Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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gypsy-tail-wind
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Mir war grad nach Schreiben … nach fast vier Stunden im sehr beeindruckenden Musée des Beaux-Arts in Lyon hatte ich gestern nur Zeit für einen kleinen Imbiss und dann musste ich schon wieder los zum Doppelkonzert am Abend. Und vorweg: das hat sich sehr gelohnt, ganz besonders der zweite Teil mit Haydn und persischer Musik. Und die Kapelle ist echt perfekt für Musik – die Seitenkapellen mit dicken Vorhängen abgeschlossen, das ganze also ein offener Raum ohne Hinter- und Nebenräume, die für zu viel Hall sorgen oder die Musik verschlucken. Zudem wie auf dem ersten Foto (die Bühne vor dem zweiten Konzert) zu sehen wirklich schön anzuschauen und auch schön beleuchtet (mit wechselnden Farben nicht nur für Rothko – da werden regelmässig Konzerte veranstaltet, man ist offensichtlich mit der üblichen Konzertsaal-Technik ausgestattet).

„Ensemble(s) en musique“ – Festival des Ensembles Vocaux et Instrumentaux Spécialisés d’Auvergne-Rhône-Alpes (FEVIS) – Lyon, Chapelle de la Trinité – 02.10.2023

19:00: Napoli! Ensemble Pulcinella / Bach-Rothko-&-Moi: Ensemble Boréades
Pulcinella: Ophélie Gaillard violoncelle, Daniel de Morais théorbe et guitare, Pascale Clément violoncelle: ORTIZ: Recuerdas 8 et 4, La Folia; FALCONIERI: La suave melodia y su corrente; SCARLATTI: Sonate n°1
Boréades: Caroline Adoumbou mezzo/La médiatrice, Anthéa Pichanick contralto/La novice, Pierre-Alain Four voix parlée/Jean-Sébastien Bach, Ophélie Gaillard violoncelle, Daniel de Morais théorbe, Laetitia Toulouse préparation et conception musicale; Texte et mise en espace: Pierre-Alain Four): BACH: Suite pour violoncelle seul et autres cantates (aus BWV 1007–1009 bzw. BWV 4, BWV 11, BWV 508 und BWV 1083)

21:00: Entre Orient et Occident: Quatuor Debussy (Christophe Collette violon, Emmanuel Bernard violon, Vincent Deprecq alto, Cédric Conchon violoncelle) + Keyvan Chemirani (santour, daf, zarb, tambourin: HAYDN: Les Sept Dernières Paroles du Christ en Croix op.51 (1785); CHEMIRANI: An Indian Way, Soudha, Grybbon

Zu Beginn von Teil eins gab es noch eine kleine Überraschung: eine Vorschau auf das Freitag erscheinende neue Doppelalbum von Ophélie Gaillards Ensemble Pulcinella, „Napoli!“, das es dann auch bereits beim CD-Stand zu kaufen gab (klar hab ich ein Exemplar mitgenommen, Aparté ist ja eins dieser Label, die nicht so guten Vertrieb haben und deren Auflagen manchmal schnell ausverkauft sind). Das war wirklich nur eine Art Spoiler, ca. zehn Minuten Musik von Diego Ortiz, Andrea Falconieri und Alessandro Scarlatti, gespielt von Gaillard mit Daniel de Morais an Theorbe und Barockgitarre sowie Pascale Clément am zweiten Cello.

Der Hauptteil bestand dann aus dem angekündigten Stück „Bach, Rothko & Moi“. Ein Sprecher (Bach), zwei Sängerinnen/Sprecherinnen (Pichanick und Adoubmou), zwei Instrumentalist*innen (erneut Gaillard und de Morais), ein etwas affektiertes Ding über zwei Frauen, die über Rothko nachdenken, während ein unsichtbarer Bach (ich sass relativ weit vorn und weiss nicht, wo im Raum er platziert war) Zwischenbemerkungen macht, kommentiert, schwadroniert, und sich für ziemlich nah an Gott hält (wie dem Programmblatt zu entnehmen war – mir sind die Feinheiten wohl zu weiten Teilen entgangen). Auf der Bühne standen fünf leere Leinwände, die mittels Scheinwerfern in unterschiedliche Farben getaucht wurden. Das war hübsch anzuschauen, funktionierte auch insgesamt recht gut, aber ich hielt mich dann doch immer wieder an der Musik fest – nicht nur am knappen Dutzend Sätze aus den Cello-Suiten (alles aus Nr. 1–3), sondern auch an den Sätzen (allesamt Duette) aus verschiedenen Kantaten (da kamen dann zum Cello dazu auch zwei Theorben zum Einsatz – einmal setzte de Morais viel zu früh ein und ich dachte erst, er dürfe auch einen Satz spielen – was ich in dem Rahmen durchaus passend gefunden hätte, war aber leider nicht der Fall). Den musikalischen Teil des Konzerts fand ich jedenfalls sehr gut, Gaillards Ton ist toll, mit einer gewissen Schärfe, aber nie dünn, ihr Spiel gefällt mir überhaupt sehr gut.

Nach einer Dreiviertelstunde Pause dann der zweite Einlass … das Prozedere war schon vor dem ersten mühsam, die Schlange schon sehr lang als ich dreissig Minuten vor Beginn kam (die Franzosen stehen gerne an … eine vom Météo in Mulhouse bestens bekannte Erfahrung – und es gibt bemerkenswert viele, die gut im Vordrängeln sind, was ich zutiefst verabscheue) und es ging kaum voran, weil das Scannen der Karten Probleme machte. Für alle, die einen schon entwerteten Abend-Pass hatten, ging es beim zweiten Mal gar nicht mehr (weil eben: schon entwertet) – aber ich hatte mir an den frechen Galliern ein Vorbild genommen und meine Tasche einfach auf dem guten Platz liegen gelassen, den ich beim ersten Konzert ergattern konnte. Und jetzt wurde es richtig gut!

Das Debussy Quartett spielte im Stehen an der Bühnenkante den Prolog zu Haydns sieben letzten Worte – der Dorn des Cellos war nicht ganz lang genug, Conchon krümmte sich daher ein wenig. Der Ansatz der vier überzeugte mich sofort, weniger an einer perfekten Klangmischung interessiert als an einem sehr lebendigen Musizieren, das oft spontan wirkte, unprätentiös – und dabei wurde immer wieder klar, dass das eben doch nur deswegen so gut funktionierte, weil die vier die Klangmischung bestens im Griff hatten. Für die Stücke mit Keyvan Chemirami setzten sich die vier jeweils hin. Im ersten spielte er die Santur, das persische Hackbrett, das Collette in seinen einleitenden Worten nach dem ersten Mal Haydn allerdings als „indisch“ präsentiert hatte; es wird gemäss Wikipedia in der irakischen, der persischen sowie der kaschmiri klassischen Musik gespielt und von letzterer aus habe es in die (hindustanische, also nord-)indische Eingang gefunden (da gab es in der Zeit der Mogulreiche ja eine Nähe zur persischen Kultur). Dieses erste Stück war wie im Programm angegeben “ An Indian Way“, , es bot Chemirami Gelegenheit, zu glänzen, das Streichquartett schlängelte sich um ihn herum, mit immer wieder wechselnden Stimmen im Vordergrund und oft mit Ostinato-Figuren oder stark rhythmisiertem Spiel vom Cello, das den Bass-Part übernahm. Mit der Zeit fand ich das Stück aber etwas lang und gleichförmig – es gab Wiederholungen, verschiedenen Teile, Schein-Enden – und ging eben doch immer wieder weiter. Dann folgte eine ganz bezaubernde Version der Sonate Nr. 5 (Adagio: Sitio/Ach mich dürstet).

Ab da klappte es dann auch, dass das Publikum nicht mehr jedes Mal dazwischenklatschte und das nächste Stück von Chemirami nahtlos folgen konnte. Er spielte in diesem – vermutlich „Soudha“, wenn die Reihenfolge im Programmheft denn stimmte – die Daf, eine Rahmentrommel, in einer Version ohne Schellenkranz (wie wir ihn von unseren Tamburinen kennen) aber mit losen Metallringen im Innern, mit denen er der Trommel eine Art Snare-Effekt entlocken konnte. Das Stück überzeugte mich nun vollends – wie alles ab hier gespielte. Das Streichquartett war viel stärker eingebunden – die Musik changierte zwischen orientalischen Grooves (ich glaube, dieses Stück war in Sieben, eins in Neun gab es auch), Drones und überaus eingängigen Melodien, die von der Vielstimmigkeit der Streicher aufgefächert wurde. Zweite Geige oder Bratsche legten auch mal Pizzicato-Rhythmen unter die Melodie, während das Cello den Bass-Part übernahm.

Es schloss gleich das nächste von Zemirami an („Grybbon“?) und er griff nun nach der Zarb (aka Dumbek, Tombak usw.), einer Becher- oder Kelchtrommel, ungefähr von der Grösse eines kleinen Hockers, über das linke Bein gelegt und – wie auch die Rahmentrommel davor, die manchmal buchstäblich in der Luft zu fliegen schien – mit beiden Händen gespielt. Durch die leichte Verstärkung konnte Zemirami auch mit den Fingern über das Fell fahren und dabei einen Klang erzeugen, der gar nicht weit von Besen auf einer Snare (mit geschlossenen Schnarrsaiten) weg war. Mit den vielen verschiedenen Tönen – darunter auch bauchig tiefe – konnte bei den beiden Stücken mit Zarb der Eindruck entstehen, dass da ein kleines Drum-Set gespielt würde. Dazwischen erklang das Largo, die vierte Sonate von Haydn („Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“) – in recht zügigem Tempo, gradaus gespielt und doch tief empfunden, mit singender erster Violine. Wie das folgende vierte Zemirami-Stück geheissen haben könnte, weiss ich nun leider nicht (wie gesagt: die Titel von Nr. 2 und Nr. 3 sind ja auch schon unklar, die standen einfach im Programmheft, nur das erste ist dank Collettes Ansage eindeutig) – es begann mit einem langen Zarb-Solo und dann stieg das Streichquartett ein, in mehreren Tempi und unterschiedlichen Ostinati aufgeschichtet, und mit sich freispielenden und dann wieder im Ensemble verschwindenden Melodien.

Haydn kehrte mit der Sonate Nr. 2 zurück, dem Grave e cantabile “ Sonata II (Grave e cantabile): „Fürwahr, ich sag es dir“ – betörend schön, und wirklich perfekt auf die Musik Zemiramis abgestimmt. Und von da ging es bruchlos in den Abschluss über: Zemirami öffnete mit einem grossen, liegenden und mit grossen Schlägeln gespielten Tamburin den letzten Satz von Haydn, „Il terremoto“, mit der Überschrift „Presto e con tutta forza“. Das Quartett liess sich nicht zweimal bitten und als Zemirami für die letzten Takte dazu stiess, war das wirklich wuchtig – und ein perfekter Abschluss eines umwerfenden Konzertes.

Eine Zugabe musste dann auch noch her – eigentlich schade in diesem Fall, fand ich. Zemirami setzte sich nochmal an die Santur und wenn ich mich nicht verhört hatte folgte ein kurzer Auszug aus „An Indian Way“. Alles in allem ein wirklich umwerfendes, hervorragend funktionierendes Konzert – nach dem durchaus hörenswerten ersten.

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 (Teil 1) - 19.12.2024 – 20:00; #159: Martial Solal (1927–2024) – 21.1., 22:00; #160: 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba