Startseite › Foren › Kulturgut › Das musikalische Philosophicum › "Handgemachte Musik" – Sinnvoller Begriff oder überholte Vorstellung?
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AnonymInaktivRegistriert seit: 01.01.1970
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Stormy MondayDas war`s dann aber auch schon. So what?
Allein der Verdacht sorgte für Empörung, paßt zum Thema, finde ich.
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Werbunglatho… keiner „handgemacht“ schlüssig definieren konnte.
Naja, eine Definition liegt ja schon in der Luft:
Unter „handgemacht“ verstehen offenbar einige in diesem Forum Musik, die mit im Kern traditionellem, sprich, zumindest in Vorformen seit Jahrhunderten gebräuchlichem Instrumentarium (Saiten-, Tasten-, Blasinstrumente) gespielt wird. Elektrische Klangverstärkung scheint dabei aber absolut in Ordnung zu gehen, es muss offenbar nicht unplugged sein, bei E-Gitarre oder Hammond-Orgel wird die über eine ähnliche manuelle Handhabung gegebene Nähe zu den „Urformen“ Gitarre und Klavier als ausreichend empfunden. Auch elektrische Klangveränderung wie zum Beispiel Verzerrung scheint nicht als Irritation des „Handgemacht“-Prinzips wahrgenommen zu werden. Des weiteren wird es wohl so empfunden, dass sich dieser Charakter der „Handgemachtheit“ vor allem im Live-Kontext voll entfaltet – der Zuhörer hört genau das, was die Musizierenden gemeinsam grade eben in dem Moment so treiben, und kann akustisch und visuell nachvollziehen, wer gerade durch welche manuelle Verrichtung welchen Ton zum Gesamtklang beiträgt. Diese Transparenz scheint oft als „Ehrlichkeit“ empfunden zu werden.
„Handgemacht“ scheint der Abgrenzung gegenüber Musizierweisen zu dienen, bei denen daneben auch (oder ausschließlich nur) modernere „Instrumente“ wie Sequenzer, Sampler, Drum-Maschinen, Turntables etc pp zum Einsatz kommen und/oder rein elektronische/digitale Effekte, Signalbearbeitungen und Klangquellen (wie Synthesizer) eine sehr wichtige Rolle spielen und/oder mit einem einzigen Knopfdruck ganze, zeitlich vor dem Live-Auftritt womöglich andernorts, zum Beispiel im Studio, vorbereitete Ton-, Klang-, Beatsequenzen abgerufen werden.
„Handgemacht“ wäre demnach eine andere, kürzere, griffigere Bezeichnung für „Live-Musik, die den bis etwa Ende der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts eingeführten und gebräuchlichen Musiziergewohnheiten gehorcht, im 21. Jahrhundert daran festhält und auf die Nutzung modernerer Musikproduktionsmöglichkeiten bewusst verzichtet“.
Entschuldigung, wenn sich das jetzt etwas ethnologisch anhört, als ob ich mir Gedanken mache über die rätselhaften Kultformen ferner Völker.
Oder nochmal ganz anders: Wenn mir jemand sagt, er stehe auf „handgemachte Musik“, dann habe ich allein aufgrund dieses einen kleinen Wortes sofort eine ziemlich konkrete Vorstellung, was ihm wohl gefällt und was nicht, was ihn beim ersten Hören gleich begeisternd anspringt, was er vermutlich nach dem zweiten Hören gelten lassen wird, was er wahrscheinlich auch nach dem dritten Hören noch missträuisch beäugt, was er zur Not akzeptieren kann, auch wenn es ihm emotional fremd bleibt, und was er spontan doof finden wird.
Insofern finde ich das Wort „handgemacht“ erhellend, wann immer es fällt, und insofern kommunikativ nützlich.
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bullschuetzNaja, eine Definition liegt ja schon in der Luft:
…
Ja, eine Definition liegt schon in der Luft, aber diese ist eben nicht schlüssig.
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How does it feel to be one of the beautiful people?ClauJa, eine Definition liegt schon in der Luft, aber diese ist eben nicht schlüssig.
Genau. Im Artikel auf „Zeit-Online“ über das neue Album von D’Angelo heißt es: „Michael Eugene Archer ist ein sensibler Mensch, der sich nur selten wohlgefühlt hat in der eigenen Haut. Er gehört zu den Wegbereitern des sogenannten Neo-Soul, dessen Vertreter ab Mitte der neunziger Jahre die durchdachte, handgemachte Musik von Künstlern wie Prince und Marvin Gaye den Rap-Einflüssen öffneten.“
Ich meine – Prince hat zwar eine Analog-Schwäche, aber auch eine für den massiven Einsatz von Drum-Machines und weiteren synthetischen Klangerzeugungen.
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Jep.
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How does it feel to be one of the beautiful people?bullschuetz … der Zuhörer hört genau das, was die Musizierenden gemeinsam grade eben in dem Moment so treiben, und kann akustisch und visuell nachvollziehen, wer gerade durch welche manuelle Verrichtung welchen Ton zum Gesamtklang beiträgt. Gute Definition; Zustimmung!
„Handgemacht“ scheint der Abgrenzung gegenüber Musizierweisen zu dienen, bei denen daneben auch (oder ausschließlich nur) modernere „Instrumente“ wie Sequenzer, Sampler, Drum-Maschinen, Turntables etc pp zum Einsatz kommen
Was hat „handgemacht“ mit „traditionellem Instrumentarium“ zu tun? Wenn Geige, Tuba oder Klavier bei einem vorgeblichen Live-Konzert von Band kommen, dann ist das auch nicht „handgemacht“ (sondern Beschiss). Wenn aber jemand „in Echtzeit“ Klangschnipsel sampelt und dann damit improvisiert, dann bezeichne ich das ohne zu zögern als „handgemacht“.
Und nochmal: „Handgemacht“ ist für mich keine Schublade, wo eine Nummer entweder hineingehört oder nicht, sondern es ist eine Eigenschaft, die einer Aufführung oder einem Track mehr oder weniger zukommen kann. Und ich behaupte auch nicht dass gute Musik zwangsläufig in hohem Maße handgemacht sein muss.
Insofern finde ich das Wort „handgemacht“ erhellend, wann immer es fällt, und insofern kommunikativ nützlich.Das Problem ist nur, dass nicht jeder dieselbe Definition von „handgemacht“ hat. Schlimmer noch: Die intellektuellen Leitwölfe in diesem Thread unterstellem jedem, der das Wort in den Mund nimmt, dass er es ausschließlich mit der bekannten reaktionären und unzeitgemäßen Bedeutung benutzt. Zumindest wird jeder Versuch, sich dem Thema anders anzunähern, mit dem Hinweis auf eben jenes überholte Verständnis plattgemacht oder ignoriert.
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Software ist die ultimative Bürokratie.grünschnabelGenau. Im Artikel auf „Zeit-Online“ über das neue Album von D’Angelo heißt es: „Michael Eugene Archer ist ein sensibler Mensch, der sich nur selten wohlgefühlt hat in der eigenen Haut. Er gehört zu den Wegbereitern des sogenannten Neo-Soul, dessen Vertreter ab Mitte der neunziger Jahre die durchdachte, handgemachte Musik von Künstlern wie Prince und Marvin Gaye den Rap-Einflüssen öffneten.“
Ich meine – Prince hat zwar eine Analog-Schwäche, aber auch eine für den massiven Einsatz von Drum-Machines und weiteren synthetischen Klangerzeugungen.
Das stimmt. Und jetzt staune – genau Prince ist einer der Acts, bei denen ich feststelle, dass Jünger des „Handgemachten“ sich oft nicht einigen können: Die einen achten, die anderen verachten ihn, die einen beziehen sich auf den höchstkompetenten Virtuosen in der klassischen Disziplin der Gitarren-, Schlagzeug-, Klavierbeherrschung, andere finden „When Doves cry“ oder „Kiss“ schrecklich, „synthetisch“. Ich meine mich erinnern zu können, dass Prince für viele Handmacherfreunde anfangs sowas wie der Feind war, er war ja obendrein auch noch „nicht authentisch“, Machogockel und feminin, Gitarrero und Tänzer, schwarz und weiß, orgiastisch und abstinenzlerisch, durch und durch theatralisch, einfach nicht festlegbar, nicht einzuordnen in die gängigen Schubladen. Aber ulkig: Heute gilt Prince vielen als einer, „der noch richtig spielen konnte“, einer, der „noch das Handwerk beherrscht“.
Ich gebe aber zu, das „Zeit Online“-Zitat ist insgesamt seltsam, der Autor scheint unter „handgemacht“ anderes zu verstehen als die meisten mir bekannten Leute, die mit dieser Kategorie hantieren, um ihre Vorlieben zu beschreiben. Mir will scheinen, dass da fast nichts zusammenstimmt: Schon die krude Zusammenschnürung von Prince und Marvin Gaye ist doch recht bizarr.
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DemonWas hat „handgemacht“ mit „traditionellem Instrumentarium“ zu tun? Wenn Geige, Tuba oder Klavier bei einem vorgeblichen Live-Konzert von Band kommen, dann ist das auch nicht „handgemacht“ (sondern Beschiss). Wenn aber jemand „in Echtzeit“ Klangschnipsel sampelt und dann damit improvisiert, dann bezeichne ich das ohne zu zögern als „handgemacht“.
Kapiert. Und einleuchtend.
DemonUnd nochmal: „Handgemacht“ ist für mich keine Schublade, wo eine Nummer entweder hineingehört oder nicht, sondern es ist eine Eigenschaft, die einer Aufführung oder einem Track mehr oder weniger zukommen kann. Und ich behaupte auch nicht dass gute Musik zwangsläufig in hohem Maße handgemacht sein muss.
Das kann ich Wort für Wort unterschreiben. Ich habe bloß bisher in Gesprächen mit „Handgemacht“-Anhängern meistens den Eindruck gewonnen, dass die das eher nicht so sahen wie Du.
DemonDas Problem ist nur, dass nicht jeder dieselbe Definition von „handgemacht“ hat.
Ja, das sehe ich mittlerweile auch ein.
DemonSchlimmer noch: Die intellektuellen Leitwölfe in diesem Thread unterstellem jedem, der das Wort in den Mund nimmt, dass er es ausschließlich mit der bekannten reaktionären und unzeitgemäßen Bedeutung benutzt. Zumindest wird jeder Versuch, sich dem Thema anders anzunähern, mit dem Hinweis auf eben jenes überholte Verständnis plattgemacht oder ignoriert.
Tja. Also, ich unterstelle Dir das nicht (wobei ich mich damit nicht en passant als „intellektuellen Leitwolf“ bezeichnet haben will). Wenn ich Dich richtig verstehe, hat das Attribut „handgemacht“ bei Dir viel mit der Im-Hier-und-jetzt-Entstehung, dem Live-Charakter von Musik zu tun, dem, was Du als „in Echtzeit“ bezeichnest.
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Genau so! Wobei dieser Live-Charakter bei einer Übertragung oder auf einer Konserve durchaus erhalten bleiben kann.
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Software ist die ultimative Bürokratie.Ich glaube mittlerweile noch mehr als gestern, dass sorbistans Definition „Als ‚handgemacht‘ bezeichnete man in der DDR der 80er Jahre den Hard Rock der 70er.“ (oder so) total treffend ist, und für den Umgang mit unserem Patienten die einzig richtige. Diese Ansätze „Instrumente, die wie Instrumente aussehen, müssen von Leuten ‚bedient‘ werden, die wie Musiker aussehen“ lesen sich witzig, haben aber mit dem Sprachgebrauch der Leute, die das Wort tatsächlich verwenden, nichts zu tun.
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.redbeansandriceIch glaube mittlerweile noch mehr als gestern, dass sorbistans Definition „Als ‚handgemacht‘ bezeichnete man in der DDR der 80er Jahre den Hard Rock der 70er.“ (oder so) total treffend ist, und für den Umgang mit unserem Patienten die einzig richtige. Diese Ansätze „Instrumente, die wie Instrumente aussehen, müssen von Leuten ‚bedient‘ werden, die wie Musiker aussehen“ lesen sich witzig, haben aber mit dem Sprachgebrauch der Leute, die das Wort tatsächlich verwenden, nichts zu tun.
Zustimmung.
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How does it feel to be one of the beautiful people?Mein Senf. Ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Nur mein Erleben.
Anfang der 80er war handgemachte Musik noch mehrheitlich positiv besetzt. Wer dieses Wort gebrauchte, verband damit, nicht jeden Trend mitmachen zu wollen. Flying Lizards, Joy Division, The Cure waren keine handgemachte Musik und wurde von den Traditionalisten als vorübergehende Verirrung gesehen.
Fünf Jahre später revidierten aufgeschlossene Zeitgenossen ihre Einschätzung – das war ungefähr die Zeit als man auch wieder anfing bisweilen einen Friseur aufzusuchen – und verschiedene Musikrichtungen waren qualitativ gleichwertig.
Wer offene Ohren hatte und Interesse an Innovation für den wurde handgemachte Musik zunehmend ein Synonym für Vereinengung. Man verpasste etwas, wenn es die Hörleitlinie dominierte.
Es gab sogar mal eine Compilation „für Freunde handgemachter Musik“. In Bayern. Für Stubenmusikfreunde bis Sparifankal war da vieles vertreten. Rückblickend eine exotische Überschrift. Fand auch keine Fortsetzung.
Wenn heute jemand dieses Wort als Fave benutzt, dann unterstelle ich (zu Recht oder zu Unrecht), dass dies ein musikkonservativer Zeitgenosse ist, der maximal 10% der aktuellen Zeitströmungen überblickt. Das Identifaktionswort mutierte innerhalb 30 Jahren einfach zum –unwort. Man kann es benutzen. Wenn man nicht begreift, dass es von vorgestern ist, dann muss man damit leben, dass man von Dritten auch in die Schublade des Geschmacksgrufti gesteckt wird.
Wie gesagt: Keine begriffssoziologische Expertise. Mein Erleben nur.
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dougsahm
Wenn heute jemand dieses Wort als Fave benutzt, dann unterstelle ich (zu Recht oder zu Unrecht), dass dies ein musikkonservativer Zeitgenosse ist, der maximal 10% der aktuellen Zeitströmungen überblickt. Das Identifaktionswort mutierte innerhalb 30 Jahren einfach zum –unwort. Man kann es benutzen. Wenn man nicht begreift, dass es von vorgestern ist, dann muss man damit leben, dass man von Dritten auch in die Schublade des Geschmacksgrufti gesteckt wird.Gegenfrage: Überblicken jene Zeitgenossen, welche „handgemachte Musik“ nicht im Sprachgebrauch benutzen, denn mehr als 10% der aktuellen Zeitströmungen? Der Großteil hört doch auch nur englischsprachige Musik und diese bevorzugt aus englischsprachigen Ländern. Ist man demnach ebenso vorgestern, wenn orientalische, lateinamerikanische oder afrikanische Musik nicht konsumiert wird? Schließlich wird dadurch auch eine gehörige Menge an Musik ausgeblendet. Und wieso zählt jemand als verschlossen, wenn er heutige Musik größtenteils ablehnt und Hörer, die nahezu nur englischsprachige Musik hören aber nicht?
Was ich damit sagen möchte: Jeder hört das, was er mag. Und wenn ein Hörer sich nur durch 3 verschiedene Musikrichtungen wühlen möchte, ist dies per se nicht schlechter oder besser als 10 verschiedene Richtungen zu mögen.
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Roseblood wieso zählt jemand als verschlossen, wenn er heutige Musik größtenteils ablehnt
und Hörer, die nahezu nur englischsprachige Musik hören aber nicht?:lol: Gute Frage! Nächster Thread, bitte!
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Software ist die ultimative Bürokratie.RosebloodGegenfrage: Überblicken jene Zeitgenossen, welche „handgemachte Musik“ nicht im Sprachgebrauch benutzen, denn mehr als 10% der aktuellen Zeitströmungen?
10% von was, also, wie zählst du Zeitströmungen etc etc etc
Was ich damit sagen möchte: Jeder hört das, was er mag. Und wenn ein Hörer sich nur durch 3 verschiedene Musikrichtungen wühlen möchte, ist dies per se nicht schlechter oder besser als 10 verschiedene Richtungen zu mögen.
das versteh ich besser, aber: Wenn jemand sagt, er hört nur dänischen Ska, dann versteh ich das – und find es total ok (also: echt). Wenn aber jemand sagt, er hört am liebsten Musik, die mundgeblasen ist, und damit meint, dass ihm alles außer dänischem Ska unheimlich ist, dann kommt es zu Missverständnissen. Das heisst nicht, dass jemand, der ausschließlich mundgeblasene Musik hört, einen minderwertigen Musikgeschmack hat (oder so), es heisst bloß, dass der Name „mundgeblasene Musik“ ziemlich irreführend ist, weil es doch eigentlich um dänische Ska-Bands geht. (Und weil es – ganz wertfrei – andere Musik gibt, die sehr viel mundgeblasener ist als dänischer Ska.)
@dougsahm: wahrscheinlich hat es mit der DDR tatsächlich wenig zu tun…
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Schlagwörter: Deutsche Kulturarbeit, Ehrlich währt am längsten, entweder - oder, Handwerk, led zeppelin
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