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  • #1023253  | PERMALINK

    kritikersliebling

    Registriert seit: 08.07.2002

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    Otto – Das vierte Programm
    Rüssl Räkords 1976

    Es brauchte bereits drei Alben und dann kam das Jahr 1976. Olympiade in Montreal, die belachte Baustelle. Ein blonder Schlaks, hyperaktiv würde man heute sagen, hektete von einer Ecke zur anderen, immer etwas außer Atem und vor allem – jeder Satz, jeder Sketch ein Treffer. Wer hört nicht die Melodie „Paul Baumann telefoniert“, wenn die freundliche Computerstimme „Kein Anschluss unter dieser Nummer“ sagt?
    Der Präsident des Verbandes zur Förderung der Eigentumsdelikte, Bodo von Greif, der kleine Junge der immer Trecker fährt, bzw. der Versicherungsvertreter oder auch Kuno der Killerkarpfen tauchen immer mal wieder im richtigen Leben auf. 36 Minuten totaler Ulk, bisweilen von Heinz Erhardt entlehnt, aber ziemlich genial auf der Gitarre selbst begleitet. Otto versteht es zu seiner Zeit wie kein anderer, den Nerv des Publikums zu treffen und schafft sich nebenbei seine eigene kleine Welt zwischen Ostfriesland und Kleinwölferode. „Wir befinden uns im Körper von Herrn Soost…“ – „Leber an Großhirn, Leber an Großhirn, wo bleibt denn der Alkohol, ich krieg gar nichts mehr zu tun hier!?“ Wer aber jetzt denkt, dass Otto nur auf niederen Instinkten rumreitet, behält recht. Aber warum auch nicht, denn es ist unterhaltsamer und doppeldeutiger und tiefsinniger, als die neuen sogenannten Comedians.
    Otto sucht und findet den Dialog mit seinem Publikum. „Are you lonesome tonight…“ Zwischenruf „Right.“ – „Oh, der kann englisch… Do you miss me tona-a-ight…“ Wer Sätze gut findet, die mit „Früher war alles besser..“ beginnen, kommt an diesem Album nicht vorbei. Und nun bitte alle: „Everybody do it all. Clap clap, schenkel schenkel, stempel stempel und cry cry“

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    Das fiel mir ein als ich ausstieg.
    Highlights von Rolling-Stone.de
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    #1023255  | PERMALINK

    j-w
    Moderator
    maximum rhythm & blues

    Registriert seit: 09.07.2002

    Beiträge: 40,670

    Super, KL! :lol:
    ich plädiere für's 16-Seiten-Special im neuen RS! Pünktlich zur Tournee 2004!

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    Staring at a grey sky, try to paint it blue - Teenage Blue
    #1023257  | PERMALINK

    kritikersliebling

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 18,340

    16 Seiten Otto? Nein, aber zum Wiederhören reicht es allemal.

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    Das fiel mir ein als ich ausstieg.
    #1023259  | PERMALINK

    dominick-birdsey
    Birdcore

    Registriert seit: 23.12.2002

    Beiträge: 14,848

    Grant Lee Buffalo · Fuzzy
    Slash/Rhino (1993)

    Wenn man benommen ist, sieht man Dinge undeutlich, unscharf oder verschwommen. Man erkennt Umrisse, die sich abzeichnen wie Scherenschnitte hinter Milchglas. Der Grund für die Benommenheit kann die Lüge sein. Angelogen worden zu sein oder selbst gelogen zu haben. „I lied to | Now I'm fuzzy | I've been lied to“ heißt es im Titelsong von Grant Lee Buffalos Debutalbum. Selbstdistanz ist Phillips Texten fremd. Er ist der Sänger des Trios aus Los Angeles. Nostalgie, so sagt man, ist die Sehnsucht nach Bekanntem. Grant Lee Buffalos Musik ist das zugleich nostalgische Element von Country/Folk- und starken Singer/Songwritereinflüssen sowie Popelementen. Fernab davon eine Wiederholung (dem ärgerlichsten aller Plagiate, wie Proust schon schreibt) von Bekanntem zu sein, sind Grand Lee Buffalo ein eklektisches Zitat aus Bob Dylan , The Band, Merle Heggard, auf der einen, David Bowie, Waterboys („This Is The Sea“), Velvet Underground auf der anderen Seite. Songs, die die Macht der Gefühle beschreiben, die Wärme verbreiten, Texte, die Bedeutungsräume schaffen, selbstverständlich jenseits von selbstmitleidigem Jammern. Melodien, die hereingeweht scheinen, dicht und schnörkellos. „Jupiter and Teardrops“ ist die schönste Liebesgeschichte seit „Bonnie & Clyde“ mit den hübscheren Spitznamen. In „Grace“ beherrschen Grant Lee Buffalo die Mittel des Melodrams wie Velvet Underground in „Sister Ray“. Ob des Titels mag man an Jeff Buckley denken, aber das ist irreführend. Manchmal donnern Gitarren durch den Verstärker, begleitet durch süße akustische Harmonien. „Dixie Drug Store“ ist die Schönheit eines Winterhimmels, wenn die Sonne scheint; der Song, um den sich alle anderen ranken. Man versinkt in der Wuchtigkeit. Die Stimme von Grant Lee Phillips ist ein Instrument, und mit dem ihm eigenen Soul singt er mit Trotz und Melancholie, mal als Rockröhre, mal mit Falsett über Politik, über die Liebe, das Leben: kleine Geschichten eben. Das ist wunderbar so. Mit Melodie und ohne Schnörkel – mit Seele, als wenn das die Musik der Zukunft wäre, dabei ist es doch nur Nostalgie. In der Homogenität und der Wärme dieses Albums liegt die Schärfe. Unfuzzy. Ein einmaliges Album.

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    #1023261  | PERMALINK

    kritikersliebling

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 18,340

    Herbert Grönemeyer 4630 Bochum
    EMI 1984

    Ist das lange her. Ein graues, mit Kreide bemaltes Cover. Schlicht und selbstbewusst: Herbert Grönemeyer, Bochum. Nach drei kreativ motivierten und dennoch erfolglosen Alben veröffentlicht Herbert Grönemeyer sein viertes Album bei einem so genannten Major-Label zu einer Zeit, in der Deutschrock im mainstreamigen Sinne hoch im Kurs ist. Etwas Gefühl, etwas Politik, etwas Zeitgeist, fertig ist die Laube und Bochums Tauben pfeifen es von den Dächern und bei der Parkplatzsuche.
    Die ersten Worte „Tief im Westen“ haben heute einen ganz anderen Beigeschmack als damals. Da fokussierte sich alles auf das Ruhrgebiet. Ein Liebeslied an eine Stadt, die genauso glänzt, wie alle anderen auch, nur anders. „Bochum, ich komm aus dir / Bochum, ich häng an dir / Ah Glückauf / Bochum“ Und vermutlich ist es besser als man glaubt. Die Themen des Albums sind aber nur selten biografisch. In „Amerika“ zweifelt er bereits am großen Bruder und seiner übermächtigen (Selbst-) Gerechtigkeit. „Viele Care-Pakete hast du uns geschickt / Heute Raketen, Amerika / Du hast bei dir so viel mehr Platz als wir / was sollen sie hier, Amerika.“ Das Alkoholproblem wird ebenso angegangen wie die Unmöglichkeit in der Nähe der Geliebten zu parken. Eine Warnung an alle Extremisten folgt mit „Jetzt oder nie“. Und sie registrieren noch immer und waschen auch immer noch ihre Autos. Die Songs wirken allesamt erwachsener als auf den Vorgängern, wenden sich von der Ironie ab und münden in teilweise bitterem Sarkasmus. „Männer“ ist für das Album eher untypisch, hievt es aber an die Spitze der Hitparade und macht auf den blonden Sänger aufmerksam. Von da an etabliert sich Grönemeyers Gesangsstil – von vielen Comedians kopiert und nie erreicht.
    Das Album ist bis heute zeitlos, denn egal was hier angesprochen wird, es ist noch immer aktuell. Das der 1984 gern komponierte Einheits-Song fehlt ist ein Mehrwert, von dem das Album heute lebt. Eigentlich hat sich nichts geändert, nur die Währung und die Postleitzahlen. Bei 4630 beginnen die Synapsen mit der Arbeit. Schreiben Sie einfach an Grönemeyer, Bochum.

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    Das fiel mir ein als ich ausstieg.
    #1023263  | PERMALINK

    sparch
    MaggotBrain

    Registriert seit: 10.07.2002

    Beiträge: 37,226

    Terry Lee Hale – The blue room (2000)

    Einsam sitzt Terry Lee Hale mit seiner Gitarre an einem Tisch im 'Blue Room'. Karg ist er eingerichtet, der Raum, und genauso karg erklingen die 8 Songs, die uns der Sänger hier serviert. Nur Gitarre, Dobro und manchmal eine klagende Harmonica erklingen zu den traurigen Texten, in denen es sich nur um das eine, um das alte Thema dreht und die unter dem Eindruck einer zerütteten Beziehung entstanden. Eigentlich wollte Hale ein Bandalbum aufnehmen, doch Freund und Produzent Chris Eckman überredete ihn zu dieser zurückgenommenen Produktion, was den melancholischen Songs nur zugute kommt. Von Romantik allerdings keine Spur, der 'blaue Raum' ist kein Ort, an dem man sich gerne aufhält, auch wenn der Autor manchmal die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat wie z.B. im zweiten Stück 'I still want you' wo es heißt: 'I still want you. I can't help myself. You're what I need. Life it seems, but won't you say the same thing? Say the samething please.'. Dazwischen ertönt traurig eine Harmonica, die schon erahnen läßt, daß diese Hoffnung an einem seidenen Faden hängt. Schon im nächsten Stück 'Withered bouquet' fällt der geneigte Hörer zurück auf den Boden der Tatsachen: 'I remember once what was pleasure has now become a bore, I remember once what love was and now is no more'. Es geht um verpaßte Chancen, die Ohnmacht, etwas nicht rückgängig machen zu können, Eifersucht, Nebenbuhler und den langsamen und auch schmerzvollen Prozeß der Heilung. Doch auch Gefühle wie Hass und sogar Mordlust bleiben hier nicht außen vor, wie im langen 'Texas rose' eindringlich beschrieben wird. Am Ende siegt jedoch die Resignation, wenn Hale im letzten Stück 'Postscript' erkennt, daß der Abschied endgültig ist und es kein zurück mehr gibt. Tatsächlich scheint das Ende einer großen Liebe zu großen, wahrhaftigen und ungeschminkten Songs zu inspirieren, wie man es auch von manch herausragendem Album von Bob Dylan kennt. Die schmucklose Produktion tut dazu ihr übriges.

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    Wann kommt Horst Lichter mit dem Händlerkärtchen und knallt mich ab?
    #1023265  | PERMALINK

    Anonym
    Inaktiv

    Registriert seit: 01.01.1970

    Beiträge: 0

    Manic Street Preachers – The Holy Bible (EPIC, 1994)

    „The Holy Bible“, Richey Edwards Swansong und das am schwersten zugängliche Manics-Album. Hier regieren keine betörenden Melodien wie einst bei „Motorcycle Emptiness“ oder „Little Baby Nothing“, kein Stadionrock wie auf „This Is My Truth Tell Me Yours“, sondern Themen wie Prostitution, Faschismus, Selbstzerstörung und Anorexie, die einen oft verstörenden Einblick in Edwards gequälte Psyche bieten. Besonders in Songs wie „4st7lb“, in dem Edwards seine Essstörung thematisiert: „I wanna be so skinny that I rot from view, I want to walk in the snow, and not leave a footprint“. „If Richey weren't so f***ed up, they wouldn't be so brilliant“ schrieb Simon Price in seinem Melody Maker Review. War es das wert? Man mag den Manic Street Preachers vorwerfen, dass sie sich in frühen Tagen mit billiger Effekthascherei in den Vordergrund spielten und mit unsinnigen und unüberlegten Äusserungen zu provozieren versuchten. Nach allem was folgen sollte, erscheint „The Holy Bible“ allerdings vielmehr als Hilferuf, als ein billiger Schlachtplan zur Erregung von Aufmerksamkeit und kalkulierten Pressekontroversen und ist sowieso das letzte bedeutende Manics-Album. Auch wenn diese Art von geistigem Voyeurismus und die posthume Ikonisierung von Edwards, der sich öffentlich verletzte, depressiv, alkoholabhängig und magersüchtig war, sicherlich nicht ungefährlich ist. „I hurt myself to get pain out … Scratch my leg with a rusty nail / Sadly it heals.“ („Die In The Summertime“).

    Über „Yes“, den Opener des Albums, schrieb Nicky Wire einst: „It looks at the way that society views prostitutes as probably the lowest form of life. But we feel that we've prostituted ourselves over the last three or four years, and we think it's the same in every walk of life. Marlene Dietrich said that she'd been photographed to death. Red Indians believe that every time they're photographed, a piece of their soul goes. We came to a point when we felt a bit like that. I don't want to come across like Eddie Vedder or something, because we've always made an effort to make our pictures fairly aesthetic. But you just come to a point where you think, 'Why are we doing this?' It must come with maturity.“

    „Ifwhiteamericatoldthetruthforonedayitsworldouldfallapart“ ist eine Auseinandersetzung mit den USA als „the most empty culture“ und ein Hinweis auf die Waffengesetze des Landes. Lange vor Michael Moore und „Bowling For Columbine“. „Fuck the Brady Bill, fuck the Brady Bill, if God made man they say, Sam Colt made him equal“.

    „Of Walking Abortion“ thematisiert die Faszination für Diktatoren und die grenzenlose Verehrung, die diesen unter bestimmten Gegebenheiten zu bestimmten Zeiten entgegengebracht wird. „…because there's a worm in human nature that makes us want to be dominated“ (Nicky Wire). Schuld an diesen Mißständen sind wir, laut Edwards, allesamt: „loser, liar, fake, phoney, no one cares, everyone is guilty“.

    „She Is Suffering“ gehört zu den musiklaisch und textlich einfacheren Stücken des Albums. Laut Edwards ist „She“ in diesem Zusammenhang das Verlangen, das erst besiegt werden muss, um ewigen Frieden und Reinheit zu erlangen. „'Nature's lukewarm pleasure', is Richey's view on sex. I can't really explain it, but that's the way he sees it.“ (Nicky Wire)

    „Archives Of Pain“ ist ein weiterer unbequemer Blick auf die Gesellschaft, die Medien und ihren perversen Umgang mit Grausamkeiten, Tod und Massenmördern. „It was written as a reaction to the glorification of serial killers. „In 'Silence Of The Lambs', Hannibal Lecter is made into a hero in the last scene of the film – people feel sorry for them.“ (Nicky Wire). Wer war nicht auf der Seite von Norman Bates in Psycho, als dieser die Leiche von Marion Crane in ihrem Auto im Sumpf hinter dem Hotel versenken wollte und es kurzzeitig so aussieht, als ob das Auto nicht ganz versinken würde…? „Everyone gets a self-destructive urge the urge to kill, but I don't particularly like the glorification of it.“, so Wire.

    „Revol“, entweder eine Abkürzung für „Revolution“ oder „Lover“ gehört ähnlich wie „She Is Suffering“ zu den einfacheren Songs des Albums, der aber dennoch schwer zu dechiffrieren ist. „Mr. Lenin – awaken the boy, Mr. Stalin – bisexual epoch, Kruschev – self love in his mirrors, Brezhnev – married into group sex, Gorbachev – celibate self importance“

    „4st7lbs“ ist der vielzitierte autobiographische Song des Albums, in dem Edwards seine Magersucht auf erschreckend graphische Art und Weise darstellt und zugleich Selbstzerstörung und Selbstkontrolle thematisiert. „Karen says I've reached my target weight, Kate and Emma and Kristin know it's fake, problem is diet's not a big enough word, I wanna be so skinny that I rot from view, I want to walk in the snow, and not leave a footprint, I want to walk in the snow, and not soil its purity“. Bei den angesprochenen Personen handelt es sich im Übrigen um Kate (Moss), Kristin (McMenamy), Emma (Balfour), Karen (Sky Agony Aunt).

    „Mausoleum“/“The Intense Humming Of Evil“ sind im Zusammnehang zu sehen, da beide Songs von einem Besuch der Band in Dachau, Belsen und dem Friedensmuseum in Hiroshima beeinflusst wurden. „You were what you were, clean cut, unbecoming, recreation for the masses, you always mistook fists for flowers, welcome welcome soldier smiling, funeral march for agony's last edge, 6 million screaming souls, maybe misery – maybe nothing at all, lives that wouldn't have changed a thing, never counted – never mattered – never be“. („The Intense Humming Of Evil“).

    „Faster“ ist ein weiteres typisches Richey-Stück, das ähnlich autobiographisch zu sehen ist wie auch „4st7lb“. Die Zeilen „I am an architect, they call me a butcher“ könnten auf den berühmten Zwischenfall hindeuten, bei dem sich Edwards auf die Frage eines Reporters, ob die Band kein Fake sei, 4REAL in den Arm ritzte und noch bereitwillig für ein Photo posierte, bevor die Verletzung im Krankenhaus genäht werden musste. „I've been too honest with myself I should have lied like everybody else“.

    „This Is Yesterday“ Die Botschaft dieses Songs ist denkbar simpel – „Why do anything when you can forget everything?“

    „Die In The Summertime“ ist ähnlich verstörend wie „4st7lb“, handelt von Suizid und Selbstzerstörung und muss als deutlicher Hilferuf verstanden werden. “ I wanna die, die in the summertime, the hole in my life even stains the soil, my heart shrinks to barely a pulse“.

    „PCP“ Zu diesem Stück schrieb Edwards im „Holy Bible“ Tourbook: „Links PC + PCP + New Moral Certainty. Language aimed at the working class. Condemns the very people it aims to save. Self-censorship wrong. „Liviticus“ used by homophobes to justify their hatred. To take one sentence from the bible to justify views very PC. Also PCP the Revolutionary Portuguese Communist.“

    Ob man sich auf das Monster „The Holy Bible“ einlässt, bleibt jedem selbst überlassen. Tatsache ist allerdings, dass man mit dem intensivsten, ehrlichsten und zugleich beängstigendsten Album der Manics belohnt wird und sinnfreien Schlunz wie „You Stole The Sun From My Heart“ oder „The Everlasting“ schnell wieder vergessen kann.

    „Musically, „The Holy Bible“ isn't elegant, but it is bloody effective. When it comes down to stripped-down surges of punky fury, this is Bradfield's baby and he isn't going to water down his curious rottweiller growls and yelps for any financial gain. Hell, in corporate rock terms this album is commercial suicide anyway, as even the wildly catchy likes of „Yes“ are splattered with expletives and soiled by a stroppy production. F— being radio friendly. „The Holy Bible“ isn't even people-friendly, virtually designed as it is for distressed, dysfunctional f— ups, crouched in the corners of blank white rooms.“ (Simon Williams New Musical Express, 27. August 1994)

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    #1023267  | PERMALINK

    napoleon-dynamite
    Moderator

    Registriert seit: 09.11.2002

    Beiträge: 21,872

    @kramer:gute darstellung der einzelnen lieder! habe den gleichen gesamteindruck.

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    A Kiss in the Dreamhouse  
    #1023269  | PERMALINK

    dominick-birdsey
    Birdcore

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    Chuck Prophet · Homemade Blood
    Cooking Vinyl (1997)

    Nach der Trennung von „Green on Red“ 1992, ging es für Chuck Prophet fünf Jahre später ans Heimgemachte. „Homemade Blood“ ist eine Monstrosität an Musik und seine bisher beste Veröffentlichung. Zwölf Songs: roh, erdig, live im Studio eingespielt ohne Overdubs. Deutliche Wurzeln liegen in den sechziger und siebziger Jahren. So klangen Pettys Heartbreakers bevor sie ELOisiert wurden. Sicherlich: Ein Meister der Innovation ist auch Prophet nicht, dafür kann er Songs schreiben, die soviel Charakter besitzen, dass sie nicht wie Abziehbilder von seinen Vorbildern wirken; Vorbilder, die seit Jahren Selbstzitat bleiben. Prophet ist jemand der ein gutes Lied schreibt und die Gitarre zu einem aufregenden Instrument macht. „Credit“, der Opener, rumpelt und riffed richardsmäßiger, als jeder Stonessong der Achtziger und Neunziger. Eine Frischzellenkur. Zu seinen Texten („Just last week a little card come in the mail, it was gold and thin as Kate Moss“) passt die Musik, hergestellt mit Stimme, Schlagzeug, Bass und viel Gitarre. Das youngsche Gitarrensolo beim Titeltrack oder seine Hendrixreferenz im countrybluesigen „Ooh Wee“, immer wird durch das Gitarrenspiel der Rock'n'Roll seiner Songs weitergetragen; die Gitarre immer im Dienste seiner Kompositionen, niemals als Hauptdarsteller. „You been gone“ atmet eine Novemberstimmung und ist eine Schönheit: „You been gone, you been gone, clouds make rain and days make years“. „Kmart Family Portrait“ ist hypnotisch und magisch wie eine Twin-Peaks-Folge. Und neben dem gleichnamigen Song von U2, enthält dieses Album den einzig weiteren legitimen Neujahrssong. Wenn die Kirchturmuhr zwölf Uhr schlägt, das Feuerwerk verpufft ist und die Stille und Klarheit den Januarmorgen einfängt, ist dieser „New Year's Day“ der erste Song, der das neue Jahr mit Wärme erfüllt, wenn sich Stephanie Finchs Harmonien über die Pedal Steel Gitarre legen. Noch ein weiter Song wird durch die Pedal Steel verfeinert: „Inside Track“. Es liegt an der Authentizität dieser Platte, dass sie rührt und manchmal auch amüsiert. Alle Songs bewegen ein Gefühl herbei. Sie wirken nicht nur einheitlich, sie nehmen eine eigene Qualität an. Die Energie nimmt immer noch zu. Bei jedem Hören. Sie werden mehr. So steht es hier: Grün auf Rot.

    (Ein Satz, der sich nicht mehr in das Geschriebene fügen wollte: „Green On Red“ Keyboarder Chris Cacavas hat sich gerade etwas Neues selbst getraut).

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    #1023271  | PERMALINK

    dengel

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 81,155

    macht mich neugierig

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    #1023273  | PERMALINK

    moontear

    Registriert seit: 20.12.2002

    Beiträge: 14,237

    Originally posted by KritikersLiebling@10 Oct 2003, 10:54

    Klaus Hoffmann – Es muss aus Liebe sein
    Virgin 1989

    Es gibt Alben mit denen man hervorragend berufene Altenpflege-Schülerinnen aufreißen kann. Man nehme Herman Van Veen oder Reinhard Mey. Wenn man lieber eine Altenpflege-Schülerin mit etwas Rock’n Roll im Herzen haben möchte, muss es schon Klaus Hoffmann sein. „Es muss aus Liebe sein“ ist auch Rock’n Roll, so wie Punk eine Lebenseinstellung ist.
    Mit der Liebsten in den Urlaub, irgendwohin, Hauptsache weg! Nach Afrika, Venedig, Hawaii, Nizza, Wien. Am Ende bleibt man zuhause und tut so, als wäre man im Urlaub, inklusiv hemmungslosen Sex. Es muss aus Liebe sein. Nieder mit den Trieben, es leben die Säfte. Und es lebt die Sehnsucht nach Nähe, während andere sie zu haben scheinen. Die Unerreichbarkeit ist unerträglich und so rettet sich Hoffmann in den Mond, der ihn anglotzt und er glotzt zurück. Dann folgt der Rock’n Roll. Unverblümt beschreibt Klaus Hoffmann schlechtes Benehmen und deklariert es als Müdigkeit. Sehr fein, sehr gemein. „Jungen Damen helf ich auch nicht aus dem Mantel, ich bin kein pflegeleichter Kavalier. Egal wie hübsch sie sind, die Ladies müssen schon von selber durch die Tür.“ – „Genau!!!“ rufe ich und weiß, ich bin nur müde, nicht ohne Anstand.
    Und dann gibt es die Annahme, dass Künstler immer wissen, was Volkes Stimme sagt. Das stimmt allerdings nur zum Teil, denn das Paradebeispiel in „Der Preis der Macht“ ist so einer der sich, außer um sich selbst um nichts kümmern muss, er braucht keine Verantwortung für andere zu übernehmen. Ach den gut dotierten Job? Das ist der Preis der Macht. In „Eine Schönheit ist sie nicht“ hält er einen Spiegel vor die Aussage und der Hörer sagt am Ende: „Stimmt, aber…“
    Altenpflegeschülerinnen haben, wie andere heranwachsende Frauen auch, das allseits beliebte Helfersyndrom. Das wird besonders deutlich, wenn Biologie-Studenten oder Sozialpädagogen dazustoßen. Wenn auf diese Konstellation die Liebe fällt, dann kommt Klaus Hoffmann um die Ecke und singt „Jedes Kind braucht einen Engel“. So weicheierisch, das es in denselben zieht. Es gibt Kinder, die haben Reißnägel in den Schuhen. Und wenn sie die Schuhe wechseln sind Kieselsteine drin. Es mag nicht in dieses Album passen.
    Themawechsel. „Total verrückt.“ beschreibt zwar den Aussteiger, der nach unendlichen Jahren endlich wach wird und sich ins Leben stürzt, doch in Wirklichkeit ist es eine andere Form von „Was werden bloß die Leute sagen?“ Ist doch egal, kommt als Schulterklopfer rüber. Und so richtig im Leben steht man erst, wenn man Paso Doble tanzen kann, sagt Klaus, der es auch nicht besser weiß, als ich oder die anderen. Genauso, wie man sich in eine Sache verrennt, von der man nur dachte, sie wäre es. Z.B. die Altenpflege-Schülerin. Das Leben spuckt einen aus, wenn man zu der Erkenntnis kommt: „Das war es nicht.“ Und wo landet man? „Bist wieder auf der Straße, bist wieder mitten drin, ein Nichts in grauer Masse, da wolltest du doch hin.“ Die letzten Songs vom Album kommen recht konzeptionell daher. Fühlt man sich erst mal „Wie ein Stein“, dann hebt man den Blick und schaut sich seine Stadt an und stellt fest: Da ist nichts mehr von dem, was früher war. So viele Jahre hat die Erinnerung gelebt, doch dabei hat sich alles verändert. „Diese Stadt“ ist veränderbar, aber nicht vergänglich in der Erinnerung. Es ist, als ob Berlin die Menschen vereinnahmt und verändert. Klaus Hoffmann scheint nicht wirklich älter zu werden. Kindskopf und Charmeur und Songwriter. Und so schafft er sich sein eigenes Happy-End, denn „Sie“ kommt zurück. Meiner Altenpflegeschülerin wurde es übrigens doch zuviel Rock’n Roll und sah sich nach einem Sozi-Pädda-Studi um. Und ich? Nahm meine traurigen Lieder und schmiss sie in den Mülleimer.

    Heute wieder mal gehört. Habe wenig dran auszusetzen. Ein schönes Album.

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    If I'd lived my life by what others were thinkin', the heart inside me would've died.[/FONT] [/SIZE][/FONT][/COLOR]
    #1023275  | PERMALINK

    moontear

    Registriert seit: 20.12.2002

    Beiträge: 14,237

    Originally posted by KritikersLiebling@8 Jul 2003, 10:29

    Sting – The Dream Of The Blue Turtles
    1985

    Sie hatten alles, was eine Rockband braucht. Den richtigen Zeitpunkt, drei außergewöhnliche Musiker, ein starkes Debüt sowie einen ebenbürtigen Nachfolger. Zum Schluss noch ein viel beachtetes Spätwerk. Die Rede ist von Police.
    Jedoch reduzierte sich die Band immer mehr auf die Person Sting. Ein hoch aufgeschossener blonder Sänger und Bassist. Letztere Eigenschaft wurde jedoch des Öfteren belächelt. Anerkennung suchte Sting im Songwriting und bei Yoga-Sitzungen, bzw. der Nennung derselben in Interviews. Ja, er sei sehr ausgeglichen und dieser Zustand ermögliche es ihm, gute Songs zu schreiben. Did it?
    Sein Solo-Debüt erschien im musikalischen Niemandsland zu einer Zeit, als Police bereits Geschichte war. Die Halbwertzeit hatte sich mit den letzten Veröffentlichungen deutlich minimiert.
    Bereits die ersten Worte könnten als Da Capo betrachtet werden. „Free free, set them free“. Sehnsüchtig und klagend kommen die Worte aus dem Lautsprecher. Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Frieden kehren auf diesem Album immer wieder, dass dennoch nicht so richtig rund klingen will. Und immer wieder sind es Kinder, die zu Protagonisten oder Probanden werden. 1985, mehr Zukunftsängste als Hoffnung. Die Texte sind persönlich, versetzt mit politischen Seitenhieben. Wer glaubt schon an ein Ende des kalten Krieges. Erst ein Jahr zuvor wurde der Sport durch den Olympiaboykott der UdSSR zu einem politischen Opfer. Da hatte Sting schon einen Teil der Songs geschrieben.
    Die Besetzung der Band, Branford Marsalis, Kenny Kirkland und Omar Hakim, gibt dem Album den letzten jazzigen Schliff, den Sting bereits bei Police angelegt hatte. Der einzige Anspruch an das Album sind hohe musikalische Qualitätsstandards, die durch ausgefeilte Arrangements und überraschenden Wendungen innerhalb der Songs zum Ausdruck gebracht werden. Es klingt perfekter, steriler und spannender als „Synchronicity“. Ein Mann macht die Musik erwachsen. Sting will viel und schafft ein Übergangsalbum mit Charakter, dass die Songs unverbraucht klingen lässt. Yoga rulez.

    Mein bisher einziges Sting-Album. Schön, daß es nicht wie ein Police-Abklatsch klingt auch wenn Parallelen natürlich da sind. Die Stimmung des Albums ist sicherlich unterkühlt, hängt auch viel an Stings Stimme, aber dennoch kommen Emotionen rüber.

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    If I'd lived my life by what others were thinkin', the heart inside me would've died.[/FONT] [/SIZE][/FONT][/COLOR]
    #1023277  | PERMALINK

    declan-macmanus

    Registriert seit: 07.01.2003

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    Vic Chesnutt: West of Rome (1994)

    Hauuuuuuuuu hauuuuuuuuu hauuuuuuuuu hauuuuuuuu. Nein, keine Angst, nicht die Wiederkehr von Dschingis Kahn, sondern der Einstieg in eines der formidabelsten Singer/Songwriter-Alben der 90er Jahre. Vic Chesnutt kommt aus Athens, Georgia – und das war sein Glück, denn dort wurde der wohl prominenteste Sohn der Stadt auf ihn aufmerksam: „Recorded on an October day in 1988 at John Keane’s gussled up studio by Michael Stipe, […]“ beschreibt Chesnutt im Booklet die Entstehungsgeschichte seines ersten Albums Little. Fast ausschließlich sich selbst an der Akustikgitarre begleitend singt er eine Reihe von eigenen Songs, die nicht allesamt brillant sind, in denen aber hier und da Chesnutts Genie schon deutlich aufblitzt. Erst 1993 erscheint das nächste Album, Drunk, diesmal ohne prominente Hilfe – etwas krawalliger und spaßiger, dabei aber merkwürdig glatt gerät das Ganze und lässt den Hörer trotz unbestreitbarer Höhepunkte („When I ran off and left her“!) achselzuckend zurück. Auch Herrn Stipe muss das aufgefallen sein. Das kann er besser, wird er sich gedacht haben. Und produzierte das nächste Album: West of Rome. Entstanden ist ein rauer Brocken. Chesnutts knarzende Gitarre schrammelt unerbittlich, ein trockenes Schlagzeug schlurft dazu den Takt vor, Chesnutts Frau Tina zupft unaufgeregt den Bass. Hier und da (where Mr. Stipe heard them , wie das Booklet verrät) karge Einwürfe von Klavier und Keyboard, ein dezentes Drei-Ton-Akustikgitarrensolo („Florida“!) oder das kleine Streichensemble der Familie – Chesnutts Nichten spielen Violine und Cello (das zarte Pizziccato auf „Where Were You“!). Und über allem diese unvergleichliche Stimme. Chesnutt keift und faucht, raunt und jault – widerspenstig und garstig wie eine Katze, mitgenommen und zugleich robust wie ein Trinker und bei all dem doch anrührend wie ein Kind. Als ich West of Rome 1995 zum ersten Mal hörte, kannte ich nur den soeben erschienenen Nachfolger Is the Actor Happy?, ebenfalls hervorragend, aber doch um einiges gefälliger, geschmeidiger, glatter produziert. So war ich dann beim ersten Hören zunächst wie vor den Kopf gestoßen. Das alles klang so brutal, so unerbittlich, so verzweifelt. Aber es faszinierte mich. Ich wusste, dass es sich lohnen würde, diese Brutalität wieder und wieder zu ertragen. Und je öfter ich das Album hörte, desto mehr fesselte es mich, wurde zum täglichen Weggefährten. Bei den meisten Liedern wusste ich nicht, wovon die Rede war, aber auch wenn ich das Ganze nicht verstand, setzten sich doch einzelne Textfetzen in mir fest, erschienen mir wie endgültige Wahrheiten, die ich nur noch nicht ergründen konnte. Was er nun eigentlich will, ist mir bei vielen Liedern auch heute noch nicht klar – und ich habe nie versucht, einen der Texte genauer zu analysieren. Nicht aus Angst, die Tiefe, die ich ihnen zuschreibe, könnte einer genaueren Untersuchung nicht standhalten, sondern weil keine Interpretation sich jemals vor die mysteriöse Bedeutung schieben könnte, die die Stücke ohnehin für mich haben. Und so betrachte ich das Album auch heute noch mit dem Auge des naiven Verführten, kenne zwar jede Zeile auswendig, habe aber nie nachgeschlagen, was zum Beispiel eine „wobbly, volatile line“ sein könnte. Bei einigen Texten sehe ich heute natürlich klarer – und bei jedem Hören geht mir ein neues Licht auf.

    „Latent/Blatant“ (wir erinnern uns: „Hauuuuuu“) ist ein düsterer Einstieg: ein böser Hohngesang auf – ja auf wen eigentlich? Einen Geizhals, einen Hochstapler, einen schmierigen Casanova. „Bug“ beginnt mit einer Reihe Fragmenten, die Chesnutt am Tag, als er das Lied schrieb, auf irgendwelche Mauern geschmiert las. Und dann verwandelt er sich vor lauter Liebe in ein widerliches Eichhörnchen und stimmt in den Gesang der Omas auf der Veranda ein: „When the bug hits / that’s the time to scratch it“. Wie das alles zusammenhängt? Ich weiß es nicht – aber wenn Chesnutt sich beim zweiten Mal eine Oktave höher in den Refrain stürzt, bin ich jedes Mal ergriffen, ohne so recht zu wissen, warum. In „Withering“ liebt Chesnutt eine gescheiterte Polit-Aktivistin, die sich mit den Massen anlegt, während er in sicherer Entfernung auf sie wartet. Als nächstes klagt er gleich die ganze Welt an: „The world it is a sponge“ schreit er voller Bitterkeit und schlägt dazu wild auf seine Saiten ein – im Hintergrund gespenstische, wie rückwärts gespielt klingende Geigenstriche. In „Where Were You“ ist er einer Frau ausgeliefert, die nie da ist, wenn er sie braucht, sitzt mit blutendem Herzen in fürchterlichen Zuständen zu Hause und wird auch noch von Stipes dezentem Piano-Einwurf verhöhnt. „Lucinda Williams“ ist eine Sängerin. Ich kenne sie nicht, aber Chesnutt scheint große Stücke auf sie zu halten. Das Lied weitet sich aus zu einem großen Cluster von Aufsichgestelltsein, Schuldzuweisung, Einsamkeit, Anderssein. Dann einer der großen Höhepunkte: „Florida“. Chesnutt sitzt in einem verdunkelten Raum am Klavier, zerlegt langsam düstere Akkorde und singt dabei mit belegter vom Respekt für den Selbstmord (eines Freundes?) im Rentnerparadies Florida. Aus der Ferne legt sich leise eine zweite Stimme darüber, ein angedeutetes Gitarrensolo untermalt die Traurigkeit, dann ist das Klavier wieder allein. „Florida / Florida/ There’s no more perfect place to retire from life.“ “Stupid Preoccupations“ handelt vom Sichabfinden mit und vom Sicheinrichten in der Außenseiterposition. Eingebettet in leise warme Orgeltöne keift er voller Spott: „I tie on to all the others / and say a soggy toast to all my drunken brothers. / They’ve got organisations / for people like me / with stupid preoccupations.” In “Panic Pure“ gerinnt die nostalgische Erinnerung an eine Kindheit voller Dringlichkeit in, nun ja: die pure Panik, in Zukunftsangst und Ausgestoßensein. Mit „Miss Mary“, schreibt Chesnutt, habe er versucht einen schlechten Leonard-Cohen-Song zu schreiben. Und tatsächlich erinnert die Gitarrenfigur an Leonard Cohen – nur schlecht ist das Lied natürlich ganz und gar nicht. Begehren und Keuschheit und wie sie einander gern aufheben würden. „C’est la vie / whatever that means / ladida / and a Doris Day / Que sera sera.” Wer „Steve Willooughby” ist, weiß ich nicht, aber eines Tages wird Chesnutt so sein wie er: reich, klug, groß, bewundert. Aber was ist er stattdessen? Ein Nichtsnutz, ein Tagedieb, ein Häufchen Elend. Aber er singt das alles so beschwingt, dass man nur hoffen kann, dass er niemals Steve Willoughby sein wird. „West of Rome“ ist laut Chesnutt von einem gleichnamigen Buch inspiriert, jedoch: „Had nothing to do with each other, the book and the song.” Danke für den Hinweis. Das Lied jedenfalls wird getragen, von dunklen Klaviertönen und hintergründig geschrammelten Gitarrenakkorden in Moll. Es handelt von einem desolaten Reisenden, der aus der Einsamkeit seines Hotelzimmers seine Schwester anruft und zweifelhafte Erinnerungen an ihre gemeinsame Kindheit weckt. Er bleibt zurück als Leidender, als Märtyrer, und Chesnutt heult wie ein Wolf in den trostlosen Nachthimmel. „Big Huge Valley“ wurde inspiriert von einer tequiladurchtränkten Fahrt von San Francisco nach Los Angeles durch das San Joaquin Valley – das erklärt einiges. In „Soggy Tongues“ dürfen dann noch mal die Nichten ran. Es handelt von „trendy fuckers drinking and gossiping“ und entwickelt durch das Wechselspiel von naiver Hausmusik und beschwingt gekeiften Gemeinheiten einen sehr eigenen Charme. Schließlich noch ein kurzes, versöhnliches Instrumentalstück.

    Ganz enträtseln wird sich mir West of Rome wohl nie – aber ich weiß mit Sicherheit, es ist ein Album, das bleiben wird, egal, wie viele verzichtbare und schlechte Alben Chesnutt noch aufzunehmen gedenkt. Und jetzt alle noch mal von vorn: Hauuuuuuu hauuuuuuuu hauuuuuuu…..

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    Lately I've been seeing things / They look like they float at the back of my head room[/B] [/SIZE][/FONT]
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    kritikersliebling

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    Wolf Maahn – Irgendwo in Deutschland
    EMI 1984

    Viel hilft viel. Das dritte Album von Wolf Maahn und den Deserteuren strotzt vor Produktvielfalt. Große Band, viele Instrumente, viel Technik. Ein gut aufgelegter Sänger und Texter trifft seinen kongenialen Gitarristen. Dass die Texte voller Phrasen stecken und oft nur Aufzählungen ohne Gliederung sind ist egal, denn dadurch werden die Texte nicht unwahr. Die Musik ist so nah on the road, dass es live ein Vergnügen werden muss. „Irgendwo in Deutschland“ funktioniert als deutsches 'Born In The USA', ob man Maahn mag oder nicht. Durch den dicken Rock’n Roll glänzen immer mal wieder ein Schuss Soul, etwas Stones und die Kumpels der damaligen EMI-Liga“ (BAP, K. Lage, H. Grönemeyer). Anspielungen und Plattheiten sind ständig präsent und werfen einen halbtransparenten Schatten auf die erstklassige Produktion. Bei allen Veröffentlichungen ist dieses Album wahrhaft die Rose im Asphalt. Aufbruch, unterwegs und hungrig wie ein Wolf (aha!). Was das alte Fieber sein soll, erfährt der Hörer nicht direkt, dafür weiß man hinterher, was es nicht ist. „Wo ist die Grenze der Besonnenheit, wenn du einkaufst und John Lennon durch den Supermarkt hallt?“ Eine rhetorische Frage, die nach keiner Antwort verlangt, sondern provoziert. Warum dann nur besonnen“ und nicht „besoffen“? Das ist ein Kritikpunkt, denn häufig kommt Wolf Maahn hier etwas zu unverbindlich auf den Punkt.
    1984 lerne ich die Texte auswendig und passe sie als Soundtrack in mein Lebensmosaik ein. Bin ich gesund, verlange ich nach Fieber, wenn es mir schlecht geht bin ich der Clown mit dem Blues. Spätestens bei „Uhh Mädchen“ (unter uns, ein ziemlich dämlicher Songtitel) wird es anheimelnd und pubertär ranschmeißerisch. Der Sänger ist dreißig und macht Musik für Leute, die vielleicht gerade ihren Führerschein machen. Statt Sex gibt es schlaue Sinnsprüche. So wird dieses Album kein Alterswerk. Ich mag das Album trotzdem oder deshalb, weil es frisch ist, weil es nicht so abgeklärt erwachsen daher kommt. Ich drück ein Auge zu und sag: „Ist egal!“ Irgendwo in Deutschland befasst sich Maahn mit Befindlichkeiten und spiegelt die Orientierungslosigkeit wider, an der die 80er Jahre immer krankten. Eigentlich geht es einem gut und eigentlich ist viel zu tun. Heutzutage ist immer noch viel zu tun, nur geht es uns besser als vor 19 Jahren. Mehr Ahnung, mehr Einkommen, mehr Ohnmacht. Was will man mehr? Es fehlt die Unbekümmertheit, einfache Dinge einfach darzustellen und dazu zu stehen. „Uhh Mädchen“ meinetwegen.
    Die zweite Hälfte des Albums schwitzt noch weniger. Songs, so kühl distanziert wie ein Getränk aus dem Kühlschrank und verlässlich vorhersehbar, wie das Licht beim Öffnen der Kühlschranktür. Witzig ist die Textkonstruktion bei „Direkt ins Blut“. In Nebensätzen, die zur Hauptsache umfunktioniert sind, werden die Probleme und Errungenschaften der Zeit beleuchtet und gipfeln in der „ Das-machen-wir-live-dann-auch-so“-Bandvorstellungs-Strophe. Grausige Beispiele: „Hier kommt die Strat, sie bringt mich in Fahrt und hör mal der Synth, er heult wie der Wind…“ usw. Doch auch diese Stilistik gefällt mir in ihrer Naivität. Na klar fühle ich mich verarscht, aber nicht damals. Nur heute, wo ich schon alles gesehen, gehört und erlebt habe. Dieses Album ist wirklich zeitgenössisch, zeigt alles und verheimlicht nichts und das auf ehrliche Art. Irgendwo in Deutschland hört irgendwer „irgendwo in Deutschland“ und blättert in Fotoalben mit verblassten Bildern.

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    Das fiel mir ein als ich ausstieg.
    #1023281  | PERMALINK

    observer

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    David Sylvian – Secrets of the beehive
    Virgin, 1987

    September`s here again

    Diese Zeile steht eigentlich programmatisch für dieses 1987 erschienene und wohl gelungenste Album von David Sylvian. In seiner Stimmung geheimnisvoll, in seiner Tiefe kaum erfassbar, vertont Sylvian nicht nur eine Jahreszeit, sondern eine Phase im Jahr, in der man sich selbst wahrscheinlich am nahesten kommt. Die Bilder reichen von endlosen Spaziergänge in laubbedeckten Wäldern über stürmische Nachmittage an der Küste hin zu trostlosen Aufenthalten in Räumen, in denen man nur noch das Ticken altmodischer Wanduhren und den Trugschein der eigenen Phantasie wahrnimmt.

    Sylvian ist in seiner leisen, unaffektierten Art ein Magier. Seine Stimme lebt von Wärme ohne gespielte Emotionalität. Er singt einfach nur, und lässt dabei dem Hörer den größtmöglichen Assoziationsraum, der dieses Angebot annehmen und „Secrets of the beehive“ als Spiegel verwenden kann.

    Den wichtigsten musikalischen Beitrag hat wohl Ryuichi Sakamoto geleistet, der von geheimnisvollen Geräuschkulissen bis hin zu schönen (aber nicht süßlichen) Streicher-Arrangements eine immense Bandbreite offeriert. Die 10 Songs (einer davon wurde erst der CD-Ausgabe angefügt) sind aber nie überladen, klingen immer transparent, in gewisser Weise sogar intim. Es gibt Momente der kompletten Ruhe, der Mut zur Stille. Drums finden da so gut wie keine Verwendung.

    Die Perfektion in der Umsetzung zeigt sich für mich z.B. in einem der schönsten Songs: „Let the happiness in“. Ein dunkler Bläserteppich, der sowohl ein Schiffsgeräusch als auch die Musik einer Beerdigung sein könnte, untermalt die Zeilen: „I'm waiting on the empty docks / Watching the ships come in / I'm waiting for the agony to stop / Oh, let the happiness in“. Dazu die Verlorenheit einer im Wind wegschwebenden Trompete und die leisen gedämpften Percussions. Das klingt traurig und verloren, aber gleichzeitig auch zärtlich und hoffnungsvoll. Und in dieser Ambivalenz liegt für mich wohl auch der nie nachlassende Reiz dieses Meisterwerks.

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    Wake up! It`s t-shirt weather.
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