Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Zürich, Tonhalle – 30.10.2023

Maurizio Pollini Klavier
Germán Toro-Pérez Klangregie (Nono)

ARNOLD SCHÖNBERG: Sechs kleine Klavierstücke op. 19
LUIGI NONO: «… sofferte onde serene …» für Klavier und Tonband

FRÉDÉRICH CHOPIN:
Mazurka c-Moll op. 56 Nr. 3
Barcarolle Fis-Dur op. 60
Scherzo Nr. 1 h-Moll op. 20
E: Polonaise Nr. 1 cis-Moll op. 26 Nr. 1 Ballade Nr. 1 g-Moll op. 23

Ein denkwürdiger Abend gestern in der Tonhalle. Nur eine gute Dreiviertelstunde Programm war angekündigt – und das warf schon die Frage auf, wie es um Pollini denn stehe, nachdem das letzte Konzert (am 26. Februar 2023) abgesagt werden musste, wo exakt dasselbe Programm angekündigt war.

Dieses mal klappte es also wieder. Leicht gebückt aber zügig lief der im Januar 81 Jahre alt gewordene Meister zum Flügel, einen grossformatigen Notenband unterm Arm – doch davor ein kleiner Lacher: der für die Tür zuständige Mann hatte diese etwas zu früh geöffnet, Pollini stand schon dahinter aber rief „un momento!“ und die Tür ging nochmal für zehn Sekunden zu. Dann setzte er sich hin und begann unverzüglich, die sechs Schönberg’schen Miniaturen zu spielen – quasi musikalische Aphorismen, streng, verknappt, und doch enorm reich – faszinierend! Gemäss dem Programmheft hatte er sie 1991 erstmals und 2019 zuletzt in der Tonhalle gespielt – ob dazwischen noch jemand diese oder andere Klaviermusik von Schönberg spielte, weiss ich leider nicht. Beim gleichen Konzert am 19. November 1991 führte Pollini auch zum bisher einzigen Mal Nonos Elegie in der Tonhalle auf.

Dann schob er unangekündigt Chopins Mazurka Op. 56/3 ein – und da nahm das zweite Drama (neben dem musikalischen) seinen Lauf: die Notenblätterin war irgendwie neben den Schuhen, immer etwas zu früh (vielleicht so, wie man’s ja im Unterricht lernt: immer einen oder zwei Takte voraus lesen), er fuhr ihr in die Hand, sprach sie an, fragte, wo er grad sei … brach ab, blätterte selbst und spielte dann die letzte Doppelseite durch. Musikalisch war das dennoch faszinierend: die Mischung aus Klarheit und Zartheit, eine grosse Wärme darin, nichts von dieser Kälte, die ihm so gerne vorgeworfen wird. Und vor allem eine andere Gewichtung der Stimmen, da wurden Bewegungen und Mittelstimmen hörbar, die selten so schön herausgearbeitet werden. Danach eilte eine Frau (seine Ehefrau, wie ich inzwischen ergoogelt hatte) nach vorn und zitierte ihn zu sich an die Bühnenkante, flüsterte mit ihm – ich tippe auf: reiss dich gefälligst etwas zusammen!

Dann kam die querformatige, riesige Partitur für Nono zum Vorschein (sowas wie A3 im Querformat) – und das Publikum schwitze schon mit der Notenblätterin, bevor es losging – sie musste die Noten nicht nur blättern sondern auch noch nach links und rechts schieben, damit Pollini in etwa gradaus gucken konnte – und er gab manchmal Zeichen, wann er geblättert haben wollte – es lief also einigermassen reibungslost . Das Ding live zu hören, wer ein echt irres Erlebnis. Eine „ergreifende Trauerarbeit“ nennt Heidi Rogge es im Programmheft, 1976 für Pollini komponiert, als dieser eins seiner Kinder – und Nono in kurzer Zeit beide Elternteile – verloren hatte. Echos, Resonanzen, Hall – ein Werk, das in seiner Differenziertheit und auch in der Art und Weise, wie das Klavier mit dem Tonband (auf dem auch – soweit ich sagen kann ausschliesslich – Klavierklänge zu hören sind) interagiert, entwickelt es einen Sog und eine kalte Wucht – es wird spürbar, wie Nono damals meinte, dass „ein harter Todeswind das unendliche Lächeln der Wellen in meiner und Pollinis Familie hinweggefegt“ habe. Bewegend, berührend, berückend, erschlagend.

Danach kam Pollini wieder hervor, hatte schon die nächsten Noten aufs Klavier gestellt … doch die Frau eilte wieder nach vorn, als er schon auf den Schemel sitzen wollte und sagte: Jetzt ist erstmal Pause. Nach der Pause gab es viermal Chopin – wobei ich leider nicht sagen kann, ob nochmal das Mazurka gespielt wurde (ich glaube nicht, die Noten waren auf einem flachgekippten Notenpult hinterm Klavier aufgelegt in der Reihenfolge, wie sie benötigt wurden, und die vom ersten Konzertteil nahmen Pollini bzw. die Notenblätterin jeweils mit nach hinten). Es gab jedenfalls einen zarten Einstieg, auf den die Beobachtungen von davor erneut zutrafen. Auch die Barcarolle begann warm und zart, doch jetzt entwickelte die Musik einen zusätzlichen Sog, der sich im ersten Scherzo weiter verdichtete. Dass manch ein Lauf nicht ganz korrekt gelang, spielte keine grosse Rolle, denn die Gestaltung der Stücke war tatsächlich bezwingend.

Und das Nebendrama mit dem Notenblättern klappte in der ganzen zweiten Hälfte perfekt. Pollini wirkte gelöst, fast heiter, gab der jungen Frau dann beim Schlussapplaus auch demonstrativ die Hand – und scheute sie davon, als sie bei der Zugabe – der ersten Polonaise – die Noten aufs Klavier legen wollte. Er spielte das Ding auswendig, erneut überzeugend und mit einer ausgetüftelten Klanggestaltung – und auch wieder mit dem einen oder andern zwischenzeitlich leicht entgleisten rasenden Lauf. Vor und nach der Zugabe stehende Ovationen – und leise der Gedanke, dass das ein Abschied sein könnte.

Es ist tatsächlich berührend, diesen einst technisch unfehlbaren Pianisten im Alter ringen zu sehen – und es bleibt, sonst sollte er ja aufhören, bereichernd, seine Sicht auf die Werke zu hören, die er auswählt (ich hatte ihn im Februar 2018 mit Chopin und Schumann gehört und dann im Februar 2022 mit Schumann und Beethovens „Hammerklavier“-Sonate wieder). So zwiespältig und dramatisch der Abend gestern war, so toxisch Pollinis Benehmen ein paar Male wirkte (sein Verhalten blieb für mich unlesbar, er hatte – ausser beim Aufgang nach der Pause und beim letzten Applaus nach der Zugabe, als er auch ungelenk winkte – das Gesicht einer Sphinx aufgesetzt, ernst und regungslos) – das war ein Erlebnis, hatte irgendwie auch etwas Heroisches. Das Beharren, das Weitermachen wollen, müssen – und dann eben auch das Anspielen gegen das Ende, den Tod, der in Schönbergs Miniaturen so präsent ist wie bei Nono.

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