Steven Bernstein

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    friedrich

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    In meinen Blind Fold Test hatte ich einige Aufnahmen eingebaut, an denen der Trompeter Steven Bernstein beteiligt war, darunter ein Stück von seinem Album DIASPORA HOLLYWOOD. Zu behaupten, dass Bernstein auf vielen verschiedenen Hochzeiten tanzt, wäre stark untertrieben. Seine Website listet weit mehr als 100 Alben auf, an denen er in der einen oder anderen Weise beteiligt war, darunter Aufnahmen mit den Lounge Lizards, dem ex-The Band-Drummer Levon Helm, dem musikalischen enfant terrible J.G. Thirlwell alias Foetus alias Steroid Maximus und diverse Filmmusiken. Vieles davon kann man wohl Jazz nennen, vieles aber auch nicht. Außerdem ist er Leader der zwei Bands Sex Mob und Millennial Territory Orchestra. Ich kenne nur einen winzigen Bruchteil dieser Aufnahmen und kann daher darüber nur soviel sagen, dass sie offenbar – wen wundert’s? – sehr unterschiedlich sind.

    Als Leader unter eigenem Namen hat Steven Bernstein aber bislang nur 4 Alben gemacht, alle mit dem Wort DIASPORA im Titel, alle mit einem gemeinsamen übergreifenden Thema und alle für das Label Tzadik. Von diesen 4 kenne ich immerhin 3. Diese drei sind gut bis sehr gut und in jedem Fall hörenswert.

    DIASPORA SOUL (1999) ist das erste dieser Alben. Laut der von SB selbst verfassten liner notes hatte John Zorn ihn schon einige Jahre zuvor um eine Platte für seine Reihe RADICAL JEWISH CULTURE gebeten, eine Aufforderung, mit der Bernstein zunächst nicht viel anfangen konnte, da er zwar a) jüdisch ist und seine Musik daher irgendwie auch immer jüdisch, er aber b) bis dahin Musik gespielt hatte, die sich eigentlich nicht zuvorderst aus einer wie auch immer gearteten jüdischen Tradition speiste. Ein Paradoxon, das meines Wissens 3 Jahre lang mehrere vergebliche Versuche SBs nach sich zog, Zorns Wunsch zu erfüllen, bis DIASPORA SOUL endlich Wirklichkeit wurde. Man kann nicht sagen, dass das Paradoxon, das Bernstein solches Kopfzerbrechen bereitete, auf dem Album aufgelöst wurde. Im Gegenteil, und das ist gut so.

    Auf DIASPORA SOUL verbindet Steven Bernstein traditionelle jüdische Melodien sowohl sakraler als auch profaner Herkunft mit einer Besetzung aus mehreren Bläsern nach Vorbild einer Brass Band und einer Rhythm Section aus Wurlitzer E-Piano oder Orgel, Bass, Drums und zwei latino Perkussionisten, die lustigerweise alle beide Rodriguez mit Nachnamen heißen. Das liest sich albern. Es klingt jedoch alles andere als das.

    An nur zwei Tagen, sehr einfach und direkt aufgenommen – die Tracks 1-5 laut credits im Wohnzimmer des Bassisten Tony Scherr – wird Bernstein auf etwa der Hälfte der Aufnahmen von Paul Shapiro am Tenorsax unterstützt, auf dem Rest kommen noch zwei weitere Tenöre und zeitweise ein Bariton hinzu. Michael Blake, Peter Apfelbaum und Briggan Kraus nennen sich die Beteiligten. Die Rhythm Section (außer den beiden Rodriguez‘, Brian Mitchell an Wurlitzer und Organ und Tony Scherr, Bass) spielt gelassen, cool und understated, also keine Spur von lateinamerikanscher Aufgeregtheit und im Hintergrund prägt der warme Klang des E-Pianos den Sound. Die immer etwas melancholisch wirkenden Melodien verbinden sich mit dem schleppenden, langsam pulsierenden Groove in einer scheinbaren Selbstverständlichkeit, als hätte diese Band noch nie im Leben etwas anderes gespielt. Wohl aufgrund ihrer folkloristschen Natur gehen die Melodien leicht ins Ohr, haben aber gleichzeitig genug Tiefe, so dass sie sich dort festsetzen. Nur manchmal wird ein wenig Tempo aufgenommen – richtig schnell wird es aber eigentlich nie – aber gerade dadurch kriecht DIAPORA SOUL langsam unter die Haut. Der Titel des Albums spielt darauf an: DIASPORA SOUL hat eine Ausstrahlung wie eine alte Soulplatte, warm, irgendwie vertraut klingend, obwohl man in diesem Fall nicht so recht weiß, woher eigentlich. Für den Jazz-Freund gibt es natürlich auch ein paar Soli, vor allem von Steven Bernstein, mit seinem hier immer melancholischen, sehr gesangsartigen Ton, aber entscheidend ist auf DIASPORA SOUL das Ensemble. Ganz am Ende gibt es gewissermaßen als Nachspann eine Dub-Version eines Stückes (DYBBUK DUB), also einen raffiniert durch das Mischpult geschleusten Mix, in dem die Rhythm Tracks mit Hall und Echo versehen werden und die Bläser nur noch als geheimnisvolle dunkle Wolken vorüber ziehen. Sehr atmosphärisch, ein schöner Abschluss von DIASPORA SOUL, der mich wünschen lässt, das ganze Album würde auch noch in einer kompletten Dub-Version existieren.

    Wahrscheinlich aufgrund der gelungenen Aufnahme von DIASPORA SOUL hat Steven Bernstein eine (bislang) vierteilige Serie mit dem Titel DIASPORA … aufgenommen, auf der er traditionelle jüdische Melodien in verschiedene Kontexte setzt. Ich kenne außer DIASPORA SOUL noch Teil 3 und 4 (DIASPORA HOLLYWOOD und DIASPORA SUITE). Beide auch sehr gut, wenngleich DIASPORA SOUL für mich das Flaggschiff bleibt.

    Mazel Tov!

    http://www.youtube.com/watch?v=Ny6PEQEkIFE

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    #8321893  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    ich hab hier soeben eine seeeeehr lange Antwort verloren (vermutlich wegen Arte-Video… wollte ein Millennial Territory Konzert öffnen dort… dankeschön).

    vielleicht ein andermal.

    für jetzt nur den Hinweis auf Paul Shapiros grossartiges Album „It’s in the Twilight“.

    --

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    #8321895  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Mein verlorener Post enthielt v.a. eine Eloge auf die Big Four: Max Nagl, Steven Bernstein, Noël Akchoté und Bradley Jones. Weil ich die letzten Tage viele hatOLOGY CDs gehört habe, sind mir auch die wieder in den Player gekommen… sehr schöne Musik, die allerdings erst bei wiederholtem und genauen Hören ihren Zauber entfacht.

    Und hier gibt’s das Konzert des Millennial Territory Orchestra am Newport Jazz Festival 2009:
    http://www.npr.org/templates/story/story.php?storyId=111691187
    Die angegebene Setlist ist glaub ich nur teils korrekt (auf „St. Louis Blues“ folgt der „Rusty Dusty Blues“ von Buster Smith, dann erneut „St. Louis Blues“, gefolgt von „Darling Nikki“ von Prince und „The Boy in the Boat“). Die Mitspieler sind Doug Wieselman, Peter Apfelbaum, Erik Lawrence, Clark Gayton, Charles Burnham, Matt Munisteri, Ben Allison und Ben Perowsky – bei ca. 18:20 oder so nennt Bernstein alle Musiker.

    Was natürlich auch noch gesagt werden muss: Bernstein spielt eine Zugtrompete, ein relativ seltenes Instrument, von dem es anscheinend diverse Versionen gibt, die etwa in der Renaissance-Musik oder bei Maynard Ferguson auftauchen und teils als Sopran-Posaunen sind… (die Stimmlage ist dieselbe, soweit ich weiss).

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    #8321897  | PERMALINK

    friedrich

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    gypsy tail windich hab hier soeben eine seeeeehr lange Antwort verloren …

    Der Datenschutzbeauftragte empfiehlt: Umfangreichere Posts am besten in Word verfassen und dann mit copy-paste ins Forum einfügen. Das ist entspannter und schützt vor ungewolltem Datenverlust. ;-)

    Für jetzt nur den Hinweis auf Paul Shapiros grossartiges Album „It’s in the Twilight“.

    Danke, das sieht interessant aus. Scheint in eine ähnliche Richtung zu gehen wie DIASPORA SOUL. Über die beiden anderen mir bekannten DIASPORA Alben schreibe ich beizeiten auch noch gerne was.

    gypsy tail wind
    Was natürlich auch noch gesagt werden muss: Bernstein spielt eine Zugtrompete, ein relativ seltenes Instrument, von dem es anscheinend diverse Versionen gibt, die etwa in der Renaissance-Musik oder bei Maynard Ferguson auftauchen und teils als Sopran-Posaunen sind… (die Stimmlage ist dieselbe, soweit ich weiss).

    Stimmt, er spielt Zugtrompete. In den credits der DIASPORA SERIES werden jedoch nur explizit „trumpet“ und „flugelhorn“ aufgeführt. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob in diesem Fall Zugtrompete einfach unter „trumpet“ fällt, oder ob da tatsächlich unterschieden wird. Ist aber auch nicht so wichtig, klingt so oder so sehr gut!

    Ich kenne von Bernstein auch noch zwei Alben seiner Band Sex Mob, die mir aber bei aller Spaßigkeit nicht besonders gefallen. Mit dem Millenial Territory Orchestra spielt er meines Wissens vor allem Soul/Funk-Cover. Das letzte Album ist wohl eine Sly Stone-Hommage.

    Die Sex Mob-Alben klingen für mein Empfinden auch völlig anders als die DIASPORA-Sachen. Sex Mob ist wirklich albern, während DIASPORA sehr nachdenklich, melancholisch und warm klingt, wenn auch nicht ohne einen unterschwelligen Humor. Zwei völlig verschiedene Dinge, auch wenn sie vom gleichen Musiker stammen. Wie gesagt: Steven Bernstein tanzt auf sehr vielen Hochzeiten.

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    #8321899  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Bernstein tanzt eben vor allem – ich glaub das ist das übergreifende Element bei ihm. Ellington machte ja auch oder (auch) Tanzmusik, und da fängt’s bei Bernstein gewissermassen an. Von da weiter zu Bar Mitzvahs, Freilachs, zur Salsa und zum Funk, und für einen Abstecher nach New Orleans ist auch immer noch Zeit…

    Sex Mob ist nicht einfach eine postmoderne Nonsens-Band, auch wenn das manchmal so scheinen mag (das einzige Album, das ich von ihnen kenne, aber nicht besitze, liess mich auch solches Vermuten). Sex Mob ist tief in Ellington drin, macht filmische Musik in Suitenform, in der durchaus Raum für Ernsthaftigkeit ist – so erlebte ich es jedenfalls im Konzert in Köln und auch in einigen ROIOs (falls Du Interesse hast, ich hab da einiges, auch – gestern grad auf einer externen HD gesehen – eine Live-Version von Diaspora #4, mehr gerne per PN). Wenn daneben mit Nino Rota geschäkert wird oder mit John Barry geliebäugelt wird, dann bietet das für Bernstein und seine Hawara die willkommene Gelegenheit, ihrem Temperament freien Lauf zu lassen (und gerade im Fall von Altsaxophonist Briggan Krauss will das auch was heissen – wilde, noten- und gestenreiche Ausbrüche, die soweit ich weiss nicht nur für mich sondern auch für redbeans zu den eindrücklichsten Momenten des Kölner Konzertes gehörten).

    Shapiro hat zwei Alben in identischer Besetzung aufgenommen, „Midnight Minyan“ und das meiner Ansicht nach noch etwas bessere „It’s in the Twilight“ (schon der öffnende Romp durch „Light Rolls Away the Darkness“, ein Traditional, haut mich noch immer, auch nach Jahren, jedes Mal um). Shapiro scheint seit über zwei Jahrzehnten im Geschäft zu sein, spielt auf jeder Hochzeit (buchstäblich, und wohl vornehmlich jüdisch) und ist mit Funk und Soul grossgeworden – was wohl bei Bernstein nicht anders ist (ich glaub die beiden kennen sich seit ihrer Jugend). Peter Apfelbaum wirkt als dritter Bläser mit (wie Shapiro nur auf dem Tenor – Bernstein gibt in den Kommentaren zu „Diaspora Soul“ ja Hinweise auf die Solisten, ich hab auch noch nie richtig versucht, Apfelbaums Beiträge zu den Shapiro-Alben rauszuhören). Shapiros drittes Tzadik-Album trägt den Titel „Essen“ und war glaub ich Anlass fürs Interview mit ihm, das ich im Sterne-Thread verlinkt und zitiert habe – ich kenne die Scheibe nicht, Bernstein ist dort nur noch als Gast gelistet bei Allmusic… muss sie mir mal besorgen!

    Die beiden grandiosen Alben von Roberto Rodriguez erwähne ich hier jetzt nur einfach so… da kommt dann die kubanische Diaspora noch mit dazu und es spielen Sidemen wie Matt Darriau, David Krakauer, Apfelbaum, Mark Feldman, Jane Scarpantoni oder Craig Taborn mit. Mehr dazu im Tzadik-Thread, den redbeans mal eröffnen sollte ;-)

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    #8321901  | PERMALINK

    friedrich

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    gypsy tail windBernstein tanzt eben vor allem – ich glaub das ist das übergreifende Element bei ihm. Ellington machte ja auch oder (auch) Tanzmusik, und da fängt’s bei Bernstein gewissermassen an. Von da weiter zu Bar Mitzvahs, Freilachs, zur Salsa und zum Funk, und für einen Abstecher nach New Orleans ist auch immer noch Zeit…

    Das ist sehr schön formuliert oder interpretiert: Steven Bernstein tanzt!

    Meines Wissens kommt er tatsächlich von R&B, Soul und Funk her. Das hat er schon in seiner Schulzeit gehört und gespielt, denn das war einfach die Musik, die damals „around“ war. Er kommt daher wohl auch deswegen immer mal wieder darauf zurück. Im Booklet zu Teil 4 der DIASPORA-Serie, DIASPORA SUITE, ist ein – den Frisuren der dort zu sehenden Kids nach zu urteilen – offensichtlich aus den 70er Jahren stammendes Foto einer Schülerband abgebildet, zu der wohl auch Steven Bernstein gehörte. DIASPORA SUITE ist dann auch ein „Jazz Fusion“ Album und SB beschreibt es in den Liner Notes als „a tribute to the music I grew up with“.

    gypsy tail windSex Mob ist nicht einfach eine postmoderne Nonsens-Band, auch wenn das manchmal so scheinen mag (das einzige Album, das ich von ihnen kenne, aber nicht besitze, liess mich auch solches Vermuten). Sex Mob ist tief in Ellington drin, macht filmische Musik in Suitenform, in der durchaus Raum für Ernsthaftigkeit ist – so erlebte ich es jedenfalls im Konzert in Köln…

    Ich habe Sex Mob mal bei meinem ersten und bislang einzigen New York Aufenthalt im Tonic gesehen. Lang ist’s her, das World Trade Center stand noch … Studentisches Publikum, man schwatzte und trank, wer hungrig war, konnte am Tresen für eine handvoll Dollar einen (zu lasch gewürzten) Eintopf bekommen und außerdem spielte noch eine Jazz Band Popsongs. Der Bandleader scherzte mit dem Publikum und jeder ließ es sich auf seine Art gut gehen. That’s entertainment und das ist auch gut so! In anderem Kontext funktioniert diese Musik sicher anders und dass da auch ein intellektueller Spaß mit dabei ist glaube ich sofort.

    gypsy tail wind… und war glaub ich Anlass fürs Interview mit ihm, das ich im Sterne-Thread verlinkt und zitiert habe – …

    Sehr interessant! Auch er erwähnt da ja seine Herkunft vom R&B, die traditionellen jüdischen Melodien, mit denen er ebenfalls aufgewachsen ist und das Geldverdienen als Musiker, indem man auch auf Partys und in Restaurants spielt oder Session Jobs annimmt.

    gypsy tail windMehr dazu im Tzadik-Thread, den redbeans mal eröffnen sollte ;-)

    Das findet meine vollste Unterstützung!

    PS.: Das Wort „Hawara“ musste ich erstmal googeln. Dachte zuerst, das ist hebräisch. Aber der Nahe Osten fängt ja auch schon gleich hinterm Wienerwald an. ;-)

    PPS.: Danke für das Angebot über weiteres DIASPORA-Aufnahmen. meine Aufnahmefähigkeit ist gegenwärtig leider etwas erschöpft. Vielleicht komme ich später noch mal darauf zurück.

    --

    „Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)
    #8321903  | PERMALINK

    friedrich

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    Ich mache mal weiter mit meinem Versuch als Goi über jüdische Musik zu schreiben. ;-)

    Mir fällt noch eine weitere Beschreibung für DIASPORA SOUL ein: Die Musik hat etwas von Gospel. Eigentlich ein sehr nahe liegender Vergleich, aber gerade das nahe liegende fällt einem ja manchmal nicht ein.

    Steven Bernstein hat nach DIASPORA SOUL im Jahr 2002 ein Sequel mit dem Titel DIASPORA BLUES veröffentlicht. Auch hier verarbeitet er traditionelle jüdische Melodien, diesmal aber begleitet vom Sam Rivers Trio. Da die einschlägigen Reviews dieser Platte eher durchwachsen ausfielen, habe ich mich nie so recht dafür interessiert und kenne sie bis heute nicht. Habe dann auch ein wenig das Interesse an Steven Bernstein verloren. Vielleicht kann jemand anderes was dazu sagen.

    Zwei Jahre darauf folgte aber mit DIASPORA HOLLYWOOD der dritte Teil dieser Serie. Diese Platte habe ich erst vor kurzem entdeckt. Jüdische Melodien sind auch hier die Konstante, aber Besetzung und Arrangements unterscheiden sich gegenüber den Vorgängern. Wie der Titel schon andeutet, orientiert sich Steven Bernstein hier am West Coast-Jazz der 50er und 60er.

    Es gibt dafür (mindestens) ein Vorbild in Form von Shelly Mannes STEPS TO THE DESERT von 1962. Shelly Manne nahm sich damals ein paar im weitesten Sinne jüdische Melodien, darunter einige Traditionals, aber auch die Titelmusik des Filmes EXODUS, arrangierte diese aber weitgehend in einem für die damalige Zeit konventionellen West Coast –Stil. Amüsante Platte.

    Steven Bernstein geht jedoch etwas anders vor. Zwar nennt er als Inspiration auch Shelly Manne und Shorty Rogers (geb. Milton Rajonsky) und andere jüdische Musiker und Arrangeure, die in den 50ern an der West Coast gearbeitet haben. Er imitiert aber nicht den West Coast–Stil dieser Zeit. Die Besetzung mit Steven Bernstein (tp, flh), Pablo Calogero (bar-sax, b-cl, fl), D.J. Bonebrake (vib), David Pitch (b) und Danny Frankell (dr, perc) liest sich zwar erst mal so, als hätte man es mit einer Mischung aus Chet Baker mit Gerry Mulligan oder einer Band von Cal Tjader zu tun. Die Arrangements unterscheiden sich aber deutlich von dem, was man gemeinhin unter West Coast versteht. Es gibt nicht die Duette wie bei Baker/Mulligan, nicht die verwobenen Klangfarben, wie bei z.B. Shelly Manne & His Men und auch die Latino-Affinität von Cal Tjader kommt hier nur ansatzweise vor. Bariton-Sax und -Klarinette und Vibraphon werden eher als ornamentale Klangfarben eingesetzt, oder treten gelegentlich mal als Soloinstrumente hervor.

    Hat Steven Bernstein mit DIASPORA HOLLYWOOD also sein Ziel verfehlt? Jein!

    gypsy stellte bereits sehr richtig fest: Diese Musik klingt nicht kühl, was oft und gerne mit West Coast assoziiert wird. Es gibt zwar auch die Gelassenheit und das understatement des West Coast Jazz, aber gepaart mit Wärme und einer tiefen Melancholie, die manchmal etwas Unheimliches, film noir-esques hat. Nicht von ungefähr heißt wohl ein Stück MEYER LANSKY, nach dem legendären Boss der Kosher Nostra. Manchmal erinnnert die Musik an ASCENSEUR POUR L’ECHAFAUD von Miles. Gelegentlich gibt es aber auch ein paar Ausbrüche freierer Improvisation, ein paar expressive Spitzen, die für mich in diesem Zusammenhang jedoch etwas irritierend wirken. Das Stück KING KONG ist fast Free Jazz. Vielleicht ist das aber auch die Würze auf dieser Platte, die ansonsten fast schwebend dahin gleitet und durch die Art der Harmonien und den Einsatz der Perkussion etwas Orientalisches bekommt. Steven Bernstein scheint den West Coast-Jazz eher als Ausgangspunkt als als Ziel begriffen zu haben. Wahrscheinlich wäre es für ihn ein leichtes gewesen, diesen Stil einfach zu imitieren. Zum Glück hat er sich für etwas anderes entschieden. So wird DIASPORA HOLLYWOOD zu einer Musik, die zwar einen Bezugspunkt im West Coast hat, aber deren Herkunft aus anderer Richtung immer präsent bleibt und die damit ihre Souveränität behauptet. Dieses Spannungsverhältnis macht die Platte umso reizvoller. Eigentlich ist das etwas, das offenbar die gesamte DIAPORA SERIES durchzieht.

    DIASPORA HOLLYWOOD geht nicht ganz so leicht ins Ohr wie DIASPORA SOUL. Bei letzterer ist der groove wohl das Schmiermittel, das die Platte sehr leicht zugänglich macht. DIASPORA HOLLYWOOD hat nicht ganz die Geschlossenheit von DIASPORA SOUL und hält auch nicht immer durchgängig deren Niveau. Da hängt die Latte aber auch extrem hoch und insofern wäre es überheblich, sich darüber zu beschweren. Die Qualität von DIASPORA HOLLYWOOD liegt in meinen Ohren in der Eigenständigkeit dieser Platte. Mit den jüdischen Melodien gibt es auch hier zwar den gemeinsamen Bezugspunkt der DIASPORA SERIES, die anderen Parameter werden aber verschoben, so dass DIASPORA HOLLYWOOD an einer ganz anderen Stelle des gleichen Spektrums angesiedelt ist. Sehr schöne Platte. Wem DIASPORA SOUL gefallen hat, der kann hier noch einiges anderes entdecken.

    Wer fühlen will, muss hören: http://www.youtube.com/watch?v=9K4yHfuX_gg

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    „Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)
    #8321905  | PERMALINK

    friedrich

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    So, jetzt habe ich wortreich und verschwurbelt versucht DIASPORA HOLLYWOOD zu beschreiben und verstehe am Ende selber nicht mehr so ganz, was ich eigentlich sagen wollte. Versuchen wir mal es ein wenig einzudampfen: Jüdische Melodien und West Coast Jazz „rub shoulders“ auf DIASPORA HOLLYWOOD. Sie drehen ein gemeinsames Tänzchen miteinander, es werden ein paar Tanzschritte der einen Kultur zu Melodien der anderen Kultur ausgeführt, so richtig vermischen will man sich dann aber doch nicht. Man hat einen kleinen Flirt miteinander, geht danach aber wieder seiner Wege und hält sich lieber an seine eigenen Leute. Ein kleines Abenteuer, sehr reizvoll zwar, das aber nicht von Dauer sein kann.

    Ich frage mich eigentlich, warum Steven Bernstein in der DIASPORA SERIES Ur-ur-altes (traditionelle jüdische Melodien) mit mindestens Ur-altem (z.B. West Coast Jazz) zusammenbringt. Aber vielleicht kann einem das auch herzlich schnuppe sein, wenn das Ergebnis so gut klingt.

    DIASPORA SUITE von 2008 ist der vierte und (bislang?) letzte Teil der DIASPORA SERIES. Die Platte ist die einzige dieser Serie, auf der es ausschließlich Originalkompositionen von Steven Bernstein gibt, die sich aber harmonisch auch aus der traditionellen jüdischen Musik speisen. Die Besetzung besteht hier aus vier Bläsern (tp, tb, ts + fl, cl+ b-cl), 3 x E-Gitarre, E-Bass, Percussion und Drums. Man ahnt es bereits: DIASPORA SUITE ist eine Electric Jazz Platte mit deutlichem Funk-Einschlag. Die Musik hört sich so an als würde der elektrische Miles Davis der 70er Jahre, dem Gil Evans bei ein paar Bläserarrangements noch mal unter die Arme gegriffen hat, in einer Synagoge in Andalusien spielen. Die Bezeichnung als „Suite“ erklärt sich aus den Titeln der 12 Stücke, die nach den biblischen Oberhäuptern der 12 Stämme Israels benannt sind. Die erkennbare Sinnhaftigkeit der Titel kann ich nicht beurteilen. In jedem Fall bilden sie aber einen sehr spannungsvollen Bogen, der von fast tanzbar über verträumt und geheimnisvoll bis zu dunkel und unheimlich reicht.

    Mit dem Funk greift Steven Bernstein wohl die Musik wieder auf, die er schon als Heranwachsender gehört und gespielt hat. Mit einigen der beteiligten Musiker hat er auch schon in seiner Schulzeit zusammengespielt. Im Booklet ist jedenfalls das Foto einer Schülerband von 1973 abgebildet, das einen damals noch langhaarigen Steven Bernstein mit seinen auch auf der DIASPORA SUITE beteiligten Bandkollegen Peter Apfelbaum und Jeff Cressman zeigt. In sofern wird auf DIASPORA SUITE Traditionspflege in gleich zweifacher Hinsicht betrieben. Großartige Platte, die mit DIASPORA SOUL und DIASPORA HOLLYWOOD ein sehr schönes Dreigestirn bildet.

    ZEBULON: http://www.youtube.com/watch?v=krbjnDfpi3Q

    Das ist im Wesentlichen das, was ich von Steven Bernstein kenne. Zu anderem müssen andere was erzählen. Aber diese drei Alben sind aus meiner Sicht absolut zu empfehlen.

    --

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    #8321907  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Ich glaube, wenn Du von „Originalkompositionen von Steven Bernstein gibt, die sich aber harmonisch auch aus der traditionellen jüdischen Musik speisen“ sprichst, ist das nicht ganz korrekt, weil die jüdische Musik meines Wissen (ausschliesslich?) auf Tonleitern (Skalen) beruht… also quasi modale Musik ist (wie im übrigen auch die klassische indische Musik). Ich bin mir da aber nicht sicher, sicher jedoch bin ich mir, dass man „harmonisch“ auf keinen Fall im Sinne der westlichen Funktionsharmonik verstehen darf (auf der auch der grosse Teil des Jazz bis Ende der 50er Jahre beruht).

    Das ist eine Fachsimpelei und für die meisten Leute wohl nichts als eine Nebensächlichkeit.

    Du machst mir auch auf Album #4 Lust – das versteht sich von selbst! Muss ich mir wohl mal besorgen.

    Warum hat Zorn sich eigentlich Dave Douglas für Masada geholt und nicht Steven Bernstein?

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    #8321909  | PERMALINK

    friedrich

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    gypsy tail windIch glaube, wenn Du von „Originalkompositionen von Steven Bernstein gibt, die sich aber harmonisch auch aus der traditionellen jüdischen Musik speisen“ sprichst, ist das nicht ganz korrekt, weil die jüdische Musik meines Wissen (ausschliesslich?) auf Tonleitern (Skalen) beruht… also quasi modale Musik ist (wie im übrigen auch die klassische indische Musik). Ich bin mir da aber nicht sicher, sicher jedoch bin ich mir, dass man „harmonisch“ auf keinen Fall im Sinne der westlichen Funktionsharmonik verstehen darf (auf der auch der grosse Teil des Jazz bis Ende der 50er Jahre beruht).

    Das ist eine Fachsimpelei und für die meisten Leute wohl nichts als eine Nebensächlichkeit.

    Ja, das kann sein. Ich bin kein Musiker und kann das sowieso nicht richtig beschreiben. Seine Eigenkompositionen haben für mich einen ähnlichen „Klang“ oder „Geschmack“ wie diese traditionellen Melodien, so als würde er die gleichen Zutaten und Gewürze benutzen. Vielleicht versteht man mich so besser.

    gypsy tail windDu machst mir auch auf Album #4 Lust – das versteht sich von selbst! Muss ich mir wohl mal besorgen.

    Ich kann DIASPORA SUITE sehr empfehlen. Sie ist nicht so eingängig wie DIASPORA SOUL, nicht so folkloristisch, schwieriger, komplexer, sich langsamer entwickelnd, aber in sich sehr stimmig. Das elektrische Instrumentarium, die vier Bläser und der schleppende Funk in Kombination mit diesem gewissen „Geschmack“ geben der Platte einen ganz eigenen Charakter. Das Hörbeispiel ist durchaus repräsentativ, finde ich, wenn auch das Stück ZEBULON eins der „heavy-eren“ ist.

    gypsy tail windWarum hat Zorn sich eigentlich Dave Douglas für Masada geholt und nicht Steven Bernstein?

    Keine Ahnung. Vielleicht war Douglas damals einfach schon eine etwas größere Nummer als Bernstein und daher fiel die Wahl auf ihn. Ich habe Bernstein jedenfalls erst später kennengelernt.

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    #8321911  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Ja, und der „Geschmack“ kommt eben gerade von den Skalen, nicht von den ineinander übergehenden, sich auflösenden Harmonien (die übrigens in der Klassik, der Volksmusik und dem Jazz grundsätzlich gar nicht so anders sind… es geht eigentlich bloss um Nuancen, Verfeinerungen, Verdichtungen, nicht um grundsätzliche Unterschiede).

    Mit Skalen lassen sich oft besser gewisse Stimmungen erzeugen, etwa mit den Kirchentonarten, die Miles auf „Kind of Blue“ verwendet, mit den „spanischen“ Tonleitern auf „Sketches of Spain“, oder eben bei Bernstein mit den an jüdische Musik angelehnten Tonleitern.

    Blues ist letztlich in seiner einfachsten Form auch Musik, die auf einer Skala beruht… das Weniger an Struktur erlaubt ein Mehr an Expressivität, an Möglichkeiten, diese eine Stimmung auszuloten… was eben in manchen Fällen zu einem ganz besonderen „Geschmack“ führen kann (ich mag das Wort in diesem Zusammenhang, auch wenn ich’s bisher noch nie so verwendet habe!)

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