Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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gypsy-tail-wind
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Zürich, Tonhalle – 15.09.2023

Tonhalle-Orchester Zürich
Paavo Järvi
Music Director
Kian Soltani Violoncello

ROBERT SCHUMANN Cellokonzert a-Moll op. 129
Zugabe: SCHUMANN Abendlied (Cello und Orchester)

ANTON BRUCKNER Sinfonie Nr. 9 d-Moll

Saisonauftakt in der Tonhalle – Abschlüsse und Neuanfänge, Entdeckungen und Wiederbegegnungen … Schumanns Cellokonzert habe ich zum ersten Mal gehört. Kian Soltani, der diese Saison in der Reihe „Im Fokus“ läuft (zusammen mit der Organistin Iveta Alpakna – das heisst aber einfach drei, vier Auftritte inkl. Kammermusik – und wenn ich die Liste der Fokus-Künstler*innen seit 2019 durchgucke, blieb davon gar nichts hängen, viele – nicht zuletzt Olli Mustonen – hatte ich gar nie gehört) war der Solist und wusste zu überzeugen, gerade auch im Zusammenspiel mit Rafael Rosenfeld, der den Cello-Solo-Part im Orchester einnahm. Das war eine sehr bewegliche Interpretation, orchestral und doch mit Raum für den Solisten, straff geführt und doch oft im Gestus kammermusikalisch klingend – letzteres zweifelsfrei etwas, was Järvis Approach auszeichnet: da wird geführt, aber auch gefordert. Die Musiker*innen blicken nach vorn, aber hören sich eben auch zu (und blicken sich auffällig oft an beim Spielen).

Nach der Pause folgte der Abschluss des Bruckner-Zyklus … und nachdem ich gerade mit Blomstedt Nr. 7 wiedergehört hatte und auf CD die Nr. 8 der Tonhalle, passte das perfekt. Es war erschütternd, manches gehämmert, wahnsinnig intensiv, für die Tonhalle da und dort fast etwas zu laut, aber eben auch mit grossen Bögen, auch dynamischen. Töne aus dem Nichts aufsteigend, der Torso am Ende ins Nichts verschwindend. Buchstäblich dem Tod abgerungen, das bei diesem Werk für einmal soweit mit bekannt wirklich kleine Plattitüde ist. Im Programmheft – das bei besonderen Gelegenheiten, wie der Saisonstart natürlich eine ist, auch noch gedruckt ausgehändigt wird, findet sich eine Liste aus dem Archiv mit dem bis Ende der 90er handschriftlich geführten Bogen der Aufführungen des Werks. Nach der Premiere 1907 folgten bis 1951 diverse weitere Aufführungen unter dem langjährigen Leiter Volkmar Andrae, dazwichen 1949 eine unter Schuricht, danach u.a. jeweils eine unter Bruno Walter, Hans Rosbaud, erneut Schuricht, und auch eine unter dem späteren Chefdirigenten „Rudi“ (sic) Kempe (der in Zürich wie mir zu Ohren kam sehr beliebt gewesen sei), eine mitSolti und dem Chicago Symphony Orchestra (1985) usw., und im Februar 1996 gleich vier am Stück unter Herbert Blomstedt (der zuletzt im Juni Bruckners Nr. 5 dirigiert hatte).

Dass der VR-Präsident der Tonhalle-Gesellschaft, Alt-Stadtrat Martin Vollenwyder, sowie die Intendantin Ilona Schmiel zur Begrüssung ein paar Worte sagten, die hart am Kalauer vorbeischrammten, war angesichts des Gebotenen zu Verschmerzen. Mit Seitenblick auf Luzerns diesjähriges Motto „Paradies“ meinten sie, hier hätten wir die ganze Saison Paradies … und das stimmt ja auch tatsächlich, das Orchester klingt wirklich hervorragend, es zu hören ist jedes Mal eine Freude. Allerdings bin ich bei diesem (dritte von drei Aufführungen) wie beim zweiten Konzert (zweite von zwei, die dritte fand tags drauf als Gastspiel im Tessin statt) über die vielen leeren Plätze erstaunt gewesen.

Hier als Einschub noch der Link zu den Zeilen über die wunderbare Sonntagsmatinée vom 17.09.2023 mit zwei südafrikanischen Jazzmusikern (McCoy Mrubata und Paul Hanmer), dem aus Südafrika stammenden Solo-Klarinettisten des Orchesters der Oper Zürich (Robert Pickup) und einem Streichquartett von ebendort:
http://forum.rollingstone.de/foren/topic/2022-jazzgigs-konzerte-festivals/page/3/#post-12155983

Zürich, Tonhalle – 21.09.2023

Tonhalle-Orchester Zürich
Paavo Järvi
Music Director
Olli Mustonen Klavier

LUDWIG VAN BEETHOVEN:
Ouvertüre «Die Weihe des Hauses» C-Dur op. 124
Klavierkonzert D-Dur op. 61a (nach dem Violinkonzert op. 61)

Ludwig van Beethoven Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 36

In Woche zwei dann gleich die nächste Runde mit Järvi am Pult. Er dirigiert ziemlich viel hier, dünkt mich – und das ist gut so! Die nächsten Konzerte im Oktober verpasse ich (je eine Aufführung mit Bruce Liu mit Chopins ersten Klavierkonzert und Beethoven 5 bzw. Bomsori Kim mit Nielsen und Brahms 1, da gibt es dann wieder die „Weihe des Hauses“ zum Einstieg – Nielsen verpassen ist natürlich bedauerlich, aber ich bin in den Ferien), im Dezember ist er dann mit Wayne Marshall (org/p) zurück und darauf freue ich mich schon (ein neues Stück vom diesjährigen Creative Chair Bryce Dessner, Gershwins Konzert in F, eine Orgel-Improvisation von Marshall und dann Rachmaninoffs Symphonische Tänze).

Programm Nummer zwei gehörte also ganz Beethoven – und das war hier nicht der grosse Titan sondern ein suchender, unendlich ideenreicher Musiker – dessen Ideen manchmal schier unzumutbar wirkten. Die grosse Ouvertüre hatte ich so richtig aufmerksam noch nie angehört – ein ziemlich tolles, durchaus pompöses („festlich“ sagt man dazu wohl?) Stück mit ein paar interessanten Entwicklungslinien. Danach der Main Event: Olli Mustonen war in der Pandemie so ein „Fokus“-Künstler hier, aber eben: gehört hatte ich ihn damals nicht. Ich hatte eigentlich ein Kurzkonzert besuchen wollen, im Herbst 2020, als es damals noch in der Tonhalle-Maag 40minütige Konzerte gab, bei denen das Publikum im Schachbrettmuster sitzend in Sektoren eingeteilt wurde. Mustonen sagte ab – und zu unser aller Glück sprang Lars Vogt ein und spielte das vierte Klavierkonzert von Beethoven – mein letztes (leider nur zweites) Konzert von ihm, und es war umwerfend gut.

Dieses Mal war Mustonen also da und spielte auch wirklich die von Beethoven selbst eingerichtete Klavierfassung des Violinkonzerts, die manchmal als Klavierkonzert Nr. 6 zirkuliert. Das Orchester wurde dazu verkleinert, aber auch so schien das Klavier öfter vom Orchester verschluckt zu werden, als das bei der Geige der Fall wäre. Doch gehörte die enge Anbindung von Solopart und Orchester zur Faszination der grandiosen Aufführung dazu. Der Effekt war schon irre, diese ganzen Linien und Melodien – angereichert durch Akkorde natürlich, Beethoven wusste, was er tat – aus den Tasten zu hören. Die Lage oft nicht optimal sondern eher zu hoch, wo das Instrument (ein Steinway) eher etwas dünn und spitz klingt … welche Schnellfingrigkeit da vonnöten ist, welche unfassbare Präzision noch in den irrsten Tempi, in den längsten Läufen. Und wie scheinbar völlig entspannt Mustonen das hinzauberte (sich dann aber den Schweiss aus dem Gesicht wischte). Wirklich umwerfend und enorm beeindruckend, weit übers reine Virtuosentum hinaus. Mustonen spielte dann nach – trotz des zu einem Drittel leeren Saal riesigen Applauses – eine Solo-Zugabe, bei der ich auf eine Scarlatti-Sonate tippe, ohne das zu wissen. Jedenfalls spielte er auch das nicht mit herkömmlich schwerem Klavieransatz sondern leicht, knackig kurz – und erneut umwerfend.

Nach der Pause dann Nr. 2 von Beethoven, nach dem oben schon beschriebenen Järvi-Muster: straff geleitet, aber auch federnd (es gibt manchmal Momente, in denen er auf dem Podium fast zu tanzen anfängt), flexibel (den Stab klappt er auch mittendrin mal nach hinten und dirigiert nur mit den Händen), und dennoch auch ein hörendes Miteinander fordernd, ein waches Orchester, dessen Musiker*innen nicht nur auf den Dirigenten achten sonder auch einander gut zuhören. In Beethovens zweiter gibt es im zweiten Satz glaub ich diesen Moment, in dem ein kleines schlängelndes Streicher-Motiv sich aus dem Orchester befreit und empor steigt – das ist so ein Moment, mit dem mich jedes Mal hat.

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 (Teil 1) - 19.12.2024 – 20:00; #159: Martial Solal (1927–2024) – 21.1., 22:00; #160: 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba