Re: Steven Bernstein

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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Ich mache mal weiter mit meinem Versuch als Goi über jüdische Musik zu schreiben. ;-)

Mir fällt noch eine weitere Beschreibung für DIASPORA SOUL ein: Die Musik hat etwas von Gospel. Eigentlich ein sehr nahe liegender Vergleich, aber gerade das nahe liegende fällt einem ja manchmal nicht ein.

Steven Bernstein hat nach DIASPORA SOUL im Jahr 2002 ein Sequel mit dem Titel DIASPORA BLUES veröffentlicht. Auch hier verarbeitet er traditionelle jüdische Melodien, diesmal aber begleitet vom Sam Rivers Trio. Da die einschlägigen Reviews dieser Platte eher durchwachsen ausfielen, habe ich mich nie so recht dafür interessiert und kenne sie bis heute nicht. Habe dann auch ein wenig das Interesse an Steven Bernstein verloren. Vielleicht kann jemand anderes was dazu sagen.

Zwei Jahre darauf folgte aber mit DIASPORA HOLLYWOOD der dritte Teil dieser Serie. Diese Platte habe ich erst vor kurzem entdeckt. Jüdische Melodien sind auch hier die Konstante, aber Besetzung und Arrangements unterscheiden sich gegenüber den Vorgängern. Wie der Titel schon andeutet, orientiert sich Steven Bernstein hier am West Coast-Jazz der 50er und 60er.

Es gibt dafür (mindestens) ein Vorbild in Form von Shelly Mannes STEPS TO THE DESERT von 1962. Shelly Manne nahm sich damals ein paar im weitesten Sinne jüdische Melodien, darunter einige Traditionals, aber auch die Titelmusik des Filmes EXODUS, arrangierte diese aber weitgehend in einem für die damalige Zeit konventionellen West Coast –Stil. Amüsante Platte.

Steven Bernstein geht jedoch etwas anders vor. Zwar nennt er als Inspiration auch Shelly Manne und Shorty Rogers (geb. Milton Rajonsky) und andere jüdische Musiker und Arrangeure, die in den 50ern an der West Coast gearbeitet haben. Er imitiert aber nicht den West Coast–Stil dieser Zeit. Die Besetzung mit Steven Bernstein (tp, flh), Pablo Calogero (bar-sax, b-cl, fl), D.J. Bonebrake (vib), David Pitch (b) und Danny Frankell (dr, perc) liest sich zwar erst mal so, als hätte man es mit einer Mischung aus Chet Baker mit Gerry Mulligan oder einer Band von Cal Tjader zu tun. Die Arrangements unterscheiden sich aber deutlich von dem, was man gemeinhin unter West Coast versteht. Es gibt nicht die Duette wie bei Baker/Mulligan, nicht die verwobenen Klangfarben, wie bei z.B. Shelly Manne & His Men und auch die Latino-Affinität von Cal Tjader kommt hier nur ansatzweise vor. Bariton-Sax und -Klarinette und Vibraphon werden eher als ornamentale Klangfarben eingesetzt, oder treten gelegentlich mal als Soloinstrumente hervor.

Hat Steven Bernstein mit DIASPORA HOLLYWOOD also sein Ziel verfehlt? Jein!

gypsy stellte bereits sehr richtig fest: Diese Musik klingt nicht kühl, was oft und gerne mit West Coast assoziiert wird. Es gibt zwar auch die Gelassenheit und das understatement des West Coast Jazz, aber gepaart mit Wärme und einer tiefen Melancholie, die manchmal etwas Unheimliches, film noir-esques hat. Nicht von ungefähr heißt wohl ein Stück MEYER LANSKY, nach dem legendären Boss der Kosher Nostra. Manchmal erinnnert die Musik an ASCENSEUR POUR L’ECHAFAUD von Miles. Gelegentlich gibt es aber auch ein paar Ausbrüche freierer Improvisation, ein paar expressive Spitzen, die für mich in diesem Zusammenhang jedoch etwas irritierend wirken. Das Stück KING KONG ist fast Free Jazz. Vielleicht ist das aber auch die Würze auf dieser Platte, die ansonsten fast schwebend dahin gleitet und durch die Art der Harmonien und den Einsatz der Perkussion etwas Orientalisches bekommt. Steven Bernstein scheint den West Coast-Jazz eher als Ausgangspunkt als als Ziel begriffen zu haben. Wahrscheinlich wäre es für ihn ein leichtes gewesen, diesen Stil einfach zu imitieren. Zum Glück hat er sich für etwas anderes entschieden. So wird DIASPORA HOLLYWOOD zu einer Musik, die zwar einen Bezugspunkt im West Coast hat, aber deren Herkunft aus anderer Richtung immer präsent bleibt und die damit ihre Souveränität behauptet. Dieses Spannungsverhältnis macht die Platte umso reizvoller. Eigentlich ist das etwas, das offenbar die gesamte DIAPORA SERIES durchzieht.

DIASPORA HOLLYWOOD geht nicht ganz so leicht ins Ohr wie DIASPORA SOUL. Bei letzterer ist der groove wohl das Schmiermittel, das die Platte sehr leicht zugänglich macht. DIASPORA HOLLYWOOD hat nicht ganz die Geschlossenheit von DIASPORA SOUL und hält auch nicht immer durchgängig deren Niveau. Da hängt die Latte aber auch extrem hoch und insofern wäre es überheblich, sich darüber zu beschweren. Die Qualität von DIASPORA HOLLYWOOD liegt in meinen Ohren in der Eigenständigkeit dieser Platte. Mit den jüdischen Melodien gibt es auch hier zwar den gemeinsamen Bezugspunkt der DIASPORA SERIES, die anderen Parameter werden aber verschoben, so dass DIASPORA HOLLYWOOD an einer ganz anderen Stelle des gleichen Spektrums angesiedelt ist. Sehr schöne Platte. Wem DIASPORA SOUL gefallen hat, der kann hier noch einiges anderes entdecken.

Wer fühlen will, muss hören: http://www.youtube.com/watch?v=9K4yHfuX_gg

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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)