Re: Wiederhören im Forum…

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declan-macmanus

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Vic Chesnutt: West of Rome (1994)

Hauuuuuuuuu hauuuuuuuuu hauuuuuuuuu hauuuuuuuu. Nein, keine Angst, nicht die Wiederkehr von Dschingis Kahn, sondern der Einstieg in eines der formidabelsten Singer/Songwriter-Alben der 90er Jahre. Vic Chesnutt kommt aus Athens, Georgia – und das war sein Glück, denn dort wurde der wohl prominenteste Sohn der Stadt auf ihn aufmerksam: „Recorded on an October day in 1988 at John Keane’s gussled up studio by Michael Stipe, […]“ beschreibt Chesnutt im Booklet die Entstehungsgeschichte seines ersten Albums Little. Fast ausschließlich sich selbst an der Akustikgitarre begleitend singt er eine Reihe von eigenen Songs, die nicht allesamt brillant sind, in denen aber hier und da Chesnutts Genie schon deutlich aufblitzt. Erst 1993 erscheint das nächste Album, Drunk, diesmal ohne prominente Hilfe – etwas krawalliger und spaßiger, dabei aber merkwürdig glatt gerät das Ganze und lässt den Hörer trotz unbestreitbarer Höhepunkte („When I ran off and left her“!) achselzuckend zurück. Auch Herrn Stipe muss das aufgefallen sein. Das kann er besser, wird er sich gedacht haben. Und produzierte das nächste Album: West of Rome. Entstanden ist ein rauer Brocken. Chesnutts knarzende Gitarre schrammelt unerbittlich, ein trockenes Schlagzeug schlurft dazu den Takt vor, Chesnutts Frau Tina zupft unaufgeregt den Bass. Hier und da (where Mr. Stipe heard them , wie das Booklet verrät) karge Einwürfe von Klavier und Keyboard, ein dezentes Drei-Ton-Akustikgitarrensolo („Florida“!) oder das kleine Streichensemble der Familie – Chesnutts Nichten spielen Violine und Cello (das zarte Pizziccato auf „Where Were You“!). Und über allem diese unvergleichliche Stimme. Chesnutt keift und faucht, raunt und jault – widerspenstig und garstig wie eine Katze, mitgenommen und zugleich robust wie ein Trinker und bei all dem doch anrührend wie ein Kind. Als ich West of Rome 1995 zum ersten Mal hörte, kannte ich nur den soeben erschienenen Nachfolger Is the Actor Happy?, ebenfalls hervorragend, aber doch um einiges gefälliger, geschmeidiger, glatter produziert. So war ich dann beim ersten Hören zunächst wie vor den Kopf gestoßen. Das alles klang so brutal, so unerbittlich, so verzweifelt. Aber es faszinierte mich. Ich wusste, dass es sich lohnen würde, diese Brutalität wieder und wieder zu ertragen. Und je öfter ich das Album hörte, desto mehr fesselte es mich, wurde zum täglichen Weggefährten. Bei den meisten Liedern wusste ich nicht, wovon die Rede war, aber auch wenn ich das Ganze nicht verstand, setzten sich doch einzelne Textfetzen in mir fest, erschienen mir wie endgültige Wahrheiten, die ich nur noch nicht ergründen konnte. Was er nun eigentlich will, ist mir bei vielen Liedern auch heute noch nicht klar – und ich habe nie versucht, einen der Texte genauer zu analysieren. Nicht aus Angst, die Tiefe, die ich ihnen zuschreibe, könnte einer genaueren Untersuchung nicht standhalten, sondern weil keine Interpretation sich jemals vor die mysteriöse Bedeutung schieben könnte, die die Stücke ohnehin für mich haben. Und so betrachte ich das Album auch heute noch mit dem Auge des naiven Verführten, kenne zwar jede Zeile auswendig, habe aber nie nachgeschlagen, was zum Beispiel eine „wobbly, volatile line“ sein könnte. Bei einigen Texten sehe ich heute natürlich klarer – und bei jedem Hören geht mir ein neues Licht auf.

„Latent/Blatant“ (wir erinnern uns: „Hauuuuuu“) ist ein düsterer Einstieg: ein böser Hohngesang auf – ja auf wen eigentlich? Einen Geizhals, einen Hochstapler, einen schmierigen Casanova. „Bug“ beginnt mit einer Reihe Fragmenten, die Chesnutt am Tag, als er das Lied schrieb, auf irgendwelche Mauern geschmiert las. Und dann verwandelt er sich vor lauter Liebe in ein widerliches Eichhörnchen und stimmt in den Gesang der Omas auf der Veranda ein: „When the bug hits / that’s the time to scratch it“. Wie das alles zusammenhängt? Ich weiß es nicht – aber wenn Chesnutt sich beim zweiten Mal eine Oktave höher in den Refrain stürzt, bin ich jedes Mal ergriffen, ohne so recht zu wissen, warum. In „Withering“ liebt Chesnutt eine gescheiterte Polit-Aktivistin, die sich mit den Massen anlegt, während er in sicherer Entfernung auf sie wartet. Als nächstes klagt er gleich die ganze Welt an: „The world it is a sponge“ schreit er voller Bitterkeit und schlägt dazu wild auf seine Saiten ein – im Hintergrund gespenstische, wie rückwärts gespielt klingende Geigenstriche. In „Where Were You“ ist er einer Frau ausgeliefert, die nie da ist, wenn er sie braucht, sitzt mit blutendem Herzen in fürchterlichen Zuständen zu Hause und wird auch noch von Stipes dezentem Piano-Einwurf verhöhnt. „Lucinda Williams“ ist eine Sängerin. Ich kenne sie nicht, aber Chesnutt scheint große Stücke auf sie zu halten. Das Lied weitet sich aus zu einem großen Cluster von Aufsichgestelltsein, Schuldzuweisung, Einsamkeit, Anderssein. Dann einer der großen Höhepunkte: „Florida“. Chesnutt sitzt in einem verdunkelten Raum am Klavier, zerlegt langsam düstere Akkorde und singt dabei mit belegter vom Respekt für den Selbstmord (eines Freundes?) im Rentnerparadies Florida. Aus der Ferne legt sich leise eine zweite Stimme darüber, ein angedeutetes Gitarrensolo untermalt die Traurigkeit, dann ist das Klavier wieder allein. „Florida / Florida/ There’s no more perfect place to retire from life.“ “Stupid Preoccupations“ handelt vom Sichabfinden mit und vom Sicheinrichten in der Außenseiterposition. Eingebettet in leise warme Orgeltöne keift er voller Spott: „I tie on to all the others / and say a soggy toast to all my drunken brothers. / They’ve got organisations / for people like me / with stupid preoccupations.” In “Panic Pure“ gerinnt die nostalgische Erinnerung an eine Kindheit voller Dringlichkeit in, nun ja: die pure Panik, in Zukunftsangst und Ausgestoßensein. Mit „Miss Mary“, schreibt Chesnutt, habe er versucht einen schlechten Leonard-Cohen-Song zu schreiben. Und tatsächlich erinnert die Gitarrenfigur an Leonard Cohen – nur schlecht ist das Lied natürlich ganz und gar nicht. Begehren und Keuschheit und wie sie einander gern aufheben würden. „C’est la vie / whatever that means / ladida / and a Doris Day / Que sera sera.” Wer „Steve Willooughby” ist, weiß ich nicht, aber eines Tages wird Chesnutt so sein wie er: reich, klug, groß, bewundert. Aber was ist er stattdessen? Ein Nichtsnutz, ein Tagedieb, ein Häufchen Elend. Aber er singt das alles so beschwingt, dass man nur hoffen kann, dass er niemals Steve Willoughby sein wird. „West of Rome“ ist laut Chesnutt von einem gleichnamigen Buch inspiriert, jedoch: „Had nothing to do with each other, the book and the song.” Danke für den Hinweis. Das Lied jedenfalls wird getragen, von dunklen Klaviertönen und hintergründig geschrammelten Gitarrenakkorden in Moll. Es handelt von einem desolaten Reisenden, der aus der Einsamkeit seines Hotelzimmers seine Schwester anruft und zweifelhafte Erinnerungen an ihre gemeinsame Kindheit weckt. Er bleibt zurück als Leidender, als Märtyrer, und Chesnutt heult wie ein Wolf in den trostlosen Nachthimmel. „Big Huge Valley“ wurde inspiriert von einer tequiladurchtränkten Fahrt von San Francisco nach Los Angeles durch das San Joaquin Valley – das erklärt einiges. In „Soggy Tongues“ dürfen dann noch mal die Nichten ran. Es handelt von „trendy fuckers drinking and gossiping“ und entwickelt durch das Wechselspiel von naiver Hausmusik und beschwingt gekeiften Gemeinheiten einen sehr eigenen Charme. Schließlich noch ein kurzes, versöhnliches Instrumentalstück.

Ganz enträtseln wird sich mir West of Rome wohl nie – aber ich weiß mit Sicherheit, es ist ein Album, das bleiben wird, egal, wie viele verzichtbare und schlechte Alben Chesnutt noch aufzunehmen gedenkt. Und jetzt alle noch mal von vorn: Hauuuuuuu hauuuuuuuu hauuuuuuu…..

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Lately I've been seeing things / They look like they float at the back of my head room[/B] [/SIZE][/FONT]