Re: Retromania | ist Pop tot?

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Historisch ist die Idee, dass Kunst innovativ sein sollte, meines Wissens ja ziemlich jung, zumindest hat man nicht immer so gedacht. Erst in der frühen Neuzeit machte sich die Vorstellung breit, dass der Mensch und nicht nur Gott ein Schöpfer sein könne. Davor verstanden sich die Leute, die wir heute als Künstler bezeichnen würden (zum Beispiel mittelalterliche Dichter), nicht als Schöpfer. Es konnte nur einen geben: Gott. Er hat alles gemacht. Danach: nihil novum sub sole.

Gleichzeitig ist klar, dass wir das aus unserer heutigen Perspektive anders sehen: Natürlich war Walter von der Vogelweide ein schöpferischer und innovativer Songwriter – aber er hätte sich vermutlich selber eher nicht so gesehen.

Ich denke, dass bei der Schaffung eines Kunstwerkes immer beide Aspekte ineinanderspielen: Traditionsbezug und individuelle Neubelebung, Stehen-auf-den-Schultern-der-alten-Riesen und Aus-dieser-gehobenen-Position-neue-Horizonte-entdecken. Alle Kunst lässt sich als Äußerungsweise begreifen, die irgendwo in der Mitte zwischen diesen beiden Polen angesiedelt ist, mal eher beim einen, mal eher beim andern.

Sprung in die 60er-Jahre: Damals war es, glaube ich, doch wohl so, dass Popmusiker vom Selbstverständnis her einen ganz emphatischen Akzent beim Pol Neuerung setzten (verwandte Hilfsbegriffe: Aktualität, Zeitausdruck, Zeitgeistbewusstsein, Revolution) und nicht beim Pol Tradition (verwandte Hilfsbegriffe: Zeitlosigkeit, Geschichtsbewusstsein, Wertewahrung) – auch wenn selbstverständlich auch dieser Pop Traditionen aus den 20er-, 30-, 50er-Jahren, ja, aus dem 17., 18., 19. Jahrhundert aufnahm.

Und dann ist folgendes passiert: Eben dieser Pop begann mit den Jahren eine immer längere Schleppe an eigener, an pop-immanenter Geschichte hinter sich her zu ziehen (während ich diese früheren Traditionen mal provisorisch als Vor-Geschichte bezeichne). Hinzu kam, dass diese Pop-Geschichte immer leichter medial abrufbar und erinnerbar wurde durch immer mehr Fernsehsender und dann die Digitalisierung, Internet etc pp. Es wurde immer schwerer, naiv an die eigene Innovationskraft zu glauben – was immer man an Neuem macht, irgendein Nerd kommt garantiert daher und sagt: „Klingt genau wie …“ Gleichzeitig lag es auf der Hand, sich bei dem vielen Guten aus der Vergangenheit offensiv zu bedienen. Und so kehrte das in mittelalterlichen Gottesvorstellungen wurzelnde „Nihil novum sub sole“ durch die Hintertür wieder zurück. Und Reynolds kriegt das Gefühl: Mannomann, hier tut sich ja gar nichts mehr.

Und jetzt breche ich eine Lanze für den Begriff „Retro“ – allerdings in einer eingeschränkteren Lesart als bei Reynolds: Retro ist ein Künstler, wenn er offensiv Stilistika der Vergangenheit ausbeutet, sich vergangene Coolness- und Hipness-Codes leiht, Elemente, die irgendwann schon mal funktioniert haben und zwischenzeitlich ins Konjunkturtief geraten sind, recycelt. Ja, es ist ein wertender Begriff. Retro bezeichnet einen oberflächlichen, effekthascherischen, berechnenden Umgang mit Versatzstücken der Vergangenheit. In meiner Welt ist Lenny Kravitz tendenziell Retro, Sharon Jones dagegen eher nicht, weil sie tief in der Tradition wurzelt und Soul als ihr authentisches Ausdrucksmedium nutzt und mit Leben füllt. Retro ist sozusagen die Dekadenzform von Traditionskenntnis und Geschichtsbewusstsein, Retro hat einen zynischen Unterton.

Ohjemine, soll ich mir das jetzt selber glauben oder hab ich mich verfranzt?

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