Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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gypsy-tail-wind
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Ich bin wieder daheim seit gestern Nachmittag … und es ist echt irre, was ich in den zweieinhalb Wochen alles hören (und sehen, vgl. Film-Thread) konnte. Meine Reiseroute wurde durch die drei Konzerte in diesem Post sowie die drei von und mit Eve Risser festgelegt, das Konzert oben ergab sich dann zusätzlich noch. Ein paar Zeilen zu den drei Konzerten der letzten Woche:

Beaune, Hospices/Hôtel de Dieu – 07.10.2023

La Palatine – Au fil de la nuit
Marie Theoleyre Sopran; Noémie Lenko Viola da gamba; Nicolas Wattine Theorbe, Barockgitarre, Blockflöte; Guillaume Haldenwang Cembalo

GUILLAUME CHASTILLON DE LA TOUR: Cueillant la violette / FRANçOIS RICHARD: Amarante / Manuscrit Cassel: Sarabande; Gavotte / Traditionnel du Béarn: Fillette, de l’autre rive / Man. Cassel: Bansles de Mr du Manoir / Trad. du Bourbonnais / Man: Philidor: Les nimphes de la Grenouillière / PIERRE GUÉDRON: Si tu veux apprendre les pas à danser / Man. Philidor: Les Ombres; ETIENNE MOULINIÉ: Concert de différents oyseaux / François FRANçOIS DUFAUT/Man. Cassel: Suites de trois courantes / Trad. du Béarn: Dans le tombeau, ô ma bien-aimée / DU BUISSON: Prélude / GUÉDRON: Aux plaisirs, aux délices bergères / Man. Philidor: Les Bergers / ANTOINE BOËSSET: Je voudrais bien ô Cloris + drei Chansons aus dem 20. Jahrhundert und als Zugabe nochmal Guédrons „Si tu veux apprendre les pas à danser“

Was mich hier erwarten würde, war mir überhaupt nicht klar. Ich kannte das Ensemble La Palatine nicht, muss aber demnächst mal beim Vertrieb die erste CD holen („Il n’y a pas d’amour heuruex“, Ambronay, 2022). Auf dem Programm standen airs de cour und chansons de bergères (sagt man denen so?), dazwischen instrumentale Tanzsätze (all die Stücke aus unbekannter Hand aus den Manuskripten sowie die Prélude von Du Buisson) – und drei Überraschungen, die sie einstreuen würden, wie Haldenwang in seiner längeren Ansage nach dem ersten Stück sagte.

Das Ambiente – im Armensaal des einstigen Hôtel Dieu – war sehr besonders, die Akustik für die Musik sehr gut, für die Stimme etwas hallig, doch zum Glück singt Theoleyre (diese Namen – immerhin gab’s auch im Programm einen Fehler, wo sie „Theolere“ heisst) mit grösster Klarheit, fast ohne Vibrato. Der Saal ist lang und relativ Schmal, aber ganz ohne Unterteilungen, Säulen usw. (ähnlich wie die Kapelle in Lyon also). Und der Abend war ausverkauft, es mussten Leute ohne Karten weggewiesen werden.

Eine wunderbare Stimme stand also die meiste Zeit im Zentrum, sehr warm, sehr biegsam, für die höfischen Lieder ebenso geeignet wie für die Chansons aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Für diese griff Wattine übrigens stets zur Theorbe, nicht etwa zur (kleinen) Barockgitarre. Mehrmals spielte er zudem Blockflöte (Tenor). Manche Stücke folgten nahtlos aufeinander, andere Male setzten sie etwas zu lange ab (oder mussten nachstimmen) und Applaus schob sich dazwischen. Das Programm dauerte etwa eine Stunde und alles fügte sich hervorragend zusammen – ein wunderbares Konzert.

Opéra de Dijon – 10.10.2023

La Néréide – Luzzaschi: Il concerto segreto
Julie Roset, Camille Allérat & Ana Vieira Leite Sopran; Ronan Khalil Cembalo; Gabriel Rignol Theorbe & Laute; Manon Papasergio Viola da gamba, Harfe

LUZZASCO LUZZASCHI: Non sa che sia dolore / FRANCESCA CACCINI: Le tre sirene / LUZZASCHI: Deh vieni ormai; Cor mir; Ch’io non t’amoi; T’amo mia vita; O dolcezze amarissime; Stral pugente; Aura soave / CLAUDIO MONTEVERDI: Come dolce hoggi l’auretta / LUZZASCHI: Troppo ben può / LUCA MARENZIO: Belle ne fe natura / LUZZASCHI: O Primavera / CACCINI: Le 3 Damigelle / LUZZASCHI: Io mi son giovninetta; Occhi del piano mio / CACCINI: Coro delle piante incantate

Ein paar Tage später, am Dienstag – dem Tag, an dem in Dijon fast alles geschlossen hat – gab es in der alten Oper (fast wäre ich zum neuen Konzertsaal am Rand des Stadtzentrums spaziert) ein Konzert mit Musik des „concerto delle dame“ in Ferrara. Drei Sängerinnen und Instrumentalistinnen waren es, die unter der Leitung von Lorenzo Luzzaschi (er spielte Cembalo, die drei Sängerinnen die Harfe, die Laute und die Gambe) exklusiv für den Fürst Alfonso II. d’Este auftrat – und manchmal für dessen Gäste. Erst 1601 wurde ein Teil der „geheimen“ Musik erstmals publiziert, und La Néréïde haben auf ihrem ersten Album, im September bei Ricercar erschienen, einen neuen Anlauf genommen, diese Stücke zu präsentieren (mein Favorit ist wohl die Einspielung auf Zig Zag unter Denis Raisin Dadre von 2007, es gibt auch eine von La Venexiana auf Glossa von 2009 – beide und auch die neue von La Néréïde sind sehr gut).

In solche Gesangsmusik für mehrere Sopranstimmen am Übergang von der Renaissance zum Barock habe ich mich relativ früh in meinen Klassik-Erkundungen ziemlich heftig verliebt – zu meiner eigenen Überraschung, mag ich anfügen. Vor den Stücken Luzzaschis waren es besonders Kantaten von Luigi Rossi („Canterine Romane“ von Tragicomedia unter Stephen Stubbs – immer noch eine heiss geliebte Einspielung). Das Konzert von La Néréïde war die erste Gelegenheit, dass ich so etwas auch mal live hören konnte. Und das war wie erhofft sehr, sehr schön. Die Instrumentalbegleitung blieb hier mehr im Hintergrund (eben: die Sängerinnen begleiteten sich damals selbst), da und dort eine kurze kantable Linie der Gambe, sonst dienten die Instrumente wirklich eher dem Auffüllen der Akkorde und der farblichen Ergänzung des Cembalos, das den Hauptteil der Begleitung stemmte, aber auch mal für eine Strophe aussetzte.

Die drei Sängerinnen gefielen mir sehr gut. Julie Roset ist mir als einzige schon mehrfach begegnet und überzeugte mich auch live am meisten. Camille Allérat (noch gar nie gehört) und Ana Vieira Leite (auf einer relativ neuen Fiocco-Einspielung bei Ramée zum bisher einzigen Mal gehört) waren aber ebenfalls sehr gut. Einzig das Austarieren der drei Stimmen – sie sangen auch selten einzeln und öfter in allen möglichen Zweierkombinationen – gelang live nicht immer so perfekt wie auf der CD. Über fünf Viertelstunden wurde das da und dort etwas eintönig, weil die Stimmen und die Musik halt auch dann ähnlich blieben, wenn sie anders kombiniert wurden – und der Wechsel von Harfe zu Gambe machte auch nicht den grossen Unterschied. Dennoch: allen in allem wunderbar!

Philharmonie de Paris, Grande Salle Pierre Boulez – 13.10.2023

Ensemble Intercontemporain
Odile Auboin
Viola
Orchestre du Conservatoire de Paris
Pierre Bleuse
Leitung

GÉRARD GRISEY: Les Espaces acoustiques

Der krönende Abschluss dann am Freitag im grossen Boulez-Saal der Pariser Philharmonie. Dieser Saal ist das Herzstück der Cité de la Musique am Boulevard périphérique (der sich in der Aussenhaut ziemlich toll spiegelt – erst beim Näherkommen war klar, was das für Lichteffekte sind, die man dort sieht) und wurde im Januar 2015 eröffnet. Ohne den Architekten Jean Nouvel, der sich nach den üblichen Kostenexplosionen, Geschachern, Anpassungen, Prozessen etc. schon vor Fertigstellung distanziert hatte. Der Saal bietet für 2400 Menschen Platz – und blieb bei dem Programm wie erwartet halb leer. Wir hatten perfekte Plätze mit gutem Blick auf die Bühne (nur die Hammondorgel und die hintersten beiden Violinen konnten wir nicht sehen) – und waren allesamt (meine Eltern kamen mit) schwer beeindruckt. Das einzige kleinere Problem: die relative Enge und Intimität des Saals – die maximale Distanz zwischen Publikum und Dirigentenpult beträgt laut Wiki 32 Meter, das ist für so einen riesigen Saal echt beeindruckend – , seine völlig offene Form, führt dazu, dass jeder Huster (und es gab leider viele) und jedes Geraschel ebenfalls ungedämpft im ganzen Saal zu hören ist.

Auboin öffnete im Kegel eines Scheinwerfers, der Rest des Saals abgedunkelt. Immer wieder spielte sie die gleichen Linien, variierte sie, wechselte zur nächsten, kehrte zurück, brach plötzlich aus und war unversehens wieder bei diesen ewig gleichen Linien. Der Aufbau des Werkes klang für meine Ohren über die ganzen ca. 100 Minuten stringent und nachvollziehbar – ohne dass Grisey dabei übliche Muster von An- und Abschwellen oder von Spannung und Lösung/Entspannung nutzen würde. Es ist wahnsinnig viel los in diesen sechs Stücken – von denen ich vor einigen Jahren in Turin „Modulations“ unter Metzmacher gehört hatte, meine allererste Grisey-Begegnung, eingebettet in eine sehr logische Rückwärtschronologie mit dem zweiten Violinkonzert des Grisey-Schülers Magnus Lindberg und zum Schluss dann „Amériques“ von Varèse. Die Klangwelt ist enorm reich, die ganzen „erweiterten“ Spieltechniken sorgen dafür ebenso wie die grosse Besetzung, in der Akkordeon, Kontrafagott, Saxophone, Klavier, Celesta, Hammond-Orgel, E-Gitarre und eine grosse Schlagzeugbatterie (inkl. Vibraphon und Marimba, die wie die Gitarre auch mal mit einem Geigenbogen gespielt werden) gefragt sind.

Wie Bleuse das leitete (ab Teil 2) und wie – in den Teilen vier bis sechs – das sehr junge Konservatoriumsorchester (mit einzelnen Mitgliedern des Ensemble intercontemporain in seinen Reihen) das spielte, war gleichermassen beeindruckend. Sehr locker wirkte das und doch sehr fokussiert. Der Zyklus kommt nicht ganz ohne Slapstick aus und das konnte in dem besonderen Saal auch gut inszeniert werden. Dadurch, dass es keine Pause gab, nur einen kurzen grossen Personalwechsel nach dem dritten Teil (davor sassen 19 Musiker*innen – im Dunkeln, wenn sie nicht spielten – auf der Bühne, der Klarinettist von Teil 2 pausierte in Teil 3 und blieb sitzen für Teile 4-6) wurde der doppelte verhinderte Beckenschlag (am Ende von Teil 3 und am Anfang von Teil 4) quasi auf zwei Minuten eingedampft – doch als er dann einiges später (in Teil 5 glaube ich?) stattfindet, ging kurz das Licht aus, bis auf einen Scheinwerfer auf den Schlagzeuger. Die Solo-Bratschistin kehrte für den Schluss auf dem Balkon hinter dem Orchester zurück (in der Besetzung von Teilen 4-6 war sie sonst nicht dabei) … und die vier Hornsolisten im Epilog waren Jean-Christophe Vervoitte, Pierre Rémondière, Jean-Noël Weller und Arthur Régis dit Duchaussay.

Ein unvergessliches Konzert, das mich völlig plättete … und meine Eltern auch, was mich enorm freute. Dem alten Herrn sagt solche Musik sonst sehr wenig, aber auch er war fasziniert. Und wie oft ich noch die Gelegenheit zu solchen gemeinsamen Unternehmungen habe, steht in den Sternen – jedenfalls kaum je wieder ausserhalb von Zürich und Umgebung.

PS: falls ich mich je umbenennen sollte, möchte ich einen bretonischen Namen und so ein „dit“ haben … und ich glaube, das Konzert wurde aufgezeichnet – wer weiss, ob’s davon vielleicht dereinst sogar mal eine Veröffentlichung geben wird.

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 (Teil 1) - 19.12.2024 – 20:00; #159: Martial Solal (1927–2024) – 21.1., 22:00; #160: 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba