Antwort auf: 100 beste Jazzalben des Rolling Stone, kommentiert

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vorgarten

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THE SHAPE OF JAZZ TO COME
coleman, cherry, haden, higgins, ertegün, howe (22.5.1959)

das coverfoto von william claxton ist großartig. das stylische crème-weiße grafton-acrylsaxofon verschmilzt mit dem körper, coleman hat es quasi untergehakt, es sendet keine anzeichen von bedrohung aus. gleichzeitig werden körper und instrument zusammen zu einer art abstraktem zeichen. the shape, die gestalt: das ganze ist etwas anderes als die summe seiner teile (kernaussage der gestalttheorie). das plastikhorn formt den klang, es passt nicht gut zu anderen blechbläsern, sagen ehemalige nutzer, aber auf der anderen seite steht hier ein kornett, das kann sich mischen. zusammen bewegen sie sich über ungefährem gelände. man meint zu verstehen, was man da hört, es gibt walkingbässe, schnelle unisono-themen, swing-rhythmen und eine präzise punktierende spielweise, die weiß, wo sie rhythmisch sitzt. es gibt thematische entwicklungen (manchmal, selten), angebote werden aufgegriffen, soli gehen ineinander über. man steht einer musik gegenüber, die sich vertraut gemacht hat. 1959, im jahr von KIND OF BLUE und GIANT STEPS und TIME OUT und AH UM erwartete man das unerwartete, aber vielleicht nicht eine derartige selbstverständliche fremdheit: abstrakte zeichen, freundlich untergehakt, plastik und science-ficition („the shape of things to come“, h.g. wells).

diese band hat viel geübt, das hört man. die eigentlich provokation ist ja nicht, wenn jemand etwas neues ausprobiert, sondern wenn er etwas neues so spielt, als ob es das natürlichste von der welt wäre. verschmolzen, unbedrohlich. in „lonely women“ stecken mindestens vier tolle, neue ideen drin. mit dem gefühl des songs verknüpft man sich sofort, aber mit der gestalt? drone-bass, schneller groove, rubatoform des themas. in der musik von ornette coleman sind keine klassischen standards zu denken (obwohl, embraceable you?), aber sowas hier wird dann wiederum ein standard. sogar ein song, mit text, für die stylistinnen der einsamkeit, merrill, krog, chris connor. die komposition ist so offen, dass man sie wieder konventionalisieren kann. ich mag ja das nachdenkliche von „peace“ sehr gerne, und das übersprudelnde von „chronology“. sie kommen mir bekannt vor, ihr gefühl ist vertraut. plastiksax und kornett füllen sie mit originellen, rhythmisch präzisen phrasen. aber eigentlich ist ihre gestalt völlig rätselhaft. sie könnten sie länger oder kürzer spielen, es gibt keine dramaturgie, nur, dass das ganze anders ist als die summer seiner teile.

das grafton ist coleman irgendwann auf der bühne zwischen den händen zerbrochen, erzählt man. es wurde auch nur 10 jahre produziert. gemischt hat es sich wahrscheinlich nie. aber es sah eigentlich viel zu stylish und zu harmlos aus, um feste ordnungen durcheinanderzubringen.

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