, h.g. wells).

    diese band hat viel geübt, das hört man. die eigentlich provokation ist ja nicht, wenn jemand etwas neues ausprobiert, sondern wenn er etwas neues so spielt, als ob es das natürlichste von der welt wäre. verschmolzen, unbedrohlich. in „lonely women“ stecken mindestens vier tolle, neue ideen drin. mit dem gefühl des songs verknüpft man sich sofort, aber mit der gestalt? drone-bass, schneller groove, rubatoform des themas. in der musik von ornette coleman sind keine klassischen standards zu denken (obwohl, embraceable you?), aber sowas hier wird dann wiederum ein standard. sogar ein song, mit text, für die stylistinnen der einsamkeit, merrill, krog, chris connor. die komposition ist so offen, dass man sie wieder konventionalisieren kann. ich mag ja das nachdenkliche von „peace“ sehr gerne, und das übersprudelnde von „chronology“. sie kommen mir bekannt vor, ihr gefühl ist vertraut. plastiksax und kornett füllen sie mit originellen, rhythmisch präzisen phrasen. aber eigentlich ist ihre gestalt völlig rätselhaft. sie könnten sie länger oder kürzer spielen, es gibt keine dramaturgie, nur, dass das ganze anders ist als die summer seiner teile.

    das grafton ist coleman irgendwann auf der bühne zwischen den händen zerbrochen, erzählt man. es wurde auch nur 10 jahre produziert. gemischt hat es sich wahrscheinlich nie. aber es sah eigentlich viel zu stylish und zu harmlos aus, um feste ordnungen durcheinanderzubringen.

    --

    #12545217  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
    Biomasse

    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 69,529

    Ich dachte schon vor der Oper und denke jetzt danach wieder über die vermeintliche (gemeinte) Vertrautheit nach … ich hab hier ja bestimmt schon zwei Dutzend mal geschrieben, wie melodiös und zugänglich ich das Coleman Quartett auf Atlantic finde und daran ändert sich ja auch nichts – aber das verdeckt natürlich genau das, was Du hier schön auf den Punkt bringst: dass nämlich alles andere als klar ist, was man da hört, und wenn es – vielleicht ja gerade auch, weil es so gut geprobt, über Jahre gereift ist, bis es aufgenommen werden konnte – noch so zugänglich wirkt. Vertraut und rätselhaft zugleich – danke!

    --

    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #166: First Visit: Live-Dokumente aus dem Archiv von ezz-thetics/Hat Hut Records - 14.10., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #12545229  | PERMALINK

    lotterlotta
    Schaffnerlos

    Registriert seit: 09.04.2005

    Beiträge: 6,305

    ….wieder mal ein toller text zu einem alten liebling von mir, coleman ist tatsächlich einer der wenigen alten granden die ich live erlebt habe(okay shepp, lateef und lloyd auch) und the shape of  jazz to come steht bei mir sehr hoch im kurs, danke auch von mir…..

    --

    Hat Zappa und Bob Marley noch live erlebt!  
    #12545237  | PERMALINK

    vorgarten

    Registriert seit: 07.10.2007

    Beiträge: 13,209

    danke euch! gestern nochmal im booklet die reaktion auf die five-spot-konzerte nachgelesen – irgendjemand ruft rein „are you cats serious?“, und es soll angeblich dizzy gillespie gewesen sein… wenn die geschichte stimmt, finde ich sie schon interessant, denn soviel an dieser musik hat mit bebop zu tun, finde ich, bis hin dazu, dass auch parker das grafton gespielt hat, und doch ist sie anders.

    und „lonely woman“ bildet quasi eine neue kategorie: den avantgarde-standard.

    --

Ansicht von 15 Beiträgen - 436 bis 450 (von insgesamt 459)

Du musst angemeldet sein, um auf dieses Thema antworten zu können.