Retromania | ist Pop tot?

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  • #8682269  | PERMALINK

    herr-rossi
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    Registriert seit: 15.05.2005

    Beiträge: 87,233

    tolomoquinkolom
    Dass es – wie Reynolds schreibt – einen direkten Zusammenhang von immer kürzer werdenden Produktlebenszyklen

    An dieser Stelle wird es schon fragwürdig, denn wann waren die „Produktlebenszyklen“ je so kurz wie in den 60s, die doch immer die Referenz für Pop-Innovationen sind? Damals wurden Veröffentlichungen mit einer Geschwindigkeit herausgebracht, als ob es kein morgen gäbe. Weil man an „morgen“ überhaupt noch nicht dachte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass damals schon der Aussage „daran kann sich in xy Jahren doch niemand mehr erinnern“ – heutzutage eine Standardkritik der Konservativen an allem was neu ist und mehr als dreimal in der Öffentlichkeit Erwähnung findet (sogenannte Hypes) – irgendeine Relevanz gehabt hätte. Es gehört ja auch zu den Legenden, dass Künstler der 60s „langlebiger“ gewesen wären. Auf die große Mehrzahl trifft das überhaupt nicht zu, sie sind nach ein paar Jahren im Rampenlicht wieder verschwunden und fristen besten- oder schlechtestenfalls ein Schattendasein als tingelnder „Oldie“-Act. Vielleicht wurden sie irgendwann mal „wiederentdeckt“, aber auch das war für die meisten nur ein kurzes Intermezzo.

    Der Rückzug der Pop-Industrie in ihre Archive und deren entsprechende Verwertung (Revivals, Bestseller-Wiederveröffentlichungen, Box-Sets, Sammler-, Deluxe-, Super-Deluxe-Editionen, Werkausgaben, Tribut-, Essential-, Best-of-Reihen usw.)

    Die klassische Tonträgerindustrie muss aus bekannten Gründen inzwischen kleine Brötchen backen. Daher werden auch Minderheiteninteressen wieder bedient, siehe den Vinylboom. Oder eben diese Kundengruppe, das sich jedes Jahr gerne eine Neuauflage des Beatles-Katalogs ins Regal stellen möchte. In der Regel zahlungskräftige Kunden jenseits der 25/30, die ohnehin an aktueller Musik kaum noch interessiert sind. Die aktuelle Musikszene tangiert das nicht weiter.

    In der ganzen „Retromania“-Debatte werden ja überhaupt verschiedene Dinge vermengt: Das konservative Kaufverhalten eines Teils der Rezipienten, wie eben beschrieben, hat meiner Ansicht nach keine Aussage über die Vitalität der aktuellen Musikszene. Sie ist da, sie ist vital, sie klingt anders als vor 10, 20 usw. Jahren. Diese Jammerarien über den angeblichen kreativen Stillstand kann ich überhaupt nicht teilen.

    Retro wären demnach wohl z.B. Adele, The xx, The White Stripes oder Kitty, Daisy & Lewis

    The XX würde ich nicht dazu zählen. Wo wurden die jemals als „retro“ empfunden? Ansonsten würde ich unterscheiden:

    – Künstler, die bewusst höchste Sorgfalt darauf verwenden, dass ihre Musik genauso klingt, wie bestimmte Stilrichtungen vergangener Epochen, die sie besonders schätzen, also z.B. Kitty, Daisy & Lewis oder Nick Waterhouse. Sowas hat es immer gegeben und wird es immer geben, das ist aber eine Nische.

    – The White Stripes hatten dagegen musikalisch einen stärkeren Zitat-Charakter und vor allem ein visuelles Konzept, das „alte“ Musik in einen anderen, neuen Zusammenhang rückte. Damit konnte man es dann auch bis zu den MTV-Awards schaffen. In gewisser Weise waren The White Stripes damit ein Pop-Art-Phänomen.

    – Künstler, die dem Publikum als „authentisch“ verkauft werden, die einer erzkonservativen „bring back *real* music“-Ideologie Vorschub leisten. Ich könnte außer Adeles Namen auch den eines „talentierten jungen Songwriters“ aus dem UK ins Spiel bringen … (Disclaimer: Natürlich kann man auch Adele und Jake Bugg hören und schätzen, wenn man diese Ideologie nicht teilt.)

    tolomoquinkolom
    iPod scheint zum Symbol eines rasenden Stillstands zu werden. Viel Bewegung bzw. Aktionismus, aber kein (echter) Fortschritt, weil das ganze Archiv zur potentiellen Playlist wird, um Besonderheiten bereinigt und stimmungsoptimiert. In Zeiten wachsender globaler Unsicherheiten beschwört man offensichtlich viel lieber die Vergangenheit herauf, als sich mit der Gegenwart oder gar der Zukunft zu befassen.

    Klingt toll, aber hier geht es doch wieder um Rezipienten und nicht um die Künstler. Du vermischst das ständig.

    tolomoquinkolomKaiser hält die Unterscheidung in E- und U-Musik selbst für Blödsinn. Ich wiederum halte die Gegenüberstellung des Fragestellers von Britney Spears (bzw. eines Liedchens von ihr) und Wagners Tristan und Isolde für Blödsinn. Im Übrigen ging es offensichtlich um einen Qualitätsvergleich. Das führt zu nichts.

    Alles richtig, darum ging es mir aber nicht bei dem Kaiser-Zitat, sondern auschließlich um seine Ausführungen dazu, dass klassische bzw. E-Musik eine differenzierte Kunstsprache ist, die nur der kreativ verwenden und weiterentwickeln kann, der ihre Geschichte kennt. Ich meine, wenn man diese Erkenntnis auf Pop-Musik bezieht, dann verliert diese ganze „Retro“-Thematik ihren vermeintlichen Schrecken, zumindest was die aktiven Künstler angeht. Heutzutage bietet so ziemlich jede neue Band oder neue Künstler ellenlange und bunte Listen der eigenen Einflüsse, die zeigen, dass sie nicht „unbeleckt“ ans Werk gehen, sondern in dem Wissen, dass andere vor ihnen auch schon Musik gemacht haben und sie diese Musik geprägt hat. Das wussten die viel gerühmten Innovatoren der 60s aber schon genauso gut. Den Künstler, der in einer Pinguinkolonie in der Antarktis aufwächst, dann in die menschliche Zivilisation überführt wird, sich ein Instrument kauft und aus völlig unbeeinflusster Intuition eine Musik macht, wie sie noch nie jemand gehört hat, den gibt es doch nicht.

    Alberto
    Im Internet schaue ich nur, was ich schon kenne. Jeder schaut etwas anderes. Das Internet setzt keine Trends, sondern gibt nur außerhalb des Internets gesetzte Trends wieder.

    Was Du im Internet machst, ist Deine Sache, aber die führt Dich hier zu einer krassen Fehleinschätzung. Musikalische Trends verbreiten sich heutzutage immer erst im Internet. Die klassischen Medien (Print, TV, Radio) kommen erst sekundär ins Spiel.

    ReinoUnd für Deutschland bedeutete der Einzug des Format-Radios, daß das Kaufverhalten der Musikhörer in den USA und GB bestimmte, was bei uns gespielt wurde

    Naja, das ist auch so eine Legende, aber müssen wir hier nicht diskutieren.

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    #8682271  | PERMALINK

    sonic-juice
    Moderator

    Registriert seit: 14.09.2005

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    tolomoquinkolomRetro, merkwürdig alt klingend, aber doch sehr zeitgenössisch, setzt sich wohl mit ganz aktuellen Kulturhervorbringungen auseinander, die möglichst 1:1-Kopien (und ohne Beimengungen) aus einer gewünschten Vergangenheit herzustellen versuchen (die wiederum selbst nie retro war). Retro wären demnach wohl z.B. Adele, The xx, The White Stripes oder Kitty, Daisy & Lewis ebenso wie der kürzlich Oscar-gekrönte Stummfilm THE ARTIST von Michel Hazanavicius bzw. die Filme von Quentin Tarantino, oder im Bereich der Bildenden Kunst die Werke von Ralf Metzenmacher – von der Mode ganz zu schweigen.

    Das Problem an den Beispielen – und insofern auch an der Eingrenzung des vermeintlichen Retro-Phänomens – ist, dass man bei genauerem Blick auf jeden einzelnen Act gut begründen kann, dass die Schublade klemmt (siehe Rossis Einwände weiter oben, am offenkundigsten bei The XX). Selbst die Tracks von KD&L (insbesondere die Stilmischung des 2. Albums) hat man genau so noch nie zuvor gehört – allerdings gibt es aus diesem Bereich früher wie heute sicherlich zwingenderes. Nick Waterhouse wird allzuoft in irreführende Zusammenhänge von Winehouse bis 60s Soul gestellt, die offenkundig sehr wenig mit seinem Sound zu tun haben. Bei genauerem Hinhören ist es auch hier sehr schwer, überhaupt klare Vorbilder auszumachen, die früher mehr oder weniger genau so klangen. Gritty Blue Eyed R&B der frühen 60er jenseits von Georgie Fame und den britischen Beat Bands? Beispiele bitte!
    Bin mir nicht sicher, ob die genannten Bands (bei allen stilistischen Referenzen an vergangene Trends) irgendeinen Orginalitätsmalus gegenüber irgendeinem anderen aktuellen Act haben (der sich ggf. dann halt eher auf die 70s, 80s, die Singer/Songwriter-Tradition, Brit Pop, Hip Hop oder sonstiges bezieht). Vielleicht liegt es daran, dass viele Leute eher genaue Differenzierungen bei Folk- und Singer/Songwriter-Klängen vornehmen können als bei Rockabilly, Rhythm & Blues oder Soul. Da klingt aus der unkundigen Distanz halt alles gleich. Und wenn heute jemand sich dieses Instrumentariums bedient, ist das dann halt gleich ein Klon… Den Eindruck hatte ich jedenfalls bei Reynolds bisweilen.
    Michael Kiwanuka ist ja zB nicht deshalb langweilig, weil er etwa Terry Callier und Bill Withers belehnt, sondern weil er musikalisch vergleichsweise wenig zu sagen hat. Das ist aber wohl eher eine Frage des Talents als des Sounds.

    Und dass ausgerechet Tarantino 1:1-Kopien einer Vergangenheit anstrebt, wäre mir sowieso neu. Mal Castellaris „The Inglorious Bastards“ oder Jack Hills „Foxy Brown“ gesehen und verglichen? Der Mann ist mit seinem Schaffen immerhin so prägend und eigen, dass „tarantinoesk“ es in das Vokabular der Filmkritik geschafft hat.

    --

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    #8682273  | PERMALINK

    reino

    Registriert seit: 20.06.2008

    Beiträge: 5,700

    Herr RossiNaja, das ist auch so eine Legende, aber müssen wir hier nicht diskutieren.

    Gerne auch an anderer Stelle, aber ich wüßte schon gerne, was daran „Legende“ ist. Wenn zahlreiche Sender nur die aktuellen US-Charts spielen, wird die Musikauswahl ja nun nicht primär von deutschen Hörern bestimmt. Und natürlich hat es jeder US-Charts-Titel leichter, in die deutschen Charts zu kommen, als eine hiesige Neuproduktion.

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    #8682275  | PERMALINK

    jan-lustiger

    Registriert seit: 24.08.2008

    Beiträge: 11,203

    Wenn ich mir die hiesigen Neuproduktionen anhöre, die es dann doch schaffen, ist das auch ganz gut so.

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    #8682277  | PERMALINK

    hal-croves
    אור

    Registriert seit: 05.09.2012

    Beiträge: 4,617

    Herr RossiHeutzutage bietet so ziemlich jede neue Band oder neue Künstler ellenlange und bunte Listen der eigenen Einflüsse, die zeigen, dass sie nicht „unbeleckt“ ans Werk gehen, sondern in dem Wissen, dass andere vor ihnen auch schon Musik gemacht haben und sie diese Musik geprägt hat. Das wussten die viel gerühmten Innovatoren der 60s aber schon genauso gut. Den Künstler, der in einer Pinguinkolonie in der Antarktis aufwächst, dann in die menschliche Zivilisation überführt wird, sich ein Instrument kauft und aus völlig unbeeinflusster Intuition eine Musik macht, wie sie noch nie jemand gehört hat, den gibt es doch nicht.

    Doch: http://en.wikipedia.org/wiki/The_Shaggs ;-)

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    "Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=
    #8682279  | PERMALINK

    mikko
    Moderator
    Moderator / Juontaja

    Registriert seit: 15.02.2004

    Beiträge: 34,399

    Hal CrovesDoch: http://en.wikipedia.org/wiki/The_Shaggs ;-)

    Ohne Einflüsse und fernab jeglicher zeitgenössischer Pop Musik machten The Shaggs aber auch nicht ihr Ding. Dass sie so anders klangen, lag an ihrem völligen Unvermögen, die Musik so zu spielen, wie sie es gerne gewollt hätten. Und in ihrem Dad hatten sie dann auch noch einen Produzenten, der von Pop Musik nun wirklich gar keine Vorstellung hatte.
    Frank Zappa war übrigens ein großer Fan von The Shaggs.

    --

    Twang-Bang-Wah-Wah-Zoing! - Die nächste Guitars Galore Rundfunk Übertragung ist am Donnerstag, 19. September 2019 von 20-21 Uhr auf der Berliner UKW Frequenz 91,0 Mhz, im Berliner Kabel 92,6 Mhz oder als Livestream über www.alex-berlin.de mit neuen Schallplatten und Konzert Tipps! - Die nächste Guitars Galore Sendung auf radio stone.fm ist am Dienstag, 17. September 2019 von 20 - 21 Uhr mit US Garage & Psychedelic Sounds der Sixties!
    #8682281  | PERMALINK

    mikko
    Moderator
    Moderator / Juontaja

    Registriert seit: 15.02.2004

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    ReinoGerne auch an anderer Stelle, aber ich wüßte schon gerne, was daran „Legende“ ist. Wenn zahlreiche Sender nur die aktuellen US-Charts spielen, wird die Musikauswahl ja nun nicht primär von deutschen Hörern bestimmt. Und natürlich hat es jeder US-Charts-Titel leichter, in die deutschen Charts zu kommen, als eine hiesige Neuproduktion.

    Das war vielleicht mal so vor 40 Jahren.

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    #8682283  | PERMALINK

    Anonym
    Inaktiv

    Registriert seit: 01.01.1970

    Beiträge: 0

    tolomoquinkolom1. Was ist Pop eigentlich?
    2. Was ist Pop heute?
    3. Welche Bedeutung hat Popmusik noch?
    4. Kann Popmusik überhaupt noch Aussagen über unsere Zeit machen?
    5. Hat Pop noch politische Kraft?
    6. Wogegen grenzt sich Pop neuerdings ab?
    7. Steht Pop noch für Fortschritt oder hat er sich von der Gegenwart verabschiedet?
    8. Ist Kommerz böse?
    9. Ist Pop reaktionär?
    10. Wer macht Popmusik?
    11. Wer konsumiert Popmusik?
    12. Wie steht es mit Traditionen?
    13. Weshalb blickt Popmusik so stark in den Rückspiegel?
    14. Was bedeutet es, wenn Pop nichts Neues mehr einfällt?
    15. Hat Popmusik eine Zukunft oder nur noch Vergangenheit?
    16. Warum verzichtet Pop auf die Beute der Gegenwart?
    17. Gibt es aus dem Hamsterrad der Retro-Zyklen ein Entrinnen?
    18. Was kommt nach Pop?
    19. Weshalb schmeckt frisch gepresster Orangensaft besser, als ein Konzentrat?

    .

    1.-3. Rossi fragen.
    4. Unbedingt! Berechtigter wäre die Gegenfrage: Kann es Popmusik geben, die keine Aussagen über ihre jeweilige Zeit macht, nolens oder volens, bewusst oder unbewusst, mutwillig oder fahrlässig, mit Absicht oder aus Versehen?
    5. Seit etwa 1973 nicht mehr.
    6. Keine Ahnung.
    7. Mal so, mal so. Ich glaube nicht, dass sich Lady Gaga von der Gegenwart verabschiedet hat.
    8. Nein.
    9. Nein.
    10. Kommt darauf an, was man unter Popmusik versteht. Also: Rossi fragen.
    11. Also, das sollte Dir spätestens nach meinen Antworten auf die Fragen 1 bis 3 aber klar geworden sein!
    12. Traditionen können was Schönes sein, aber auch was Gefährliches.
    13. Weil es da derart vieles Schönes zu sehen gibt.
    14. Ich weiß nicht, ob ich Deine Annahme so pauschal überhaupt bejahen will.
    15. Ganz klar beides. Bei der Zukunft ist bloß oft das Problem, dass man sie sich nicht so genau vorstellen kann – bzw. wenn man sie sich genau vorstellt, wird so ganz anders, als man gedacht hat. Abwarten.
    16. ?
    17. Na, so schlimm ist es doch auch wieder nicht.
    18. Pop.
    19. Das ist definitiv Geschmackssache.

    Lauter interessante Fragen. Kannst Du Dir mal bitte eine oder zwei aussuchen, über die Du ausführlicher diskutieren willst? Ich fühle mich sonst etwas überfordert.

    --

    #8682285  | PERMALINK

    hal-croves
    אור

    Registriert seit: 05.09.2012

    Beiträge: 4,617

    MikkoOhne Einflüsse und fernab jeglicher zeitgenössischer Pop Musik machten The Shaggs aber auch nicht ihr Ding. Dass sie so anders klangen, lag an ihrem völligen Unvermögen, die Musik so zu spielen, wie sie es gerne gewollt hätten. Und in ihrem Dad hatten sie dann auch noch einen Produzenten, der von Pop Musik nun wirklich gar keine Vorstellung hatte.

    Die Familie war arm und lebte in einer entlegenen Gegend, mit einem gewöhnlichen Radio als einzigem Unterhaltungsgerät; keine Platten, kein Plattenspieler. Was immer an zeitgenössischem Pop die vier Mädchen erreichte, es dürfte erstens sehr wenig gewesen sein, und zweitens konnten sie es nicht konservieren.

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    "Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=
    #8682287  | PERMALINK

    nail75

    Registriert seit: 16.10.2006

    Beiträge: 45,074

    ReinoGerne auch an anderer Stelle, aber ich wüßte schon gerne, was daran „Legende“ ist. Wenn zahlreiche Sender nur die aktuellen US-Charts spielen, wird die Musikauswahl ja nun nicht primär von deutschen Hörern bestimmt.

    Ich würde mal wetten, dass du dir die Charts schon lange nicht angesehen hast. Der einzige Sender, der die US-Charts spielt, ist AFN.

    Und natürlich hat es jeder US-Charts-Titel leichter, in die deutschen Charts zu kommen, als eine hiesige Neuproduktion.

    Es kommt auf die Art der Neuproduktion an. Wenn es sich um Musik handelt, die ähnlich oder besser von Amerikanern und Engländern gemacht wird (sagen wir englischsprachiger Rock), dann hat man als Deutscher in der Tat wenig Chancen. Im Vergleich dazu hat deutschsprachige Pop- und Rockmusik weitaus bessere Möglichkeiten, vor allem weil die Plattenfirmen händeringend nach guter Musik in diesem Segment suchen.

    --

    Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.
    #8682289  | PERMALINK

    nail75

    Registriert seit: 16.10.2006

    Beiträge: 45,074

    Hal CrovesDie Familie war arm und lebte in einer entlegenen Gegend, mit einem gewöhnlichen Radio als einzigem Unterhaltungsgerät; keine Platten, kein Plattenspieler. Was immer an zeitgenössischem Pop die vier Mädchen erreichte, es dürfte erstens sehr wenig gewesen sein, und zweitens konnten sie es nicht konservieren.

    Das bezweifle ich. Wenige Leute konnten in den 1960ern Musik „konservieren“. Ein Radio genügte aber auf jeden Fall, diejenigen, die in den 1950ern und 1960ern (und davor) jung waren, haben sehr detaillierte und nachdrückliche Erinnerungen daran, dass sie stundenlang Radio gehört haben. Und die Musik der Shaggs zeigt das ja auch sehr deutlich.

    Übrigens ist Fremont, NH keineswegs abgelegen. Es kann natürlich sein, dass die Familie innerhalb des Ortes abgelegen gewohnt hat, aber das Städtchen liegt nahe bei Manchester, der größten Stadt des Staates und weniger als 1 Stunde von Boston entfernt. Außerdem ist Fremont gut an das Straßennetz angebunden und hatte damals vielleicht sogar noch eine Zuganbindung.

    Immerhin bekam man genug von der Außenwelt mit, um Platten pressen und an Radios verschicken zu lassen.

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    Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.
    #8682291  | PERMALINK

    hal-croves
    אור

    Registriert seit: 05.09.2012

    Beiträge: 4,617

    nail75Das bezweifle ich. Wenige Leute konnten in den 1960ern Musik „konservieren“. Ein Radio genügte aber auf jeden Fall, diejenigen, die in den 1950ern und 1960ern (und davor) jung waren, haben sehr detaillierte und nachdrückliche Erinnerungen daran, dass sie stundenlang Radio gehört haben. Und die Musik der Shaggs zeigt das ja auch sehr deutlich.

    Das ist richtig. Allerdings weise ich in diesem Zusammenhang noch mal darauf hin, wo die Wiggins aufgewachsen sind. Fremont, NH ist eine Gemeinde mit rund viertausend Einwohnern, zwischen den nördlichen Appalachen und dem Atlantik gelegen. Und die Wiggins versuchten sich nicht an Bluegrass. Insofern bleiben bei mir zumindest starke Zweifel, dass Pop (im Sinne von urban-industriell geprägter Nachkriegsmusik für junge Leute) in starkem Maße die vier Mädchen erreicht hat.

    EDIT: Dein Nachtrag bezüglich Fremont kam, während ich diesen Beitrag geschrieben habe. Wie Manchester, heute eine Stadt mit 100.000 Einwohnern, Ende der Sechziger Jahre ausgesehen hat, weiß ich nicht. Aber ich bezweifle, dass die Wiggin-Mädchen angesichts der Armut der Familie viel Gelegenheit hatten, aus Fremont herauszukommen. Ihr Vater war halt von der fixen Idee besessen, aus ihnen Popstars zu machen – was immer er sich darunter vorstellte.

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    "Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=
    #8682293  | PERMALINK

    nail75

    Registriert seit: 16.10.2006

    Beiträge: 45,074

    Hal CrovesDas ist richtig. Allerdings weise ich in diesem Zusammenhang noch mal darauf hin, wo die Wiggins aufgewachsen sind. Fremont (New Hampshire) ist eine Gemeinde mit rund viertausend Einwohnern, zwischen den nördlichen Appalachen und dem Atlantik gelegen. Und die Wiggins versuchten sich nicht an Bluegrass. Insofern bleiben bei mir zumindest starke Zweifel, dass Pop (im Sinne von urban-industriell geprägter Nachkriegsmusik für junge Leute) in starkem Maße die vier Mädchen erreicht hat.

    Wie gesagt: die besaßen ein Radio, das haben sie sicherlich ständig benutzt. Und die Musik deutet ja auch darauf hin. Insofern kann man nicht davon ausgehen, dass sie davon nicht beeinflusst wurden.

    Ich denke, es ist ein Fehler, Pop als „urban“ anzusehen. Die Besonderheit der Popmusik nach der British Invasion war ja gerade, dass sie über Radio und Fernsehen jeden Winkel des Landes erreichte, darunter auch Fremont, NH.
    Siehe dazu u.a. die Nuggets-Box.

    Mit Bluegrass hat New Hampshire sowieso nichts zu tun, denn die Musik kommt dorther, wo das Bluegrass wächst, also aus Kentucky und Tennessee. Diese Gebiete sind wirklich abgelegen, aber Fremont liegt nur wenige Autominuten von Manchester entfernt. Das ist so, wie wenn du jemanden, der im Odenwald wohnt, für von der Zivilisation abgeschnitten hältst. Ok, das stimmt irgendwie auch. Aber nicht vollständig. ;-)

    --

    Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.
    #8682295  | PERMALINK

    Anonym
    Inaktiv

    Registriert seit: 01.01.1970

    Beiträge: 0

    Historisch ist die Idee, dass Kunst innovativ sein sollte, meines Wissens ja ziemlich jung, zumindest hat man nicht immer so gedacht. Erst in der frühen Neuzeit machte sich die Vorstellung breit, dass der Mensch und nicht nur Gott ein Schöpfer sein könne. Davor verstanden sich die Leute, die wir heute als Künstler bezeichnen würden (zum Beispiel mittelalterliche Dichter), nicht als Schöpfer. Es konnte nur einen geben: Gott. Er hat alles gemacht. Danach: nihil novum sub sole.

    Gleichzeitig ist klar, dass wir das aus unserer heutigen Perspektive anders sehen: Natürlich war Walter von der Vogelweide ein schöpferischer und innovativer Songwriter – aber er hätte sich vermutlich selber eher nicht so gesehen.

    Ich denke, dass bei der Schaffung eines Kunstwerkes immer beide Aspekte ineinanderspielen: Traditionsbezug und individuelle Neubelebung, Stehen-auf-den-Schultern-der-alten-Riesen und Aus-dieser-gehobenen-Position-neue-Horizonte-entdecken. Alle Kunst lässt sich als Äußerungsweise begreifen, die irgendwo in der Mitte zwischen diesen beiden Polen angesiedelt ist, mal eher beim einen, mal eher beim andern.

    Sprung in die 60er-Jahre: Damals war es, glaube ich, doch wohl so, dass Popmusiker vom Selbstverständnis her einen ganz emphatischen Akzent beim Pol Neuerung setzten (verwandte Hilfsbegriffe: Aktualität, Zeitausdruck, Zeitgeistbewusstsein, Revolution) und nicht beim Pol Tradition (verwandte Hilfsbegriffe: Zeitlosigkeit, Geschichtsbewusstsein, Wertewahrung) – auch wenn selbstverständlich auch dieser Pop Traditionen aus den 20er-, 30-, 50er-Jahren, ja, aus dem 17., 18., 19. Jahrhundert aufnahm.

    Und dann ist folgendes passiert: Eben dieser Pop begann mit den Jahren eine immer längere Schleppe an eigener, an pop-immanenter Geschichte hinter sich her zu ziehen (während ich diese früheren Traditionen mal provisorisch als Vor-Geschichte bezeichne). Hinzu kam, dass diese Pop-Geschichte immer leichter medial abrufbar und erinnerbar wurde durch immer mehr Fernsehsender und dann die Digitalisierung, Internet etc pp. Es wurde immer schwerer, naiv an die eigene Innovationskraft zu glauben – was immer man an Neuem macht, irgendein Nerd kommt garantiert daher und sagt: „Klingt genau wie …“ Gleichzeitig lag es auf der Hand, sich bei dem vielen Guten aus der Vergangenheit offensiv zu bedienen. Und so kehrte das in mittelalterlichen Gottesvorstellungen wurzelnde „Nihil novum sub sole“ durch die Hintertür wieder zurück. Und Reynolds kriegt das Gefühl: Mannomann, hier tut sich ja gar nichts mehr.

    Und jetzt breche ich eine Lanze für den Begriff „Retro“ – allerdings in einer eingeschränkteren Lesart als bei Reynolds: Retro ist ein Künstler, wenn er offensiv Stilistika der Vergangenheit ausbeutet, sich vergangene Coolness- und Hipness-Codes leiht, Elemente, die irgendwann schon mal funktioniert haben und zwischenzeitlich ins Konjunkturtief geraten sind, recycelt. Ja, es ist ein wertender Begriff. Retro bezeichnet einen oberflächlichen, effekthascherischen, berechnenden Umgang mit Versatzstücken der Vergangenheit. In meiner Welt ist Lenny Kravitz tendenziell Retro, Sharon Jones dagegen eher nicht, weil sie tief in der Tradition wurzelt und Soul als ihr authentisches Ausdrucksmedium nutzt und mit Leben füllt. Retro ist sozusagen die Dekadenzform von Traditionskenntnis und Geschichtsbewusstsein, Retro hat einen zynischen Unterton.

    Ohjemine, soll ich mir das jetzt selber glauben oder hab ich mich verfranzt?

    --

    #8682297  | PERMALINK

    hal-croves
    אור

    Registriert seit: 05.09.2012

    Beiträge: 4,617

    @bullschuetz: Die grobe Argumentationslinie Deines Beitrags gefällt mir, aber im letzten Absatz verfällst Du in den weit verbreiteten Fehler, Deine subjektiv-wertende Wahrnehmung für eine „Welt“ zu halten. Du magst Sharon Jones, Lenny Kravitz dagegen weniger; und weil Du das hier im RS-Forum in höhere Weihen kleiden zu müssen glaubst, wird daraus ein vermeintlicher Unterschied in der „Tiefe“ der popkulturellen Rezeption durch die beiden, für den Du aber nichts anderes als Beleg anführen kannst als Deine Wahrnehmung. Wenn das eine Welt sein soll, ist das eine verdammt enge. ;-)

    bullschuetzRetro bezeichnet einen oberflächlichen, effekthascherischen, berechnenden Umgang mit Versatzstücken der Vergangenheit. […] Retro ist sozusagen die Dekadenzform von Traditionskenntnis und Geschichtsbewusstsein, Retro hat einen zynischen Unterton.

    Ich kenne dafür den Begriff Eklektizismus.

    --

    "Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=
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