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THE OLATUNJI CONCERT – THE LAST LIVE RECORDING
coltrane, sanders, coltrane, garrison, ali, dewitt, santos (poss), coltrane/ koniarz, drayton (23.4.1967)wirbel – crash – wirbel – crash, so strukturiert rashied ali die äußerungen des ehepaars coltrane, oder sie setzen diese vorgabe um: kreisender lauf und niederhämmern der linken hand bei alice, langsames luftholen und stoßweises ausatmen bei john. nur sanders hält sich nicht mehr an die vorgabe, in seiner zirkularatmung geht aus- und einatmen inneinanderüber, vielleicht wurde deswegen darüber spekuliert, dass er hier schon auf dem emanzipationstrip ist. wirbel – crash, darin beschwörungen, candomblé (ogunde) und musical (my favorite things), beides exzessformeln. man kann alles ausschneiden, die beiden sanders-soli, mit ihren zweitönigen halalai-fanfaren zwischendrin, alices raserei (eines der wildestens soli, die ich von ihr kenne), das unfassbar schöne intro von garrison zum nicht-walzer von rogers & hammerstein, bei dem der verkehrlärm ausgeschaltet wird, indem man einfach einen kanal abklemmt (den fürs draußen? für die welt?). aber das wirklich verrückte ist, was der leader hier macht, wahnwitzig, mit den aufgewirbelten melodiefragmenten und dem crash der ausführungen, und dann wird er eins mit crashbecken und der übersteuerung der überforderten mikrofone, als spiele er kein saxofon mehr, sondern draht. und als wenn es nichts wäre, findet er aus dieser verdrahtung ganz mühelos wieder heraus. und wir hören ja auch nur eine von insgesamt 4 stunden (2 sets). im harlem der friedensmärsche, in der turnhalle von babatunde, in der die community wieder das trommeln lernt. I simply remember my favorite things. and then I don’t feel so bad.
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Highlights von Rolling-Stone.deWerbungSehr gut beschrieben. Da bekommt man Lust das Album mal wieder in Gänze zu hören.
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danke für die tollen Texte vorgarten, und danke fürs Gioia Abtippen, das Buch hat mich echt geprägt, aber ich hab es immer nur aus Bibliotheken ausgeliehen… muss es wirklich mal kaufen… Giuffre hat mich in den letzten Monaten ein paar Mal echt beeindruckt, wenn auf Shorty Rogers oder MJQ+ Alben seine Klarinette plötzlich der einzige wirklich lebendige Ton war… Leadersachen hab ich auch gehört, bin aber noch nicht weit… und diesen Text hatte ich nur noch vage im Hinterkopf – ist jedenfalls eine faszinierende musikalische Biografie
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soulpope "Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"Registriert seit: 02.12.2013
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Interessante Wahrnehmungen zu den jeweiligen Alben …. btw für mich bleiben die Atlantic Alben von Jimmy Giuffre – vor allem „Western Suite“ -bahnbrechend, indem die Kammermusik perfekt im Jazz Raum greift und findet …. sein radikaler Bruch und folgender Werdegang ändert daran nichts, ganz im Gegenteil ….
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"Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)redbeansandricedanke für die tollen Texte vorgarten, und danke fürs Gioia Abtippen, das Buch hat mich echt geprägt, aber ich hab es immer nur aus Bibliotheken ausgeliehen… muss es wirklich mal kaufen… Giuffre hat mich in den letzten Monaten ein paar Mal echt beeindruckt, wenn auf Shorty Rogers oder MJQ+ Alben seine Klarinette plötzlich der einzige wirklich lebendige Ton war… Leadersachen hab ich auch gehört, bin aber noch nicht weit… und diesen Text hatte ich nur noch vage im Hinterkopf – ist jedenfalls eine faszinierende musikalische Biografie
Das irre an Giuffre ist ja auch, dass er in den eher generischen West Coast Settings tatsächlich eine sehr lebendige und oft überraschend druckvolle Stimme ist … er war von den manchmal etwas anämischen Young-Followern einer, der die Stählung am Sax aus den Big Bands weitertrug, was andere ja oft nicht taten – sowas hier (Lou Levy hilft da natürlich auch sehr):
Und an der Klarinette ist er ja eh einzigartig. Die Begegnung mit dem MJQ ist ja nicht wirklich gelungen … vielleicht fand die etwas zu früh statt? Ich verstehe sofort, wie man auf die Idee kommt, aber Giuffre ist da eingebettet, dabei hätte er als Ergänzung/Kontrapunkt mehr zu bieten gehabt, als Rahmensprenger statt als braver Mitspieler.
Und ja, auch von mir danke für die tollen Texte!
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #164: Neuheiten aus dem Archiv, 10.6., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
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gypsy-tail-wind
redbeansandricedanke für die tollen Texte vorgarten, und danke fürs Gioia Abtippen, das Buch hat mich echt geprägt, aber ich hab es immer nur aus Bibliotheken ausgeliehen… muss es wirklich mal kaufen… Giuffre hat mich in den letzten Monaten ein paar Mal echt beeindruckt, wenn auf Shorty Rogers oder MJQ+ Alben seine Klarinette plötzlich der einzige wirklich lebendige Ton war… Leadersachen hab ich auch gehört, bin aber noch nicht weit… und diesen Text hatte ich nur noch vage im Hinterkopf – ist jedenfalls eine faszinierende musikalische Biografie
Das irre an Giuffre ist ja auch, dass er in den eher generischen West Coast Settings tatsächlich eine sehr lebendige und oft überraschend druckvolle Stimme ist …. an der Klarinette ist er ja eh einzigartig. Die Begegnung mit dem MJQ ist ja nicht wirklich gelungen … vielleicht fand die etwas zu früh statt? Ich verstehe sofort, wie man auf die Idee kommt, aber Giuffre ist da eingebettet, dabei hätte er als Ergänzung/Kontrapunkt mehr zu bieten gehabt, als Rahmensprenger statt als braver Mitspieler.
Bezüglich der Aufnahmen mit dem MJQ greift – ähnlich wie mit Sonny Rollins – der „guest artist“ Effekt aka Jimmy Giuffre ist nur auf einem Teil der Tracks präsent und wirkt daher eher kurz(fristig) eingebunden als mit einer integrierten Rolle versehen ….
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"Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)
soulpope "Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"Registriert seit: 02.12.2013
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vorgarten …. 89
TAUHID sanders, burrell, sharrock, grimes, blank, betts, thiele, van gelder (15.11.1966) das ist natürlich musikalische heimat für mich und deshalb schwer zu beschreiben. eigentlich mein liebstes impulse-album von ihm, aber auch total uneinheitlich, in vielem vielleicht nur vorstudie. mich verblüfft das immer wieder, weil sanders bei den aufnahmen ja noch in der coltrane-band war (temple university war 4 tage später), morgens dabei noch mit cherry WHERE IS BROOKLYN aufgenommen hatte. seine stimme changierte zwischen diesen projekten und auch auf dem eigenen album, das erst nach coltranes tod, fast 1 jahr später, herauskam, um eine leere zu füllen. aber jetzt erstmal TAUHID auflegen, zuhören. eine für sanders untypische, mir sehr sympathische trance-band: dave burrell, henry grimes, sonny sharrock, roger blank, ned betts. repetitionsaffin, mit leichten intensitätsschwankungen. das spiritual-jazz-arpeggio am anfang, die flöte, das aussteigen. dann freie improvisation, mal mit basssolo hinten im raum, dann fragen und wenig antworten, dann schlagzeug und percussion ohne orientierung. und dann solpern sie in was rein, grimes spielt das bass-ostinato in der falschen tonart, burrell hält 4 akkorde stur dagegen, blank sucht nach dem passenden groove. alles fällt in die spur, setzt sich in bewegung, warten auf das saxofon. das kommt nicht. die rhythm section wird müde, probiert nochmal was neues aus, steigert intensitäten, schläft wieder fast ein. und dann verschluckt sich der schönste tensorsaxsound der jazzgeschichte (ha, ich bleibe dabei) fast, und die sonne bricht durch die wolken. sanders nimmt sich insgesamt nur 4 minuten am ende, in dieser zeit stellt er seinen begriff von schönheit vor, spaltet dann seinen ton inzwei, reißt die wand ein, hört zu spielen auf und fängt an zu singen. 4 minuten sandersessenz. das kurze stück „japan“: kein saxofon nötig. ein schönes kleines melodiefragment, burrell kann sowas unendlich wiederholen, sanders singt ein bisschen mit. und dann noch die suite, die nach den sternen greift und wiederum in drei teile zerfällt, die kaum etwas miteinander zu tun haben, aber ein afroamerikanisches brennglas bilden, für wut, zärtlichkeit, kitsch, sex, altägypten, utopie und stromrechnung. das legen wir alles erstmal in den schrank, dachte bob thiele. und drei jahre später spielt sanders seinen „prince of peace“ für strata east ein (da spielt er auch nur saxofon, wenn es passt), und dann erst wird bei impulse weitergemacht. heute wissen wir, dass das, was sanders da im november 1966 aufgenommen hat, ihn 55 jahre lang tragen wird.
Bemerkenswert, dass Pharoah Sanders hier erfolgreich die Gitarre einsetzt, aber danach diesem Konzept widersteht und für längere Zeit fast durchgängig auf die Doppelbass Variante setzt (und aufgrund des Personals dies mit überragender Wirkung) …. nicht mein nähestes Album – da sind „Black Unity“ und „Karma“ obenauf – aber sicher jenes mit neuen Gedankenanstössen…. btw auf „Upper & Lower Egypt“ eine Passage, welche im Blindfold stimmig an „Journey To The One“ gehen könnte ….
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"Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)87
ELLA FITZGERALD SINGS THE COLE PORTER SONGBOOK
fitzgerald, bregman, smith, geller, gentry, shank, cooper, nash, candoli, edison, ferguson, gozzo, bernhart, howard, ulyate, roberts, kessel, mondragon, stoller, hale, lamarchina, lustgarten, granz, valentin (7.–9.2. & 27.3. 1956)how strange the change from major to minor. 32 hits von cole porter, die in großer dichte albernheiten, zweideutigkeiten, metaebenen, listen, wortspiele, klatsch, indirektes sprechen, gaga in eleganz und sophistication baden. fitzgerald singt auch die verses mit, die porter als normative einrahmungen gehasst hat. wie passte sie in diese welt des urbanen new yorker chics, der sich schnell langweilt, wenn die nächste pointe nicht rechtzeitig kommt? wer da sehr gut reinpasst ist wunderkind-arrangeuer buddy bregman, a&r-mann bei verve, der auf fotos dieser zeit aussieht wie ein hollywood sweetheart. er hat von situationen erzählt, wo er mit fitzgerald in hottellobbys darauf wartet, dass das schwarze dienstpersonal die zimmer vorbereitet, und bedauert, dass er außerhalb der musikalischen begegnungen nie einen zugang zu ihr hinbekam. der heterosexuelle arrangeur und die für manchen club zu unglamouröse schwarze frau in den besten jahren exekutieren „let’s do it“ und textzeilen über „moth balls“ – und nicht ganz zu unrecht ist das eine referenzaufnahme für vocaljazz-versionen des great american songbooks geworden. in dieser masse wird man schnell vom glanz der songs geblendet und ermüdet vom witz. aber fitzgerald bewegt sich mit zurückhaltung und perfekter intonation durch ein außerordentlich abwechslungsreich arrangiertes setting – swingnummern mit krachendem blech folgen auf seufzende streicher, intime balladen zu klavier (und manchmal noch schlagzeigbesen und getupftem bass) werden von eleganten rhumba-nummern abgelöst. das programm ist überfordernd, aber sehr unterhaltsam. und eigentlich passt das zusammen wie lithauer und letten und gebildete flöhe.
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vorgarten
ELLA FITZGERALD SINGS THE COLE PORTER SONGBOOK
(…)
how strange the change from major to minor.(…) und eigentlich passt das zusammen wie lithauer und letten und gebildete flöhe.Nicht nur dieser Text von Dir ist sehr schön, lieber @vorgarten! Das ist manchmal fast schon Poesie, die gleichberechtigt neben der Musik stehen kann. Manches erfordert von mir etwas zuviel Vorwissen („…verses, die porter als normative einrahmungen gehasst hat …?“ Und haben die Mottenkugeln einen doppelten Boden, den ich nicht sehe?), aber das ist fast egal.
Immerhin bin ich angeregt, selbst mal nachzulesen, wer dieser Cole Porter mit seinen pfiffigen Texten überhaupt war. Let’s Do It ist zwar ein Gassenhauer, den man fast schon etwas über hat. Ich habe den zwar nicht mal auf Tonträger (glaube ich), aber trotzdem habe ich ihn sofort im Ohr. Von Ellas Cole Porter-Interpretationen habe ich überhaupt nur 2 Stücke auf einer Compi. Aber Let’s Do It ist so unverwüstlich und inspirierend, dass man den Text immer wieder situations- und zeitbedingt variieren kann. Es gibt sogar eine Sesamstraße-Version davon. („You’ll Use the Potty (*)“ uses the lyrics „Boys do it, girls do it. Big kids all around the world do it.“ (Wikipedia))
(*) = das „Töpfchen“
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)friedrichUnd haben die Mottenkugeln einen doppelten Boden, den ich nicht sehe?
eine der wirkmächtigsten metaphern für schwule sexualität, die geheim gehalten wird, ist das sogenannte „closet“. das auch hier bekannte coming-out ist z.b. eigentlich eine verkürzung von „coming out of the closet“. wenn porter also darüber spekuliert, was motten wildes in den mänteln (im kleiderschrank) treiben, und wozu es da überhaupt mottenkugeln braucht, war für ihn und seine eingeweihten freunde völlig klar, was damit gemeint ist, ganz abgesehen von den „balls“.
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um das noch mal zu differenzieren, was ich mit der latent rassistischen aussage meinte, dass fitzgerald ja eigentlich keinen zugang zu der welt von cole porter hatte (also eventuell nicht wusste, was sie da singt), so sind das total komplexe manöver in einem feld, das ja eigentlich popmusik ist, also breite bedürfnisse befriedigt und sich bei vielen menschen gut verkauft.
cole porter nutzt als queere strategie mainstream-material (das von sich aus gar nicht so gemeint ist, dass darin minderheiten repräsentiert werden könnten), um darin doppelbedeutungen unterzubringen, die die mehrheit zwar irgendwie als „schlüpfrig“ wahrnimmt, aber eben nicht als queer. auf dieser ebene ist das ja auch total ungefährlich, und leute wie buddy bregman werden schon die ein oder andere ahnung von solchen mehrfach-codierungen gehabt haben (und fitzgerald bestimmt auch). das sind reize, die als „wit“ oder „sophistication“ direkt in den erfolg der songs einzahlen. aber man kann das auch als strategien lesen, wie sich minderheiten in einer mehrheit bewegen, von der sie eigentlich ausgeschlossen sind. für diese strategien braucht es aber auch möglichkeiten der gesellschaftlichen teilhabe und andere ressourcen – ein dandy wie porter konnte sich einiges erlauben und bekam beifall von seinen eingeweihten freunden, aber auch von den gesellschaftlichen kreisen, in denen er sich bewegte.
lorenz hart wiederum (der texter von richard rogers) war sein leben lang quasi eine motte im kleiderschrank, seine texte haben weniger zweideutigkeiten, sondern eine rafinesse im umkreisen des themas der unerwiderten oder der unmöglichen liebe, was popkulturell andere signale setzte, aber auch mit z.b. rassismus-erfahrungen oder (musikalisch) blues-formen anschlussfähig war. und billy strayhorn hatte wiederum noch weniger ressourcen, um texte, wie codiert auch immer, über schwules begehren zu produzieren.
wie sich fitzgerald darin bewegt hat, ist da mutmaßlich sehr komplex. ich denke halt nicht, dass sie stammgast auf partys von cole porter oder noel coward war. aber wenn sie „miss otis regrets“ singt, ist das ein total abgründiges manöver: in dem song geht es ja eigentlich um einen lynchmord an einer frau, die „ehebruch“ begangen hat, die aber von ihrem dienstmädchen gesellschaftskonform entschuldigt wird, als hätte sie kopfschmerzen. und wenn fitzgerald das singt, hält sie eigentlich der weißen gutbürgerlichen gesellschaft den spiegel der doppelmoral vor. und dabei riskiert sie ja auch noch, in die stereotype rolle des schwarzen dienstmädchens zu schlüpfen.
zuletzt geändert von vorgarten--
Vielen Dank für diese hilfreichen Einordnungen und Erläuterungen – manches davon habe ich geahnt, weniges gewusst.
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friedrichUnd haben die Mottenkugeln einen doppelten Boden, den ich nicht sehe?
eine der wirkmächtigsten metaphern für schwule sexualität, die geheim gehalten wird, ist das sogenannte „closet“. das auch hier bekannte coming-out ist z.b. eigentlich eine verkürzung von „coming out of the closet“. wenn porter also darüber spekuliert, was motten wildes in den mänteln (im kleiderschrank) treiben, und wozu es da überhaupt mottenkugeln braucht, war für ihn und seine eingeweihten freunde völlig klar, was damit gemeint ist, ganz abgesehen von den „balls“.
Die „balls“ konnte ich mir schon denken, die doppelte Bedeutung von „closet“ kenne ich (meint wörtlich den in den USA typischen Wandschrank, in dem man alles mögliche verstecken kann und wo sich in Kinderzimmern auch nachts die Monster verstecken), aber ich habe das alles nicht mit den „moths“ und den „rugs“ (genau genommen: Teppich, aber spielt keine Rolle) in Verbindung gebracht. Bin dafür halt zu wenig englischer Muttersprachler und zu viel hetero.
Interessante kulturwissenschaftliche Gedanken! Womit man aber auch an dem Punkt ist, wo selbst Menschen in meiner Umgebung nur noch mit den Augen rollen und genervt sagen: „Aber ich will doch einfach nur Musik hören!“ Aber das können sie ja auch machen.
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)friedrichWomit man aber auch an dem Punkt ist, wo selbst Menschen in meiner Umgebung nur noch mit den Augen rollen und genervt sagen: „Aber ich will doch einfach nur Musik hören!“ Aber das können sie ja auch machen.
na klar.
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Ich gucke mal rasch bei Judith Tick nach („Becoming Ella Fitzgerald“, ich hab auf die in Europa erst seit ein paar Wochen lieferbare TB-Ausgabe gewartet). Die Autorin bezeichnet sich in der Einführung zum Buch als „second wave feminist“ und legt soweit ich sehen kann kein besonderes Augenmerk auf queere Aspekte (was man bei einer Ella-Biographie vermutlich auch nicht tun muss). Im Porter-Kapitel (das Buch ist chronologisch, das Kapitel für die Jahre 1956/57 heisst „The Cole Porter Experiment“ gibt es auch nur Hinweise. In einem Interview mit Willis Conover (18. April 1956 in Washington, VOA), sagt sie im Kontext des demnächst erscheinenden Albums: „F: […] and I even get a little sexy on a couple of songs. [both laugh] / C: With Cole Porter lyrics it’d be hard to avoid I guess. / F: Yeah, I don’t think some of them will ever reach the air, but they can get ‚em in the stores for, uh, your own personal use [both laugh].“ (Tick, 255) – Da kann man schon zwischen den Zeilen lesen, dass Ella die Songs vermutlich einigermassen verstanden hat.
Bisschen mehr Hintergrund zum Album, wenn ich da grad schon lese: Anfang 1956 ging Ella mit einer JATP-Packung (natürlich von Granz organisiert, der immer mitreiste) nach Europa, und Granz sollte in Italien auch Porter treffen. Erst da merkten sie, dass sie „Night and Day“ vergessen hatten: Granz meinte, sie können überall hin fahren ausser nach Italien … und zurück in den USA holten die das Versäumnis nach (und machten bei der Gelegenheit noch ein paar Re-Takes von schon eingespielten Songs; Tick, 252). Es ging anscheinend bei den Sessions alles sehr schnell (Bregman – der im Rahmen dieses Auftrags, wie Milt Bernhart sagte, „practically went from college to Ella Fitzgerald in one jump“, aber, auch Bernhart, „did very well“, und auch Paul Smith hatten sich darüber auch beklagt; Tick, 251f.).
Bei den Proben, „Bregman would sing through a song, then she would take that rendition as the template for her work. She had no need to infuse it with drama or her own personality. Instead, she said, ‚I’ll just sing it, I’ll just sing it exactly as you did.‘ Bregman was so startled, he followed up. ‚I said, ‚Don’t you want to add?‘ Ella said, ‚Nope, I want to do it exactly how it is.'“ (Tick, 250; Quelle ist ein eigenes Bregman-Interview von Tick im Jahr 2010). Natürlich, so fügt Tick an, sollte man das diese „self-imposed simplicity“ nicht allzu wörtlich nehmen, aber der „classical approach to material that had typically been treated as a chart rather than a score“ macht ja gerade die Besonderheit der Song Books von Ella Fitzgerald aus. Und da ist natürlich Ellas Time, ihr Swing: sie hat Porters Song quasi mit rhythmischen Mitteln zu Jazz-Songs gemacht.
Porter hatte Granz schon früher mal kontaktiert, als er „Now You Has Jazz“ (aus dem Film „High Society“) schrieb: „He sought reassurance on his use of jazz vernacular“, und nachdem Granz ihm geholfen hatte, schickte er diesem ein Lead Sheet, auf dem stand, „By Norman Granz and Cole Porter“, das Granz sich dann rahmen liess und in seinem Büro in Hollywood aufhängte (Tick, 252). Granz bemühte sich dann auch um was Zitierfähiges für die Plattenhüllen, und entlockte Porter den Kommentar: „My, what marvelous diction that girl has.“ – James Gavin schreibt aber, dass Porter auch „withering letters of criticism“ verfasst habe über Interpretationen seiner Songs durch Fitzgerald, Frank Sinatra und Lena Horne (Tick, 253).
Tick berichtet dann über den immensen Erfolg: innert eines Monats über 100’000 Exemplare verkauft – und as bei einem damals hohen Preis ($9.95), noch Anfang 1959 in den Top-20 Jazz-Charts von Down Beat, gute Reviews … mit den drei Sets von Liner Notes und dem Foto von Ella: „A Black woman without a white-womanhairdo, she poses assertively with hand on hop, holding a lead sheet in rehearsal. It was a perfectly calibrated package for upper-middle- and middle-middle-class affluent customers listening to high-fidelity LPs on their fashionable home consoles“ (Tick, 265). Neben positiven Reviews (Billboard, Down Beat) gab es aber auch die erwartete Kritik, Tick zitiert Bill Coss, der in Metronome meinte, die Texte von Porter seien „out of Ella’s realm of experience“ und besonders ihre Version von „Love for Sale“ kritisiert. Tick schiebt nach, dass er auch noch „Miss Otis Regrets“ hätte herausheben können – dass Coss aber am Ende noch in Singles dachte, während Granz mit dem Doppelalbum und dem Gesamtpaket (das er in einem Schreiben an den Herausgeber von Metronome verteidigte, auch daraus zitiert Tick kurz) eben in der neuen Einheit Album dachte.
„Probably none of these men anticipated the extent to which Fitzgerald would serve as Porter’s messenger. The Porter expert Robert Kimball credits this album with ‚introducing more people to Porter’s songs than any other recording at the time of its release.‘ The inherent tenderness of her voice emphasized the implicit humanity of his songs, mediating the remote sophistication in Porter’s lyrics. As the composer-critic Alec Wilder wrote, ‚Porter’s most quoted lines are all the East Side New York sophisticated kind. But no matter how distant or unrealistic, no matter how weary or cynical they may have been, Porter’s lyrics were astonishingly softened and warmed by his music.“ In retrospect, the album was more than the sum of its parts. Fitzgerald synthesized African American and Euro American singing practices to produce a hybrid model fo a ‚jazz pop‘ performance of show tunes and a classic recording on its own terms“ (Tick, 257). (Das Kimball-Zitat stammt aus den Liner Notes zu einem Reissue des Albums von 1976, das Wilder-Zitat natürlich aus seinem Buch „American Popular Song“.)
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