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Dead can dance // Anastasis
PIAS Recordings1. Children of the sun
2. Anabasis
3. Agape
4. Amnesia
5. Kiko
6. Opium
7. Return of the she-king
8. All in good timeDie Rückkehr der Sonnenblume
Die Zeit, in der DCD Werke wie „Spleen and ideal“ oder „Within the realm of a dying sun“ ans Tageslicht bringen sollte und dabei allerlei Schwarzromantiker zur musikalischen Vereinnahmung veranlasste, einer Zunft von Pausenclowns mit noch traumatisch biederer Kunstästhetik anzugehören, ist längst vorbei. Und keine Band des manierlichen „Gothic“ Genre hat dabei je die Höhenzüge und verzierten Turmspitzen einer Band gesehen, die auch nach sechzehn Jahren immernoch überraschen kann. Aus grellen New Wave Klängen wurden Friedhöfe und Burgmauern, aus einem Feuerwerk bei Mitternacht zum mittleren Zeitalter traumartige Katakomben – und zuletzt streiften sich alle Gewänder der Vergangenheit ab und wichen indischen Skalen, afrikanischen Rhythmen, Bongos und Didgeridoos. Danach ließ sich die Band vom Indus ins Nichts treiben.
„ Anastasis“ setzt hier an – ist aber ganz andersartig.
„ We are the children of the sun/Our kingdom will come/Sunflowers in our hair;
We are the children of the sun/Our carnival’s begun/Our songs will fill the air“„ Children of the sun“ erstrahlt wie ein Fixstern. Eröffnungstracks hatten bei DCD stets besondere Strahlkraft, schon zu Zeiten von „De Profundis“ oder dem majestätischen „The host of Seraphim“, aber kaum einer war derartig farbig, lebhaft und kraftvoll wie dieser; es stimmt, lauscht man diesen Klängen, werden zunächst Erinnerungen an Perrys letzte Veröffentlichung wach. Schwere Synthesizer zerren Goldstaub in die Luft, während Streicher zum contrecarrer der eben polternden Rhythmik werden – wäre nicht Perrys glasklarer, sonorer Bariton würden die Kinder der Sonne beim Auftakt im Duftzelt in Gedenkstille versinken, etwas, was etwa bei Gerrards zweitem Solowerk („The silver tree“) zuweilen zu hören ist. Hier nicht – der Track trägt sich anmutig vorwärts, bricht sich in einem Gong oder greift ein Muster auf, das entfernt an das Instrumentarium von „Cantara“ erinnert und spitzt sich zunehmend entlang des Geigenhalses zusammen, bis Perrys Stimme kurzzeitig erlischt. DCD konnten immer Welten erschaffen und aus der Asche der ersten sechs Minuten wächst die totgeglaubte Sonnenblume nun zu Hörnern und großem Pomp wieder gen Licht. Diese Musik strahlt. Und wärmt. Pathos ist bei Gerrard und Perry Romantik und stets zweckdienlich.
DCD wandelten sich aber auch stets und schon „Anabasis“ klingt wie ein Urwald bei Nacht, in dem sich Gerrard zu einem verirrten Hang in somnambule Trance singt. Und wie wunderbar hypnotisch diese Stimme noch heute klingt! Gehaucht, aber voll, kräftig und doch stets mit einer Behutsamkeit, die unerreicht ist. Ja, die fast hysterische Energie früher Tage ist einer Form von sich windender Geschmeidigkeit und ausgeglichener Würde gewichen, aber ein zweites „Ocean“ oder „Mesmerism“ würde diesen Tönen auch die Farbe entziehen und jedem Yang-Qin Spieler auf den Bühne der Welt die Adern gefrieren lassen. Jedwede selbstverliebte Grandezza weicht hier minuziöser Illumination – Gerrard modelliert lautmalerisch Emotionen zu einem schwebenden Klavier, trägt durch Cello-Versatzstücke, die an „Eye of the hunter“ gemahnt sind (so taucht etwa die Grundmelodie von „Voyage of Bran“, aber auch der gurgelnde Bass von „The captive heart“ in „Agape“ auf) oder wirft sich zu Dudelsäcken in Brokat und Gold. Ohne Zweifel ist Perrys Handschrift überall erkennbar (speziell „Ark“, von dem auch die mächtigen Strahler des „Bogus man“ erneut eingeführt werden), aber gleichsam erinnert alles auch an unvergessene Zeiten, an „Aion“, an die magische Schönheit „The carnival is over“, an die Renaissance einer ausgebluteten Szene.
Es ist ein beständiger Teil von „Anastasis“, dass es diese Fäden wieder aufnimmt; in „Amnesia“ widmet sich Perry explizit dem gesellschaftlichen Hang des kollektiven Vergessens; „History is never written/by those who’ve lost“ – es klingt wie die Klage der Toten und lauscht man dem Dröhnen, spürt man dem abgrundtiefen Hall nach, dem Klavier, dem resignativen Grundton, werden die immer wieder kehrenden Tage wach, die für zu viele zu langen, ausweglosen Nächten wurden. „Sweet Mnemosyne, sweet Mnemosyne!“ klingt es bebend schwer nach. Der Ruf an die Göttin der Erinnerung.
„ Anastasis“ hat Berührpunkte mit zahlreichen Kulturen, Einflüsse, vor denen sich die Band nie verschließen wollte – Nordafrika, China, Irland, Türkei, Griechenland, Indien, Amerika und Australien leben in diesen Melodien, die auch bei einer weniger flächigen Produktion ihren energetischen Moment nicht verfehlt hätten. Auch eine gute Spur zu lang ist die lang erwartete Rückkehr geworden, die mit einem etwas verschwenderisch schön klingenden „All in good time“ den Sargassosee entlang paddelt; man mag dabei fast ein Augenzwinkern aufschlagen hören.
Ich kann Jan Wigger (SPON) beipflichten: Die Kunst dieser Band zu beschreiben, das zu subsumieren, was letztlich von allen anderen dieser Art abgrenzt, ist kaum in Worten möglich. Man muss es selbst erleben. Und ob „Anastasis“ an die größten Werke des Duos heranreicht, geschenkt. Manchmal braucht es wie in „Opium“ nur einen Sufi 6/8 Rhythmus, Anklänge an marokkanische Volksmusik und Perry, der innbrünstig singt, wie lange nicht mehr, subtil und sublim gleichermaßen. Wenn man über die Jahre etwas aus der Melange dieser Band gelernt hat, dann doch, dass Entwicklung zuzeiten erst mit Verspätung auf Gegenliebe stößt – und das wird auch für „Anastasis“ gelten. Denn eine Abgrenzung gibt es dann doch: Während esoterische Farbenspiele meist Totgeburten sind, stehen die zeitlosen Songs dieser Koryphäe selbst auf dem Totenbett noch in voller Blüte. The dead can dance.
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WerbungIrrlicht Und ob „Anastasis“ an die größten Werke des Duos heranreicht, geschenkt. Manchmal braucht es wie in „Opium“ nur einen Sufi 6/8 Rhythmus, Anklänge an marokkanische Volksmusik und Perry, der innbrünstig singt, wie lange nicht mehr, subtil und sublim gleichermaßen. Wenn man über die Jahre etwas aus der Melange dieser Band gelernt hat, dann doch, dass Entwicklung zuzeiten erst mit Verspätung auf Gegenliebe stößt – und das wird auch für „Anastasis“ gelten. Denn eine Abgrenzung gibt es dann doch: Während esoterische Farbenspiele meist Totgeburten sind, stehen die zeitlosen Songs dieser Koryphäe selbst auf dem Totenbett noch in voller Blüte. The dead can dance.
Schön gesagt. Ich sehe, wir haben ähnliche Sichtweisen zum Album, vor allem schätzen wir Instrumentierung und Gesang, die wirklich zwei große Stärken sind. Ich freue mich sehr auf das Konzert!
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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.nail75Ich freue mich sehr auf das Konzert!
Ich mich auch, lange ist es ja nicht mehr bis dahin. Und wie ich eben sehe, lesen sich auch die Setlists sehr erfreudig (auch wenn ich wohl nicht das gesamte „Anastasis“ gebraucht hätte, dafür gibt es im Backkatalog einfach noch zuviele Perlen).
Danke fürs Lesen!
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Hold on Magnolia to that great highway moonSavages // Silence yourself
Matador Records // 2013.1. Shut up
2. I am here
3. City’s full
4. Strife
5. Waiting for a sign
6. Dead nature
7. She will
8. No face
9. Hit me
10. Husbands
11. Marshal Dear„I didn’t want to write love songs; I wanted to write songs that were more violent.“
Dass die goldene Ära des Gothic Rock unlängst im belanglosesten Sumpf tranig armer Kummertröpfe und Kirmesdeppen untergegangen ist, sollte jedem bewusst sein, der einmal eine x-beliebige Zillo Ausgabe aufgeschlagen hat und sich völlig zurecht wunderte, was einem da hinter verschmiertem Eyeliner und Tüll böse entgegenglotzt. Danach mag man fast mit aller Wut sämtliche Joy Division, The Cure und The Sisters of Mercy Platten aus dem Haus jagen, denn sie haben uns zwar einerseits mit Seele und Herz bereichert, über viele Jahre – aber verdammt: Sie haben dafür auch Grausamkeiten wie Subway to Sally, Samsas Traum, Goethes Erben und Ooomph! auf den Plan gerufen, mit deren Gral völlig ohne Hirn und Seele weiterzurennen. Man kann sich seine Fans aber leider bekanntermaßen nicht aussuchen.
Es tut daher gut eine Band wie die Savages zu hören. Kritiker werden offensichtlich nicht müde, die Nähe zu den Koryphäen des Genres zu betonen, im Guten wie im Schlechten. Zu erwähnen, dass die Sängerin doch auch so drastisch und ängstlich ins Publikum stiert, wie einst Ian Curtis. Das ist mir egal. Man kommt zwar nicht umhin, diverse Anklänge zu finden, sei es der schwebende Bass, der schon „Unknown pleausures“ unheimlich und eindringlich machte, die klirrenden, ins Fleisch reißenden Gitarren und all die Schattenspiele und Klangexperimente, die in ähnlicher Form auch auf „In the flat field“ zu hören sein könnten. Und natürlich Jehnny Beths Gesang selbst, ein wahrer banshee wail. Doch all das macht noch keine drittklasige Coverband, zumal die Savages auf „Silence yourself“ vielfach gänzlich anders arbeiten. Daher: Hat sich einer dieser Kritiker überhaupt die Alben angehört, über die er spricht?
Die Musik der Savages ist dunkel, schwefelgiftig und wirkt auch tatsächlich ein wenig wie die mörderische Welt aus Goldings „Lord of the flies“, auf dessen Vorlage die Bennenung der Band beruht. Was aber entscheidend ist, ist die Tatsache, dass die Band keinen Soundtrack zum Sterben und Vegetieren liefert, kein lethargisches Stell-Dich-Ein mit dem Tod oder dem Typ neben Dir auf der nächsten Grufti-Party in Deiner Nähe, sondern eine rasante, keifende Platte, die weitaus dynamischer und zupackender ist, als es es für eine blasse Remineszenz üblich ist. Man mag es kaum laut sagen, aber ja: Die Band rockt. Und beißt. Und wütet. Und hasst. Und spritzt Galle auf Deine Boxen.
Die Untersuchung von Geschlechterrollen ist eines der zentralen Themen von „Silence yourself“. „Hit me“ etwa ist eine bestialische Homage an die amerikanische Pornodarstellerin Belladonna; ein gurgelnder Track, der ganz entgegen der ersten Vermutung mehr darstellt, als eine Aufforderung zum Hau mich, baby, sondern vielmehr den Gedanken dahinter befasst, dass Weiblichkeit vielleicht noch mehr ist, als Puder, Lächeln und Zärtlichkeit. Und das Animalismus, Triebhaftigkeit oder Brutalität Verlangen sind, die weit abseits dessen stehen, was in einer Welt aus Glamour, Glitter, Fashion Week und Germanys Next Top Model am Donnerstag Abend noch an die Oberfläche gelangen darf. Im lesenswerten Pitchfork Interview sagt Beth dazu u.a.: „It’s not about domestic violence at all. It came from a documentary about a porn star. In it, she was crying, not because she had been raped, but because the scene she had just done was so emotionally intense, she was feeling full. And the documentary turned it into something very evil, like she had been a victim. And I hate when women are turned into victims like that. I was thinking, „She’s not a victim, she knows exactly what she’s doing.“ She’s actually, I thought, really impressive.[…]It was interesting to think that desire was coming from awkward places and not necessarily from the twee, obvious things that we think are feminine, but aren’t. I like twisted, original desires. To twist that thing is very important, because it’s the existence of life.“
[Anm: So sehr ich diesen Standpunkt einerseits teile (ja, auch Frauen brauchen oft Sex, und ja, so manche davon mag sicher auch ganz besondere Vorlieben haben), so unbehaglich ist mir dennoch der Aufhänger dieser Ansage. Gewalt ist ein eigentümliches Verlangen, gerade auch wenn es mit Liebe verbunden ist, auch wenn Beth das im ersten Satz wohlweislich ausschließt. Dennoch ist es kurios in einem Sektor wie der nahezu vollständig von Männern konzeptionierten und domestizierten Pornobranche von einem auch nur in irgendeiner Weise ausgelebten femininen, ach was, menschlich glücklich machenden Bedürfnis zu sprechen. Ich glaube an keine Revolution, wie es etwa Sasha Grey in einem Interview mal beteuerte, sofern man dem Typ, mit dem durch Viagra fixierten dritten Bein, auch mal kräftig entgegenhaut. Und ich glaube auch nicht, dass Feminismus und Aufklärung beim Unterleib reiben am Bahnhofsklorand beginnt, wie es Charlotte Roche in „Feuchtgebiete“ passagenweise anschneidet. Wenn doch: Sollte das dann etwa erbaulich sein? Ich bin mir da nicht so sicher.]
Aber zurück zu „Silence yourself“: Es ist natürlich ein massgebender Punkt, dass hier eine Frau schreibt. Und sich von Frauen umgibt. Und auch ausschließlich aus der Sicht einer Frau verfasst. Die Thematik Sex, Gewalt und unterdrückte Weiblichkeit wird neben „Hit me“ u.a. auch in „City’s full“ angeschnitten („So many skinny pretty girls around /Honestly, I just wanna go down /Try to pretend there’s nothing wild/Why do you treat yourself so bad“), wie auch in „She will“ („Get hooked on loving hard/Forcing the slut out“), wobei die Frage erlaubt sein muss, was Beth damit bezeugt, wenn sie sich auf lyrischer Ebene als Frau stilisiert, die küsst, wie ein Mann und im vollen Rausch, man mag fast gierig schreiben, die Nutte aus sich heraus presst? Ich möchte die Tracks ungern als sadomasochistische Lobreden verstehen, aber etwas stimmt mich an diesen Gedankengängen unwohl.
Das zweite große Thema von „Silence yourself“ ist die Entfremdung. Bereits auf dem Cover des Albums ist von einer düsteren Welt zu lesen, die immer schneller und unpersönlicher wird, von Menschen, die zu schnell – aus Angst, aus Inkonsequenz, aus fehlender eigener Vision – dabei landen, available zu sein, ganz zu verschmelzen mit einer sich selbst verschlingenden Gesellschaft, bei der es keine leisen, individuellen Zwischentöne mehr geben darf. Das ist natürlich richtig. Es braucht keine großen Bemühungen, um zu bemerken dass – zwischen dauerhaftem Beschallen irgendwelcher Sender, dauerhaftem Stress (du bist schließlich die Elite der Zukunft, Süßer!), dauerhaftem Zurückstellen von eigenen Bedürfnissen, bis sämtliche Mittelstufler bereits mit unterlaufenen Augenringen beim Psychiater vorgeladen werden und der Tatsache, dass ganz öffentlich zum Mord aufgerufen wird, sofern etwas außer Plan verläuft – etwas ganz gravierend verkehrt läuft in dieser Welt. „Your head is spinning fast at the end of your spine/Until you have no face at all“. Es mag sein, dass diese Gedankengänge alt sind, uns nichts Neues mehr verraten können, von ihrer Dringlichkeit und Aktualität haben diese Themen leider nichts verloren. Mir ist ein Künstler lieber, der etwas ganz Substantielles erneut anprangert, als erneut darüber zu singen, dass es ihm halt mal wieder schlecht geht. Beth verarbeitet dieses beängstigende Konstrukt in einigen Tracks, etwa in „Waiting for a sign“ , „No face“ und „Husbands“, wie auch passagenweise in ein paar anderen. Ja: Eine Gesellschaft braucht Platz für Individualität und Eigensinn, sonst hat sie den Bezug zu sich selbst verloren, ist kopflos geworden. Und ja, manchmal braucht es dafür Stille, aus der Klarheit erst erwächst.
Nachdem ich versucht habe zu verdeutlichen, inwieweit Beths Lyric sich massiv von ihren maßgeblichen Vorreitern unterscheidet, will ich mich der Musik selbst zuwenden, die ebenfalls oftmals ganz andersartig ist. Das Brodeln, das mich etwa bei „Closer“ bis heute berührt, gibt es zwar auch hier, allerdings ist „Silence yourself“ eine dementgegen weitaus offensivere, aggresivere Platte. Schon der Opener, „Shut up“ besticht durch kraftvolle, extrem dynamische Riffs – er wirkt getrieben, hat aber dabei eine angenehme Natürlichkeit. Mich fasziniert enorm, wie der Gesang sich hier mit den immer weiter auftürmenden Instrumenten verbindet (die grelle Gitarre ist generell absolut fantastisch!), um zum Ende in einem Strudel aus Geräuschen unterzugehen. Das ist einerseits stürmischer Rock, aber auch das richtige Maß an Düsternis, Dekonstruktion und garstiger Noisegewalt. Ernsthaft: Liebe Leute, das ist keine Musik, zu der man benommen auf den Boden stiert, die Arme originalgetreu hinter dem Rücken, sondern ein Track, an dem man sich die Zigarette anzünden und mit dessen Riffs man Diamant schneiden kann. Kurz: Alles an diesem Track ist ungezügelt, explosiv, rau und kämpferisch – dass sich die Band frei übersetzt „die Wilden“ (Savages) nennt, geht hier voll auf.
Ähnlich markant ist auch „She will“ mit einer sofort zupackenden Melodie oder „Waiting for a sign“, das aus krächzendem Stahl dröhnend immer mehr an Kontur gewinnt. Der Track hat eine angenehm verstörende Ästhetik und geht im Refrain über in ein betäubendes Gewitter, bei dem mich vor allem die Tatsache beeindruckt, dass Musik und Gesang sehr kontrastreich zueinander funktionieren. Noch toller ist allerdings, was am Ende geschieht: Das Schlagzeug verlangsamt sich zum Trab, während die Saiten immer mehr heulen und sich zu einer arabisch angehauchten Note die Sägezähne wetzen. Howling! Besonders angetan hat es mir allerdings, dass Savages sich den düsteren Todesgesang von „Marshal Dear“ für den Schluss aufgehoben haben. Der Track enthält alles, was ich an Gothic Rock oder meinetwegen Post-Punk liebe: Dieses hereinkullernde, zunächst repetitive Klavier, der Bass, der hier stellenweise anleitend ist, die ausbrechende Dynamik, der stellenweise fast nüchterne Vortrag, mit dem Beth sich dem anbahnenden Tod annimmt – und die Kraft mit der die Titelzeile „Silence yourself“ heraustritt. Und wie das Gerüst, ganz bleich geworden zum Schluss, mit einer intensiven Bass-Klarinette ins Nichts abgleitet. Wow.
Ich will es kurz fassen: Für mich sind die Savages bei allen Anklängen mehr als eigenständig.
Und auch wenn ich manche Abschnitte der Lyrics zwar noch etwas unkonkret oder auch schablonenhaft finde, so sehr beeindruckt es mich, wie lebendig und kraftvoll Musik dieser Art auch heute noch wirkt. „Silence yourself“ ist kein makelloses Album (ich finde etwa „No face“ und „Hit me“ als Songs selbst weniger gelungen, als die Gedanken dahinter – und der stellenweise geradezu metalllastige Klang der Gitarren von „Strife“ lässt mich auch nicht unbedingt schwärmen), aber ein wunderbares Zeitdokument, das man völlig schamlos neben die großartigen Bauhaus und Cocteau Twins Aufnahmen ins Regal stellen kann. Mit dem nötigen Sicherheitsabstand.--
Hold on Magnolia to that great highway moonAchso: Meinungen, wie auch generell Feedback ist natürlich sehr erwünscht. Kontroversen und besonders begründete Gegendarstellungen ebenso.
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Hold on Magnolia to that great highway moon
AnonymInaktivRegistriert seit: 01.01.1970
Beiträge: 0
Was du da über „Gothic-Rock“ schreibst, traf schon vor über zwanzig Jahren zu. Zu dem Zeitpunkt hatte ich zuletzt ein „Zillo“ in der Hand. Jehnny distanziert sich ja auch selbst davon. Überhaupt würde ich bei Savages nicht von „Gothic“ oder „Gothic Rock“ sprechen. Dazu sind sie viel zu kämpferisch, ohne klare Wurzeln in irgendeiner Szene zu haben. Zum Glück, denn das würde die Band und ihre Message („Don’t let the fuckers get you down!“) die tatsächlich eigenständig und eigensinnig ist, nur trivialisieren. Man kann die Band ähnlich schwer klassifizieren wie etwa Television und das ist auch gut so. Für mich ist „Silence Yourself“ weiterhin das beste Album des Jahres.
„No Face“ und „Hit Me“ sind auch für mich die schwächeren Tracks, „Strife“ dagegen liebe ich.
Später vielleicht mehr. Ich konnte deinen Text nur einmal schnell lesen, weil ich gerade in Eile bin. Keep up the good work, Irrlicht!
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Danke, kramer.
kramerWas du da über „Gothic-Rock“ schreibst, traf schon vor über zwanzig Jahren zu. Zu dem Zeitpunkt hatte ich zuletzt ein „Zillo“ in der Hand.
Stimmt schon. Mir scheint allerdings, dass die Szene zunehmend in seichtere Gewässer abdriftet. Vor etwa zwanzig Jahren gab es immerhin noch die letzten Aufnahmen von This mortal coil und Miranda sex garden, London after midnight haben mit „Psycho magnet“ und „Selected scenes from the end of the world“ zwar nicht revolutionäre, aber doch durchaus Werke veröffentlicht, die überaus hörenswert sind, was ebenso für die leider zu unrecht geächteten Fields of the Nephilim gilt. Und mit riesigem Spielraum kann man vielleicht auch die Swans noch in ähnlichen Gefilden verorten (auch wenn das der Band um Michael Gira dann doch sehr unrecht tut). Heute ist das, denke ich, weitaus halbgarer, es wurde massenhaft mit Orchester, mit Metal, Industrial und anderem quergekreuzt und meist ist nicht mehr dabei aufzufinden, als Plattitüden, Mittelalter-Gossip und The beauty and the beast Gesänge (Grundzgesang trifft auf Sopranträllerei).
kramerÜberhaupt würde ich bei Savages nicht von „Gothic“ oder „Gothic Rock“ sprechen. Dazu sind sie viel zu kämpferisch, ohne klare Wurzeln in irgendeiner Szene zu haben.
Kann ich verstehen. Zumal es bereits schwer genug ist, Gothic Rock überhaupt klar zu klassifizieren. Wenn man u.a. die im Text erwähnten Gruppen als Ausgangspunkt nimmt, kann man aber immerhin einige Trademarks erkennen, die sich auch bei den Savages auffinden lassen. Wenn auch in etwas anderer Art und Weise. Also tatsächlich mehr der Gothic Rock, der noch stark im Punkrock verwurzelt ist, nicht der, auf dem Blutengel und HIM wachsen sollte.
kramerSpäter vielleicht mehr.
Sehr gerne.
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Hold on Magnolia to that great highway moonEine gute und detaillierte Besprechung, Irrlicht, vielen Dank dafür. Ich selbst hab‘ mich mit dem Album noch gar nicht so intensiv beschäftigt, obwohl es auch mein Album des Monats Mai war. Vieles höre ich aber ganz ähnlich wie Du. In puncto Gothic Rock hat kramer natürlich recht. Und Zillo ist wirklich schon seit mindestens 20 Jahren eher ein Witzblatt.
Was mir besonders positiv auffällt, Dein Schreibstil ist viel lesbarer geworden, obwohl er noch immer recht blumig und individuell ist.--
Twang-Bang-Wah-Wah-Zoing! - Die nächste Guitars Galore Rundfunk Übertragung ist am Donnerstag, 19. September 2019 von 20-21 Uhr auf der Berliner UKW Frequenz 91,0 Mhz, im Berliner Kabel 92,6 Mhz oder als Livestream über www.alex-berlin.de mit neuen Schallplatten und Konzert Tipps! - Die nächste Guitars Galore Sendung auf radio stone.fm ist am Dienstag, 17. September 2019 von 20 - 21 Uhr mit US Garage & Psychedelic Sounds der Sixties!MikkoEine gute und detaillierte Besprechung, Irrlicht, vielen Dank dafür. Ich selbst hab‘ mich mit dem Album noch gar nicht so intensiv beschäftigt, obwohl es auch mein Album des Monats Mai war.
Ich habe netterweise Deine Besprechung heute morgen noch gelesen. Die hatte ich bei ihrem Erscheinen leider zu Unrecht vollkommen übersehen, denn das ist ein sehr lesenwerter Text, der verkürzt vieles von dem beinhaltet, was ich hier auch ausgebreitet habe. Dass man „Silence yourself“, wie Du richtig anmerkst, durchaus als etwas wahrnehmen kann, das ganz fern von dem steht, was im Albenthread u.a. als aufgesetzt u.ä. angekreidet wird, freut mich.
MikkoWas mir besonders positiv auffällt, Dein Schreibstil ist viel lesbarer geworden, obwohl er noch immer recht blumig und individuell ist.
Danke. Ich glaube das hat wirklich sehr viel damit zu tun, dass ich mir immer mal wieder nach Jahr und Tag alte Rezensionen (nicht nur in diesem Thread) durchlese und bemerken muss, dass vieles einfach nicht mehr das ist, was ich mitteilen will. Ich finde sie zwar nicht „blumig“ oder „klischeehaft“, aber sie sind stellenweise derart abstrakt, dass es Personen mitunter vielleicht schwer fällt, den Gedanken zu folgen. Zur Zeit, als ich über „Third“ oder auch „Vespertine“ schrieb, hatte ich einen ganz anderen Ansatz, der versucht hat, jede Regung der Musik in Worte und Bilder zu fassen – und so ist auch das Resultat: Es schäumt über vor Bildern, meinen Bildern, die mir beim Hören entstanden sind. Die waren zwar immer aufrichtig, Musik ist allerdings eben ein sehr individuelles Empfinden, sodass derartiges auf manchen Leser eben auch sehr fremd, fast befremdlich wirken kann. Und wichtiger: Mein heutiges Ziel ist es nun nicht mehr, wirklich jede Note für eine Besprechung vollständig auszubuchstabieren, sondern Raum für eigene Eindrücke zu schaffen. Dass das weiterhin immer ein Spagatsprung ist, sehe ich aber auch so. Und dass manche Eigenschaften in meinen Texten immer präsent sind und wohl auch immer bleiben werden, ebenso. Das macht einen eigenen Stil aber auch aus, denke ich.
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Hold on Magnolia to that great highway moonIrrlichtBesonders angetan hat es mir allerdings, dass Savages sich den düsteren Todesgesang von „Marshal Dear“ für den Schluss aufgehoben haben. Der Track enthält alles, was ich an Gothic Rock oder meinetwegen Post-Punk liebe: Dieses hereinkullernde, zunächst repetitive Klavier, der Bass, der hier stellenweise anleitend ist, die ausbrechende Dynamik, der stellenweise fast nüchterne Vortrag, mit dem Beth sich dem anbahnenden Tod annimmt – und die Kraft mit der die Titelzeile „Silence yourself“ heraustritt. Und wie das Gerüst, ganz bleich geworden zum Schluss, mit einer intensiven Bass-Klarinette ins Nichts abgleitet. Wow.
Bin leider jetzt erst dazu gekommen, Deinen Text zu lesen und finde die Präzision der Beschreibung großartig – ich wünschte, ich könnte das auch. „Marshal Dear“ ist für mich auch der stärkste Moment auf „Silence Yourself“. Ansonsten ist mein liebster Savages-Track immer noch „Flying To Berlin“. Dass er hier nicht enthalten ist, finde ich aber durchaus verständlich, da er die geschlossene Form des Albums stören würde.
Hast Du Torsten Groß‘ Titelgeschichte in der SPEX gelesen? Die Band und ihre Optik ist ja in der Vorstellung von Gemma Thompson entstanden, die dann Beth und die anderen als Mitstreiterinnen für die Umsetzung gewinnen konnte. Manch einer findet sowas ja „unauthentisch“ und „kalkuliert“, aber mich beeindruckt es, wenn einer Band eine Idee zugrunde liegt. Wobei sich zeigen wird, welche Eigendynamik das Projekt nun gewinnt, wie es mit Savages weitergeht.
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AnonymInaktivRegistriert seit: 01.01.1970
Beiträge: 0
Herr RossiManch einer findet sowas ja „unauthentisch“ und „kalkuliert“, aber mich beeindruckt es, wenn einer Band eine Idee zugrunde liegt. Wobei sich zeigen wird, welche Eigendynamik das Projekt nun gewinnt, wie es mit Savages weitergeht.
Was natürlich höllisch dumm ist, denn das würde ja bedeuten, dass Kunst, wenn sie denn „glaubwürdig“ sein soll, nur aus dem Chaos entstehen darf und ihr keine Konzepte und Überlegungen zugrunde liegen dürfen. Absoluter Blödsinn.
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Herr RossiBin leider jetzt erst dazu gekommen, Deinen Text zu lesen und finde die Präzision der Beschreibung großartig – ich wünschte, ich könnte das auch.
Das freut mich wirklich. Lieben Dank!
Herr Rossi“Marshal Dear“ ist für mich auch der stärkste Moment auf „Silence Yourself“.
Ob „Marshal Dear“ der beste Track ist habe ich noch nicht ganz ausgehandelt, aber ich glaube auf lange Sicht packt mich „Shut up“ dann doch am meisten. Der Track enthält eine entwaffnende Mischung aus preschender, auf- und abschwellender Rhythmik und hat generell ein reichlich glänzendes Arrangement – ich mag es, wie sich der Refrain quasi in einen leeren Raum herauskatapultiert und die Stimme dabei gleichermaßen stürmisch und zurückhaltend agiert. Das ist ein großartiges Spiel mit pendelnden Mitteln, etwas, das mich etwa auch bei „The passion of lovers“ von Bauhaus immer wahnsinnig faszinierte. Davon ab, dass der Track einfach unendlich giftig klingt. Die Steigerungsdynamik, die zum Ende hin entflammt wird, gehört zudem zu den beeindruckendsten Momenten, die ich bisher in diesem Jahr gehört habe.
Herr RossiAnsonsten ist mein liebster Savages-Track immer noch „Flying To Berlin“. Dass er hier nicht enthalten ist, finde ich aber durchaus verständlich, da er die geschlossene Form des Albums stören würde.
„Flying to Berlin“ ist, nach meiner Kenntnis, derzeit leider nur als Seven Inch zu bekommen – ich kenne den Track daher bisher leider noch gar nicht. Sofern Savages nicht noch reichlich B-Seiten unter Verschluss halten, sollte dieser neben „Give me a gun“ aber der einzige Track sein, der sich nicht auf dem Album befindet.
Herr RossiHast Du Torsten Groß‘ Titelgeschichte in der SPEX gelesen? Die Band und ihre Optik ist ja in der Vorstellung von Gemma Thompson entstanden, die dann Beth und die anderen als Mitstreiterinnen für die Umsetzung gewinnen konnte. Manch einer findet sowas ja „unauthentisch“ und „kalkuliert“, aber mich beeindruckt es, wenn einer Band eine Idee zugrunde liegt. Wobei sich zeigen wird, welche Eigendynamik das Projekt nun gewinnt, wie es mit Savages weitergeht.
Ich gebe mittlerweile wirklich sehr wenig auf Kategorisierungen wie „unauthentisch“ und „kalkuliert“, sofern danach nicht eine minimal begründende Beschreibung beigelegt ist. Meist sind das leider reichlich dürftige Abhandlungen, die vermeintlich alles längst durchschauen – aber selten mehr verdecken als: Ich hab keine Lust mich damit zu befassen oder überhaupt drüber nachzudenken. Ich behaupte jetzt einfach mal, das ist alles total bemüht. Ich kann an der von Dir genannten „Geschichte der Band“ daher auch wenig verwerfliches finden – jede Bandgründung und auch jeder Name hat bestenfalls immer einen Anlass und ich bin froh über Künstler, die sich über das direkt Unmittelbare auch Gedanken machen. Sprache und Ton haben große Bedeutung, das gilt aber auch gleichermaßen für Bilder, für generelle Optik und die Intention, die hinter einem jeden „Image“ steht. Dass die Savages nicht lediglich eine müde Attitüde aufgreifen und zweckdienlich den schwarzen Kittel umlegen, sollte man aber eigentlich bereits nach dem ersten Song wahrnehmen, denke ich. Hoffe ich.
Torstens Artikel kenne ich leider nicht.
Danke fürs Lesen und Kommentieren.
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Hold on Magnolia to that great highway moonIch habe länger darüber nachgedacht, den Thread in seiner Struktur etwas zu erweitern. Was ich ab heute auch tun werde. Fortan werden hier zwar immernoch vorwiegend Favoriten besprochen, es werden aber auch Mal zu Mal Kurzreviews Einzug finden – und auch kritische Auseinandersetzungen, die manchem Album etwas auf den Zahn fühlen sollen. Für den Auftakt habe ich mir ein Album ausgesucht, das Größendimensionen erreichte, wie kaum ein anderes. Pink Floyds Opus Magnum.
1. Speak to me/Breathe
2. On the run
3. Time/Breathe reprise
4. The great gig in the sky
5. Money
6. Us and them
7. Any colour you like
8. Brain damage
9. Eclipse„The dark side of the moon“ ist kein schlechtes Album. Es ist aber auch leider kein besonders Herausragendes. Pink Floyds achtes Studioalbum hat nun leider den Nachteil, dass sich darum ein großer Mythos aufgezogen hat, dem man offensichtlich nur allzu gerne aufliegt – nämlich dem, dass es ein konzeptionell hochwertiges Album wäre. Das ist es nicht. Waters und Co. haben mit „The dark side of the moon“ ein ganz hübsches, kleines Popalbum erschaffen, das allerdings keinem einzigen Vergleich standhält und in diesem Jahrzehnt noch nicht einmal zu den drei besten Alben der Band selbst zählt. Das Album hat seine Momente, in denen es zu den psychedelischen Wurzeln zurückgreift, versammelt aber auch einiges an überambitionierter Langeweile.
Mit pochenden Herzschlägen und Uhrenticken beginnt Pink Floyds große Mythosmaschine – „Speak to me“ nimmt dabei bereits Sequenzen aus „Money“ und „The great gig in the sky“ vorweg, klingt dabei aber eher wie ein gestelzter Rohversuch eines Konzepts. Textlich geht es hier um Wahn, eine Stimme lässt uns wissen, dass „sie immer verrückt gewesen war, wie die meisten von uns“ und dass es schwer ist, zu erklären warum eigentlich. Selbst wenn man nicht einmal verrückt ist. („I’ve always been mad, I know I’ve been mad, like the most of us/very hard to explain why you’re mad, even if you’re not mad…“). Wieder was gelernt, Freunde! Ähnlich düster geht es dann im einlaufenden „Breathe“ weiter, dessen „Reprise“ am Ende von „Time“ noch einmal auftauchen wird. Vor einem leicht bedüdelten Schlagzeugtakt und Gilmours schlafwanderischen Gitarren sinnert die auktoriale Geschichte weiter: Man atmet ein und atmet aus, und ehe man sich versieht, ist man bereits tot – Waters wählt hier das Bild eines Hasen, der seine eigene Grube buddelt. Auch wenn der Text dabei ähnlich vage ist, wie nahezu alles auf „The dark side of the moon“ kann man immerhin festhalten, dass es dem Protagonisten dieser Szene verdammt schlecht geht. Ständig muss er sich bemühen, schnell genug zu rennen, um seiner eigenen Entfremdung zu entkommen (dafür dient etwa die kreative Blaupause „On the run“, die im Anschluss folgt). Und Angst davor allein zu sein hat er auch („Leave, but don’t leave me.“). Während eine Frauenstimme Flieger am Himmel registriert und dabei mit der Yolo-Message „Live for today, gone tomorrow, that’s me“ endet, eiert sich ein Keyboard durch den Mix und blubbert munter dreieinhalb Minuten durchs Hirn, die gefühlt aber eine Viertelstunde dauert. Es mag eine gute Idee sein, Bewegung zu vertonen, aber die Mittel dazu dürften gerne aufregender sein – es grenzt fast an eine Farce „On the run“ für ein Kunststreich zu halten, wenn man sich vergegenwärtigt, was zu dieser Zeit bereits möglich war. Allein Tangerine Dreams „Phaedra“, das übrigens im gleichen Jahr erschien, lässt diese müde, aufgedonnerte Fingerübung zur kahlen Wand verbleichen.
Offensichtlich sah die Band das ähnlich und fügte daher daran nahtlos die ohrenbetäubendste Uhrenekstase an, die vielleicht je ein Album betreten hat. „Time“ ist der erste Song des Albums und ist als solcher tatsächlich erstaunlich gut. Das Pochen der ersten Sequenzen tritt hier wieder in Erscheinung und die Keyboards, die nebenbei zu hören sind, entwickeln eine faszinierende, subtile Dynamik und Anmut, die dem Gros des Albums sonst fehlt. Auch das Schlagzeug klingt in seiner leichtfüßigen Verlorenheit ziemlich spannend. Thematisch geht es in „Time“ – wie sollte es auch anders sein – um die Zeit. Momente, die man mit unnötigen, langweiligen Tätigkeiten zubringt; und dem Warten darauf, dass jemand oder etwas diesen Zustand verändert („Waiting for someone or something to show you the way“). „Time“ ist dabei aber alles andere, als aufmunternd: Der Protagonist jagt der Sonne nach, die aber längst untergeht und die Jahre werden kürzer, die Zeit ist vorbei – das Lied zu Ende. Man mag einwenden, dass diese Gedanken ihre Berechtigung haben, ich finde die textliche Seite aber ähnlich schludrig, wie die meisten anderen des Albums auch. Es gibt keine Konkretheit darin, ständig ist die geschundene Seele seinem Schicksal verdonnert und in seinem Lebenskäfig gefangen. „Thought I’d something more to say“ ist die letzten Zeilen und ich wäre froh darum, ich hätte etwas mehr erfahren, als dass älter werden einfach nur ziemlich scheiße ist („The sun is the same in a relative way, but you’re older/Shorter of breath and one day closer to death.“).
Nach dem wieder eher langweiligen „Breathe reprise“, der Heimkehr und die Magie der „iron bell“ thematisiert (womöglich ein Rückgriff auf die Uhren von „Time“), geht es mit „The great gig in the sky“ weiter, dem m.M. nach größten Track des Albums. Clare Torry erhielt nur vage Vorgaben (vage ist sowieso DAS Schlüsselwort des Albums), wie der Gesang zu gestalten sei – die Töne sollten länger gehalten werden und Text sollte nicht vorkommen: Es ist in diesem Sinne eine freie Improvisation, die mancher gerne als Tonleiterübung abtut, die aber der beseelte Lichtblick des Albums ist. Torry singt mit großer Hingabe und Innbrunst – und mir gefällt es gerade, dass ihr Gesang dabei etwas krächzend und unsauber klingt. Zusammen mit den Klaviertönen ergibt das eine kurze Wendung, weit fort von der verkopften Ästhetik des Restalbums. Eine Stimme erklärt uns allerdings zu Anfang und Ende erneut, dass sie keine Angst vor dem Sterben habe, da dieser [der Tod] sowieso irgendwann komme – man sollte an dieser Stelle vielleicht erwähnen, dass praktisch in jedem Abschnitt des Albums irgendwann irgendjemand das Zeitliche segnet oder verrückt wird. Womöglich ist das der rote Faden der Geschichte von „The dark side of the moon“.
Die drei Stophen von „Money“ versuchen im Anschluss einen Grundriss von Profitgier, Selbstherrlichkeit und der Macht des Geldes zu zeichnen („Money, it’s a hit“), sind dabei aber ebenfalls zu fokuslos, um wirklich gut zu sein. Waters parodiert sich dabei als reicher Mann, der zwischen teuren Autos, Kaviar und eigenem Footballteam den Bezug zu sich selbst verliert; der zwar gerne fair teilt, aber nur, wenn ihm das größte Stück vom Kuchen bleibt. Aber im Ernst: Die Charakterzeichnung ist dabei ähnlich tiefsinnig, wie die der Statisten aus der RTL Sendung „Das Jugendgericht“. Der Protagonist hat keinerlei Innenleben, ist hölzern und mechanisch – es ist ein Wunder, dass der Text vom selben Mann entworfen wurde, der später „The Wall“ und „The final cut“ inszenierte. Musikalisch liefert der Track dazu eine nett holpernde Popmelodie im 7/4 Takt, ein wenig Kassenklimpern (die Band soll dazu Münzen in ein Kochtuch eingewickelt und für die Aufnahme kräftig durchgeschüttelt haben) und einen nach meinem Dafürhalten viel zu dominanten Bass-Riff. Der Track hat eigentlich einen guten Groove, erweckt aber auch ungute Erinnerungen und neigt bisweilen zum Schunkeln. Dass die Aufnahme mit Gitarrensolis und Bläsern im Mittelteil etwas ausbricht, beraubt der Sache zwar etwas ihrer Tranigkeit, wirkt mit seinen seltsamen Feedbacks dann aber auch nicht weiter erwähnenswert.
Ganze sieben Minuten und fünfzig Sekunden entführt uns Pink Floyd im Anschluss mit „Us and them“ in die Welten der Lounge-Muzak. Gähn. Und nochmals: Gähn. Man kann diesem Track zugute halten, dass er nach dem behutsamen Orgelintro in eine wirklich hübsche Melodieabfolge überleitet – viel mehr Positives gibt es dazu aber nicht zu sagen. Während vor meinem geistigen Auge derweil weisse Schwäne über irgendwelche Seen flattern – der Track ist so harmonisch, wie ein Portrait der Natur, das man sich über den Kamin hängt -, kredenzt Waters einen Text, der nicht nur kaum Sinn ergibt, sondern auch noch unendlich langweilig interpretiert wird. Es geht grob beschrieben um ein vorbestimmtes Leben, um Orientierungslosigkeit, um Armut und „a battle of words„. Waters switcht dabei zwischen verschiedenen Perspektiven: Erst überblickt er die trübselige Szene, dann werden Fetzen aus vorderster Front eingewoben („And the general sat and the lines on the map/moved from side to side.“) – und am Ende stirbt dann mal wieder jemand. Dieses Mal an Armut, keine Scheibe Brot und kein Tee war dem armen Mann vergönnt gewesen. Ein paar Jahre später schrieb Waters für „The final cut“ tatsächlich einige der erschütterndsten Texte, die sich dem Nachkriegstrauma annehmen – was hier zu hören, ist dementgegen ein leidlich zusammenhangloses Wirrwarr. „Black and blue/And who knows which is which and who is who./Up and down./But in the end it’s only round and round.“; „Down and out/It can’t be helped but there’s a lot of it about.“ – wer aus diesen nachhallenden, total nachdenklichen Worten eine clevere Skizzierung des Zeitgeschehens ableiten kann, lässt es mich bitte wissen. Bei mir bewirkt die Aufnahme ähnliche Gefühle, wie das Beobachten von Fischen in einem großen Aquarium.
Während „Us and them“ in seiner Getragenheit immerhin ansehnlich hübsch war, geht mit „Any colour you like“ die große Orgie los. Ich weiß nicht, was Menschen dazu bewegt, eine derartige Nummer auf Tonträger zu bannen, aber das Konzept verlangt es wohl einfach. Gefühlte fünf Keyboards eiern sich ihre Bahn und ich bin der festen Überzeugung, dass die Nummer keine benennenswerte Struktur hat. Gilmours Gitarren sind nett eingebunden – verkommen dann aber auch zu einer relativ lahmen Feedback Nummer, die man sich in etwa so lange merken kann, wie der Track dauert. Himmel, diese Band hat Kompositionen wie „Echoes“ und „Set the controls for the heart of the sun“ entworfen! Und zum Thema Konzept: Ist niemand aufgefallen, wie unsauber der Track eigentlich in „Brain damage“ übergeht? Nicht?
Man muss zur Ehrenrettung (vor der endgültigen Mittelmäßigkeit) anmerken, dass „The dark side of the moon“ zu Ende noch ein paar wirkliche Trümpfe ausspielt. „Brain damage“ besitzt eine schöne, leicht unheimliche Melodie, die der Thematik des Wahnsinns in die Hände spielt. Und die Gitarre, die im Hintergrund wie ein aufgebrachter Vogel fiepst, gibt dem Track eine charmante Randnotiz. Vor allem ist es aber der Gesang, dem hier – vor dem leider übergroßen Refrainausbruch – ein beunruhigendes Flüstern von Worten gelingt. Die Thematik der ersten Tracks wird hier wieder aufgegriffen: Der Irre – oder der, der sich so fühlt -, ist auf freiem Feld und sinniert über Spiele, das Lachen und Gänseblümchenkränze vergangener Zeiten nach („Remembering games and daisy chains and laughs.“). Danach verfaltet er sich zum gebeugten Abstraktum, das vom Papier, das es in den Händen hält, getragen wird – und jeden Tag bringt der Zeitungsjunge das Frischgedruckte! Halten wir fest: Der Track ist ebenso schlecht gelaunt und humorlos, wie die Tracks vorher. Der Protagonist muss mit dem Irrsinn im eigenen Schädel klar kommen und die Tür wieder aufschließen, deren Schlüssel er längt verloren hat. Nun hat er aber immerhin (!) die Gewissheit, dass da draußen jemand auf ihn wartet. Auf der dunklen Seite des Mondes.
„Eclipse“ lässt zum Schluss alle Vorhänge fallen. Alles, was Du liebst, was Du hast, was Du brauchst und berühren kannst, das was Du zerstörst und jeden, den Du in Deinem Leben triffst, kurz: alles unter der Sonne ist in Bewegung. Die Aufnahme hat eine euphorisch aufströmende Orgel und eine packende Innigkeit; und mir gefällt auch der Backgroundchor darin. „Eclipse“ zeigt eine kraftvolle Direktheit, die mich bis heute ziemlich für sich einnimmt. Mit den letzten Takten wird einem aber auch hier klar, dass es für die Welt dieser Inszenierung kein schönes Ende gibt, denn die Sonne wird schließlich vom Mond verdunkelt („[…]but the sun is eclipsed by the moon.“). Und für alle Unwissenden: Der Mond ist immer und überall dunkel! („There is no dark side of the moon really/Matter of fact it’s all dark.“).
Dü-Düt. Dü-Düt. Dü-Düt. Zeit zum Aufstehen, Kinder.
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Hold on Magnolia to that great highway moon
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Schwierig. Ich bin kein großer Freund des Albums, aber ich kenne es ziemlich gut und so passen einige Parts deiner Besprechung ganz gut zum Album, denn sie haben unnötige Längen, da du einige Passagen wirklich sehr ausführlich beschreibst, die wahrscheinlich jeder schon (mehrfach) gehört hat. Das ist ohnehin ein Album und ein Sound, den man nicht wirklich in Worte fassen kann. Auch die Lyrics sind hier aus meiner Sicht vollkommen unwichtig und uninteressant. Ich glaube, ich würde an einen musikalischen Blockbuster, der weniger durch seinen Inhalt und vielmehr durch seinen musikalischen Größenwahn, Technicolor-Sound und Kitsch wirkt, anders herangehen. Es geht hier nicht um ein „konzeptionell hochwertiges Album“, um einen „Mythos“ oder gar um ein „kleines Popalbum“ (diese Einschätzung ist aus meiner Sicht vollkommen falsch). Wenn „The Dark Side Of The Moon“ ein Film wäre, dann wahrscheinlich irgendetwas von Roland Emmerich und wie diese Giagantomie mit dem Hörer spielt und ihn einlullt, ist doch eigentlich genau das, was das Album für die meisten Hörer interessant macht. Gut geschrieben ist die Besprechung ohne Zweifel. Ich bin mir nur nicht sicher, ob sie dem Album gerecht wird.
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kramerIch bin mir nur nicht sicher, ob sie dem Album gerecht wird.
Ich weiß nicht: Ein Album, dass offenkundig derartig um ein Konzept, eine großangelegte Thematik und den zugehörigen Sound bemüht ist, verdient eben auch, dass man diese Aspekte für sich behandelt. Ich habe versucht, meinen Fokus nicht alleinig auf den Lyrics zu belassen (die sind etwa in „Wish you were“ m.E. von größerer Bedeutung), aber ein wenig Analyse muss erlaubt sein, denn „The dark side of the moon“ ist ja nicht nur in Bezug auf seinen Sound „wegweisend“, sondern soll schließlich auch zu Enfremdung und anderen düsteren Themen Wesentliches zu sagen haben. Aus privatem Umfeld kenne ich nicht wenige Leute, die das Album aus eben dem Grund bewundern, weil es die absolute Perfektion eines konzeptionellen Albums ist. Auch in lyrischer Hinsicht. Dem ist aber nicht so. Das Album liefert eine Reihe an Ansatzpunkten (Geld, Einsamkeit, Isolation, Wahn, Gesellschaftsprognosen), ist aber bei keinem davon für allzu große Konkretheit zu haben. Und das finde ich alles andere als „uninteressant“ und „unwichtig“, da gerade Waters, finde ich, textlich viel zu sagen hatte – ich halte den Mann für einen großen Künstler. Und Pink Floyd ist für mich generell Muttermilch: Diese Musik hat mich begleitet, wie kaum eine andere. Oftmals blickt man auf ehemalige Favoriten zurück, vertieft sich in ihnen und entdeckt auf einmal Großartigkeiten, die man zuvor nicht bemerkte (oder noch nicht verstand). Bei „The dark side of the moon“ trat das Gegenteil ein: Hinter dem großen Bombast ist einfach nicht allzu viel.
Dass die Bennenung des Werks als „Popalbum“ Dich eher abschreckt, kann ich verstehen. Ich kann das Album allerdings weder psychedelisch, noch avantgardistisch finden. Und progressiv, im Wortsinne, ist es im Grunde auch nicht. Wenn man bedenkt, wie das Album bis heute an Resonanz behält, würde ich doch von einer Art Pop-Phänomen sprechen. Ich meine: Selbst das Cover mit seinem Farbenprisma ist zur unzerstörbaren Stilikone geworden!
Dass Du den Text gelesen hast, freut mich aber sehr. Danke dafür.
P.S. Wie hättest Du das Album denn beschrieben?
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Hold on Magnolia to that great highway moon -
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