jazz in den 1990ern

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  • #11857271  | PERMALINK

    vorgarten

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    ginger baker trio, going back home (1994)

    ich glaube, ich mag frisell am liebsten, wenn er über einer eigenständig rollenden rhythm section spielt, seine vielen verschiedenen sounds erforscht, sie verdichtet und dabei einfach mitschwingt. nirgends gelingt das so gut wie hier. ob das ein jazzalbum ist? ginger bakers rumpel-drums, hauptsächlich über die toms in bewegung gehalten, mit vielen fills, schwer, dicht, haben eine klare rock-dna. andererseits swingen sie. die paarung mit charlie haden ist ein match made in heaven, dazu kommt frisell in einer von chip stern arrangierten ehe, in der baker zuvor weder mit bassist noch mit gitarrist vertraut war. was frisell hier hinbekommt, ist tatsächlich unglaublich, fast jede figur in einem anderen sound, das muss schlimm ausgesehen haben, mehr auf pedalen herumtretend als tatsächlich spielend, aber wenn man das hört, fließt das so organisch zusammen, verbindet sich dabei so mühelos und wach mit den impulsen der beiden anderen, das mir das oft wie ein wunder erscheint – jedenfalls von keinem anderen gitarristen spielbar ist. das material ist schöne playing-grundlage, ornette coleman, monk, ein schöner kleiner blues, aber vor allem bakers eigene kompositionen sind toll, eigenartig folkloristisch, aber keine americana. höhepunkt in unter 3 minuten, mit einem der tollsten frisell-soli ever, ist für mich das hier:

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    #11857313  | PERMALINK

    friedrich

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    vorgarten
    ginger baker trio, going back home (1994)
    ich glaube, ich mag frisell am liebsten, wenn er über einer eigenständig rollenden rhythm section spielt, seine vielen verschiedenen sounds erforscht, sie verdichtet und dabei einfach mitschwingt. nirgends gelingt das so gut wie hier. ob das ein jazzalbum ist? (…) was frisell hier hinbekommt, ist tatsächlich unglaublich, fast jede figur in einem anderen sound, das muss schlimm ausgesehen haben, mehr auf pedalen herumtretend als tatsächlich spielend, aber wenn man das hört, fließt das so organisch zusammen, verbindet sich dabei so mühelos und wach mit den impulsen der beiden anderen, das mir das oft wie ein wunder erscheint – jedenfalls von keinem anderen gitarristen spielbar ist. (…)

    Super!

    Die Antwort auf die Frage, ob das Jazz ist, können ruhig wir Wynton Marsalis überlassen, aber eigentlich kann uns das auch egal sein. Es ist jedenfalls toll improvisiert und swingt wie Hölle!

    BF hatte ja auch einige Aufnahmen mit eigenem Trio gemacht, von denen ich aber nur einige kenne, z.B. die Buster Keaton-Soundtracks, aber es gibt da wohl auch „jazzigeres“. Und natürlich gibt es das Trio mit Motian und Lovano. Offenbar ist BF oft „jazziger“ wenn er selbst nicht der leader ist.

    Irgendwie bin ich ja Bill Frisell-Fan. Aus den 90ern kenne / habe ich von ihm außerdem die genannten Buster Keaton-Soundtracks (’95), Quartet (’96), Nashville (’97) und Good Dog, Happy Man (’99). Jeweils völlig unterschiedliche Musik und gleichzeitig einzigartig! Wenn man Aufnahmen als sideman mit dazu nimmt (Naked City!), wird es noch bunter und in den 00er Jahren geht das lustig weiter.

    --

    „Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)
    #11857787  | PERMALINK

    friedrich

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    Mit Paul Motian möchte ich auch noch kurz dieses Album streifen:

    Keith Jarrett, Gary Peacock, Paul Motian – At The Deer Head Inn (1992/94)

    Ich habe von At The Deer Head Inn hier schon mal ausführlich geschwärmt.

    Sicher gibt es Keith Jarrett Trio-Alben, die künstlerisch wertvoller sind und die auf einem höheren Sockel stehen.

    Mir liegt Deer Head Inn aber persönlich sehr am Herzen. Zum einen habe ich das Album mal in einem kleinen Berliner Plattenladen für umsonst erbeutet. Auf dem Verkaufstresen lagen einige Exemplare davon, ohne Plastikbox und die CDs selber ohne Aufdruck. Promo-Exemplare? Mängelexemplare wegen der unbedruckten CD? Keine Ahnung, aber als vorurteilsbehafteter Keith Jarrett-Skeptiker griff ich unter diesen Umständen einfach mal zu und hatte damit meine Erstbegegnung mit Jarrett.

    Zum anderen hört man Jarrett, Peacock und Motian hier in sehr entspannter Umgebung. Kein Konzerthaus in einer Weltstadt, kein legendärer Jazzclub in New York, keine heilige Halle, sondern sozusagen Jarrett in seiner Stammkneipe, wo er mal ohne Druck und hohe Erwartungshaltung an einen Jazz-Superstar spielen kann. Ein field recording, wenn man so will.

    Als jemanden, dem das Verhältnis von Musik zu Bild viel bedeutet, finde ich auch das Coverfoto toll. Romantisch, geheimnisvoll, verwunschen, ein magischer Ort an dem zu einem magischen Zeitpunkt dieses Konzert eingefangen wurde – while (almost) no one was listening.

    Foto von David W. Coulter, einem lokalen Fotografen aus Henryville, PA, der ansonsten seinen Lebensunterhalt mit Fotos von Hochzeiten, Interieurs und für Marketing bestreitet.

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    „Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)
    #11857791  | PERMALINK

    soulpope
    "Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"

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    friedrich  Keith Jarrett, Gary Peacock, Paul Motian – At The Deer Head Inn (1992/94) …. Als jemanden, dem das Verhältnis von Musik zu Bild viel bedeutet, finde ich auch das Coverfoto toll. Romantisch, geheimnisvoll, verwunschen, ein magischer Ort an dem zu einem magischen Zeitpunkt dieses Konzert eingefangen wurde – while (almost) no one was listening. Foto von David W. Coulter, einem lokalen Fotografen aus Henryville, PA, der ansonsten seinen Lebensunterhalt mit Fotos von Hochzeiten, Interieurs und für Marketing bestreitet.

    Ja, die Photographie hat durchaus was …

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      "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
    #11857899  | PERMALINK

    vorgarten

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    friedrich

    Keith Jarrett, Gary Peacock, Paul Motian – At The Deer Head Inn (1992/94)
    Ich habe von At The Deer Head Inn hier schon mal ausführlich geschwärmt.
    Sicher gibt es Keith Jarrett Trio-Alben, die künstlerisch wertvoller sind und die auf einem höheren Sockel stehen.

    bei mir ist diese aufnahme auch sehr weit oben im jarrett-ranking. ich dachte immer, das liegt nur an der abwechslung (motian statt dejohnette), aber da passieren so viele schöne dinge – wie du sie ja auch beschrieben hast – , dazu der sound, die atmosphäre, der andere swing…

    ich habe kürzlich diese aufnahme aus den 1990ern entdeckt:

    gibt es auch auf dvd, in japan, aber auch bei ecm (mit dem 1996er „live-in-tokyo“-auftritt kombiniert). da deutet sich schon die blue-note-box an, aber das schöne ist, dass ich das hinterher auch ansehen konnte – u.a. dieses highlight:

    wie sich die soli hier abwechseln, ohne dass die sich überhaupt anschauen müssen, als wären sie direkt sinnlich verschaltet – bei mir öffnen sich da nochmal neue perspektiven auf jarrett.

    --

    #11858145  | PERMALINK

    friedrich

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    vorgartenbei mir ist diese aufnahme auch sehr weit oben im jarrett-ranking. ich dachte immer, das liegt nur an der abwechslung (motian statt dejohnette), aber da passieren so viele schöne dinge – wie du sie ja auch beschrieben hast – , dazu der sound, die atmosphäre, der andere swing…

    ich habe kürzlich diese aufnahme aus den 1990ern entdeckt:

    gibt es auch auf dvd, in japan, aber auch bei ecm (mit dem 1996er „live-in-tokyo“-auftritt kombiniert). da deutet sich schon die blue-note-box an, aber das schöne ist, dass ich das hinterher auch ansehen konnte – u.a. dieses highlight:
    (…)
    wie sich die soli hier abwechseln, ohne dass die sich überhaupt anschauen müssen, als wären sie direkt sinnlich verschaltet – bei mir öffnen sich da nochmal neue perspektiven auf jarrett.

    Wie bei einer perfekt eingespielten Fußballmannschaft, deren Spieler die Laufwege ihrer Mannschaftskameraden kennen und den Ball diagonal übers Spielfeld, scheinbar ins Leere passen, wo ein Mitspieler erst im Augenblick des Abspiels hinläuft und mit einer einzigen Ballberührung die völlig überraschte gegnerische Abwehr und den Torwart überrumpelt. Erst in der nachfolgenden Zeitlupe begreift man, was da geschah. Gibt es aber nur sehr selten.

    Im Video im Hintergrund eine Achterbahn und ein Riesenrad. Eigenartig.

    Eigentlich müsste hier auch die 94er Aufnahme At The Blue Note (Prädikat: „besonders wertvoll“) erwähnt werden. Davon habe ich aber nur die „Single-Auskopplung“ und die auch erst seit kurzem.

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    „Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)
    #11866953  | PERMALINK

    friedrich

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    Bevor ich mich am Wochenende für eine Woche an die Ostsee verabschiede hier noch zwei jazzige Fußnoten der 90er Jahre:

    Joey Baron – Tongue in Groove (1991)

    Joey Baron lief uns hier bereits mehrmals über den Weg als Sideman von Dave Douglas, Uri Caine und Bill Frisell. Und er wird uns noch ein paar mal mehr über den Weg laufen. Hier aber Joey Baron als Bandleader. Besetzung: Joey Baron – drums, Steve Swell – Trombone, Ellery Eskelin – Tenor Sax. All acoustic, all life, no mix, no edit steht im Booklet. Das klingt wie eine Mischung aus Brass Band und Ornette Coleman im Kinderzimmer, aber total kompakt und präzise, es wird richtig auf die Pauke gehauen und Dampf gemacht. Und dann schmuggelt Baron unter seine Originalkompositionen auch zwei Standards (Shadow Of Your Smile und I Want A Little Girl), wo es fast sentimental wird.

    Habe ich jahrelang nicht gehört und ist auch wirklich nichts für alle Tage. Aber ich möchte darauf mit seiner Originalität, seiner Direktheit und seinem Witz nicht verzichten.

    Medeski Martin And Wood – Shack-man (1996)

    Auch dies ist ein Trio, aber ganz anders, Besetzung Keyboards, Bass und Drums. Aufgenommen in einer Hütte auf Hawaii – daher der Titel des Albums. Und auch dies klingt reduziert, wie erst im Entstehen, noch ein bisschen unfertig. Manchmal nur ganz einfache Riffs und grooves. Wie Demoaufnahmen, bei denen später noch etwas ergänzt werden soll. An einer Stelle dachte ich: Das klingt fast wie ein Outtake von On The Corner!

    Ich kenne mehrere Alben von MMW (habe aber nur zwei davon) und irgendwie ist mir Shack-man das liebste. Das ist einfach, spontan und entspannt, lässt vieles offen und damit Raum für Phantasie und macht Spaß. Haben MMW auf späteren, sicher aufwändiger produzierten Alben, nie mehr so hingekriegt. Oft sind die Skizzen ja lebhafter als das fertige Bild.

    Hier der On The Corner-Outtake (ab ca 1:35, oder?), noch ohne Miles‘ Trompete ;-) :

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    „Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)
    #11876355  | PERMALINK

    friedrich

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    The Lounge Lizards – Queen Of All Ears (1998)

    Die Lounge Lizards waren ja sooo was von 80er, als sie 1981 ihr Debut veröffentlichten, diese Mischung aus stylischem Retro-Jazz und Noise. Ich habe die LL nicht kontinuierlich mitverfolgt, sondern kenne neben dem Debut nur noch Big Heart (1986) und dann dieses, ihr letztes Album von 1998. Insgesamt haben sie aber auch keine besonders umfangreiche Diskografie.

    Queen Of All Ears bietet weniger Nostalgie, weniger Noise, dafür umso mehr Komplexität und Raffinesse, verwobene Gruppenarrangements mit John Luries Alt-Sax im Vordergrund. Ausschließlich Eigenkompositionen, zwei Stücke überschreiten die 10-Minutenmarke und die Besetzung ist auf Nonett-Größe angewachsen – einschließlich Jane Scarpantino am Cello und unserem alten Bekannten Steven Bernstein an der Trompete.

    Kein Schema Thema–Bridge–Solo–Thema … , kaum mal ein durchgehender Swing, stattdessen große Spannungsbögen, manchmal abrupte Stimmungswechsel von dramatisch über unheimlich bis albern und wieder zurück. Das Stück Scary Children könnte aus einem Horrorfilm-Soundtrack, She Drove Me Mad aus einem Film Noir stammen. Wie der Film zu dem Stück John Zorn’s S&M Circus aussehen könnte, bleibt der Phantasie überlassen. Und das alles mit dem LL-typischen, etwas gegen den Strich gebürsteten Schneid. Kein leichter Stoff aber spannend und lohnend. Richtig gute Platte!

    Das Cover zeigt ein etwas albernes Gemälde von John Lurie. Einen Zusammenhang mit der Musik erkenne ich nicht. Die Platte hätte da etwas angemesseneres verdient. Queen … erschien 1998 wegen juristischer Probleme mit 2 Jahren Verspätung auf John Luries eigenem Label. War nur als Import erhältlich und ist out of print. Sachen gibt’s!

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    „Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)
    #11876437  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Das ist das eine LL-Album, das ich wirklich liebe :good:

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 (Teil 1) - 19.12.2024 – 20:00; #159: Martial Solal (1927–2024) – 21.1., 22:00; #160: 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #11877011  | PERMALINK

    friedrich

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    @gypsy-tail-windDas ist das eine LL-Album, das ich wirklich liebe

    Das ist schön!

    Ist auch eine wirklich gute Platte. Beim Wiederhören war ich erstaunt und beeindruckt, was für einen langen Weg die LL vom 81er Debüt bis zu diesem 98er Album gegangen sind und was für eine Entwicklung sie (bzw. John Lurie und sein Bruder Evan) durchgemacht haben.

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    „Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)
    #11877023  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Ja, die Gruppe hat sich sehr gewandelt … ich hatte vor knapp 20 Jahren mal eine Phase, in der ich recht vieles hörte (auch Live-Aufnahmen). Aber momentan habe ich leider null Plan, wo die CDs sind (ich hab noch die zwei „Live in Berlin“ [beide als Vol. 1 angeschrieben :wacko: ] … und vom Debut mindestens eine Kopie). Sowas kommt und geht halt auch wieder vorbei. Aber diese späte(n) Besetzung(en) mit Steven Bernstein, Michael Blake, Bryan Carrott, G. Calvin Weston usw. mochte ich tatsächlich sehr, sehr gerne. Wenn mir die CDs in die Hände fallen, höre ich sie mal wieder an.

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    #11877031  | PERMALINK

    friedrich

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    gypsy-tail-wind(…) Aber momentan habe ich leider null Plan, wo die CDs sind (…) Wenn mir die CDs in die Hände fallen, höre ich sie mal wieder an.

    Die beste Bibliothek nützt wenig, wenn sie nicht geordnet und katalogisiert ist. ;-)

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    „Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)
    #11877033  | PERMALINK

    friedrich

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    Die Frage „Ist das Jazz?“ erübrigt sich, denn manchmal stellt sich hier eher die Frage „Ist das Musik?“

    Naked City (1990)

    Auf dem Debut von Naked City treffen sich auf zwei LP-Seiten Batman, Ennio Morricone, Ornette Coleman, der Sänger … äh: Vokalist der Noise-Band The Boredoms Yamatsuka Eye und viele andere mehr. Abrupte Stil- und Stimmungswechsel teilweise innerhalb eines einzigen Stücks, es wird lustig zwischen Easy Listening und Noise Metal hin und her gesprungen, manches klingt wie Surfrock, anders wie der Soundtrack zu einem Gangsterfilm. Am Anfang von LP-Seite 2 werden 8 Stücke in weniger als 3 Minuten runtergerissen, der kürzeste Track überhaupt, Hammerhead, ist 8 Sekunden Kreischen, der längste ist mit 4:23 min eine traumhaft schwebende Version von Jerry Goldsmiths Chinatown.

    Haarsträubendes cut-up, aufeinander prallende Gegensätze, alles super-präzise und bissig gespielt. Mal kreischt John Zorns Alt-sax, mal singst es zart-bitter, Bill Frisells Gitarre jault, Joey Barons drums scheinen sich selbst zu überschlagen und Yamatsukas Eyes Stimmbänder bestehen offenbar aus unter Hochspannung stehendem Draht. Nichts für schwache Nerven!

    Coverfoto von Weegee (Corpse with revolver, 1942). Der Bandname Naked City stammt von einem Fotoband von Weegee, der wiederum als Vorlage für einen Spielfilm diente. Passt: Reißerisch, voyeuristisch, man weiß nicht, ob man lieber hin- oder wegschauen soll. Bzw. in diesem Fall: Hören.

    Naked City – Radio (1993)

    Ähnliches Spiel, aber hier ausschließlich Eigenkompositionen von John Zorn. Und die Gesamtdramaturgie ist anders: Das fängt – für Naked City Verhältnisse – relativ konventionell an mit einigen straight gespielten rockigen Tracks, nimmt aber im Verlauf mehr und mehr schizophrene und hyperaktive Züge an, wenn sich – wie im Booklet ausführlich aufgeführt – Einflüsse von Charles Mingus, The Meters, Stravinsky, Liberace, Led Zep, Cartoon-Soundtracks, Morton Feldman und, und, und … da rein mischen und alles am Ende in dem Stück American Psycho eskaliert. Wahnsinnig spannend und kaum auszuhalten.

    Coverfoto: Ich hätte gewettet Robert Mapplethorpe. Aber falsch! Das ist von Man Ray. Und auch das passt: Vielleicht ist Naked City komprimierter musikalischer Surrealismus.

    Besetzung bei beiden Alben: John Zorn (a-sax + voc), Bill Frisell (git), Wayne Horvitz (keys), Fred Frith (b), Joey Baron (dr), Yamatsuka Eye (voc). Hört sich so an, als übertreffen sich hier alle selbst. Und Bill Frisell wurde hier von John Zorn wohl über sein Grenzen hinaus getrieben.

    Ach ja, hierfür muss auch Zeit sein ;-) :

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    „Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)
    #11880379  | PERMALINK

    friedrich

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    Weiter geht’s mit meiner völlig unrepräsentativen Auswahl von Jazzplatten der 90er, die bei mir im Regal stehen.

    Wie kriege ich jetzt raffiniert den Dreh von John Zorn/Naked City zu Terence Blanchard? Vielleicht so: Bei Naked City gibt es den Bezug zu Film im Gebrauch von Schnitt, Atmosphäre und Dramaturgie. Terence Blanchard wiederum hat ein ganzes Album gemacht, auf dem er sich ausschließlich der Musik aus Filmen widmet. Und sowohl Naked City als auch Terence Blanchard spielen das Thema des Films Chinatown von Jerry Goldsmith. Aber da hören die Gemeinsamkeiten fast schon auf. Umso interessanter sind die Unterschiede.

    Terence Blanchard – Jazz In Film (1999)

    Der Titel sagt’s: Hier geht es um Filmmusik, die sich Jazz als Stilmittel bedient. Naheliegend ist natürlich Ellingtons Anatomy of a Murder, Elmer Bernstein setzt bei The Man With The Golden Arm eine Big Band ein, bei Bernard Hermanns Taxi Driver oder eben Jerry Goldsmiths Chinatown ist Jazz aber eher nur eine Inspiration. Da gibt es ein Saxofon- oder ein Trompeten-Solo, es wird eine schummrige Atmosphäre erzeugt, irgendwie film noir, irgendwie nostalgisch. Jazz als Image, ansonsten hängt der Himmel voller Geigen.

    Terence Blanchard – der btw selbst auch einige Filmmusiken komponiert hat – dreht das um, indem er die musikalischen Themen dieser Soundtracks in Jazz zurückübersetzt und in typischer Jazz-Combo-Besetzung spielt, tr, p, b, dr, ergänzt mit sax, trb und Streichern. Am Anfang der Stücke wird durch das prägnante Motiv/Thema, untermalt mit Streichern, die Atmosphäre des Films heraufbeschworen, von da an folgt das aber den Regeln eines Jazzstücks: Thema, Solo, Solo, Thema … Durch die Combo-Besetzung hat das nicht soviel Dampf und Drama wie z.B. die Big Band bei The Man With The Golden Arm hat. Dafür hat es aber etwas anderes zu bieten. Ist das gut? Ist das schlecht? Kommt drauf an, aus welcher Perspektive man es hört. Willst du dramatische Filmusik? Dann bist du hier nicht ganz richtig. Willst du eine raffinierte und elegante, etwas nostalgische, fast klassizistische Jazzplatte mit einprägsamen Themen, voller Atmosphäre und schönen Solos? Brillant gespielt und aufgenommen? Dann ist Jazz In Film genau das Richtige!

    Apropos Solo: Auf 5 der 9 Stücke ist Joe Henderson am Tenor-Sax zu hören.

    Nur mal zum Vergleich: Elmer Bernsteins Original (von Shorty Rodgers mit Shelly Manne) und Terence Blanchards Version von The Man With The Golden Arm:


    oder hier Chinatown:


    Die Version von Naked City hatte ich schon im vorherigen Beitrag gepostet.

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    #11885997  | PERMALINK

    friedrich

    Registriert seit: 28.06.2008

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    Ich höre mich mal weiter durch meine 90er Bestände – einer muss es ja tun. ;-) Hier ein Musiker, der tatsächlich in den 90ern erstmals auf der Szene erschien. Das Album mag nicht besonders repräsentativ sein, aber es ist das einzige von James Carter, das ich habe.

    James Carter – The Real Quietstorm (1995)

    Titel und Cover sagen es schon: Es wird schmusig! JC spielt hier vor allem Balladen und Bluesiges, insgesamt neun Stücke, davon 7 Titel von u.a. Monk, Sun Ra (!), Don Byas, Ellington und Jackie McLean, dazu 2 Eigenkompositionen. Ein ganz schön breites Spektrum also, das aber nur mit Ellingtons Stevedore’s Serenade und Don Byas’ 1944 Stomp etwas Fahrt aufnimmt. Für Abwechslung ist aber gesorgt, da JC hier mit Bariton-, Tenor-, Alt-, und Sopransaxofon, Bassklarinette und Bassflöte antritt.

    Musik fürs candlelight dinner? Nicht ganz, denn James Carter spielt sich zu sehr in den Vordergrund, als dass sich das als reine Hintergrundmusik eignen würde. Virtuos, gefühlvoll, manchmal melodramatisch, auch mal zupackend, manchmal etwas dick aufgetragen. Und er kann offenbar alles abrufen, was ein halbes Jahrhundert Jazzgeschichte hergibt. Man fühlt sich abwechselnd in eine Bar in Kansas City der 30er, in einen Jazzclub im Harlem der 40er, in ein Etablissement in Chicago in den 50ern und ich weiß nicht wo und wann versetzt – aber immer nach Mitternacht. Man kann sich dabei fragen: Wer ist das eigentlich, dieser James Carter? Er kann ja offensichtlich in jede beliebige Rolle schlüpfen. Ist mal Ben Webster, mal Gene Ammons oder jemand anderes und immer auch ein bisschen Rahsaan Roland Kirk. Denn neben der Beherrschung all dieser Stile und Instrumente (wenn auch nicht gleichzeitig) bietet JC auch einige Akrobatik, z.B. wenn er einen Ton scheinbar endlos dehnt, bis man sagen möchte: „Toll machst du das, James, aber jetzt lass mal gut sein!“ Ein Showman, der alle seine Tricks zeigen will. Auf diese Show muss man sich halt einlassen.

    Als sidemen u.a. Craig Taborn (p), Dave Holland (b) und die beiden ungewöhnlichen drummer Leon Parker und Tani Tabbal.

    Hatte die Platte laaange nicht gehört und sie lag auch schon auf dem „Kann das weg?“-Stapel. Gestern Abend hat das Hören aber Spaß gemacht. Kann erstmal bleiben!

    Hier das Sun Ra-Stück:

    Hier das Original aus den späten 50ern:

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    „Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)
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