Jazz zwischen Kunst und Kommerz

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  • #9118401  | PERMALINK

    Anonym
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    soulpopedie sich verändernden Präferenzen.

    gypsy tail windKlar, und die hängen wiederum mit der eigenen Entwicklung zusammen

    grünschnabelZu Coltrane: […] ist da wohl in der Tat Schluss mit lustig.

    ferryDer Wunsch des Pop- Hörers nach einfachen musikalischen Formen, eingängiger Melodie wird mehr oder weniger nicht erfüllt.

    Hörerfahrung ist das Stichwort, jedenfalls, was mich betrifft.

    Ich zum Beispiel war ursprünglich ein entschlossener Pop-Hörer mit starker Affinität zu Soul einerseits und Singer/Songwriter-Tradition andererseits. Jazz? Verkopftes Gegniedel, Vielnotengehechel, Wichserei – das wusste ich so genau, dass ich es mir gar nicht erst näher anhören musste. Die Tür in den Jazz war dann für mich Mingus – Ah um war unmittelbar anschlussfähig, in Better Git It In Your Soul habe ich spontan Gospel- und Soul-Energien zu hören geglaubt, die mir vertraut waren, da war nichts von dem, was ich in meinen Klischeevorstellungen mit Jazz verband. Die ganz unmittelbare Botschaft an mein Rückenmark lautete: Wow, Jazz kann ja funky sein! Wenn man aber erst mal durch die Tür getreten ist, tun sich weite Landschaften auf. Schon bei Mingus selbst ist so vieles drin, von jazztraditionellen bis jazzavantgardistischen Anknüpfungspunkten, Ellington und noch Älteres einerseits, Free-Musizierweisen andererseits.

    Wenn man sich Schritt für Schritt weitertastet, kommen einem Aufnahmen, die man, unvorbereitet reinhörend, unzugänglich gefunden hätte, plötzlich ganz leicht erreichbar vor, man muss quasi nicht einen Berg erklimmen, sondern nur von Treppenstufe zu Treppenstufe gehen. Miles Smiles, Out to Lunch, Spiritual Unity … Und Coltrane? Den Zugang hat mir da zunächst Elvin Jones erschlossen, das Schlagzeugspiel, der Rhythmus, das war für mich emotional nicht so weltenweit entfernt von James Brown, und wenn dessen Grooves mal zehn Minuten tuckerten, kam mir das nie beliebig oder unfokussiert vor, sondern hineinsaugend. Coltranes solistischen Höhenflüge über Jones‘ Groove habe ich erstmal nur so mitgenommen, bevor sie mich mit der Zeit zu begeistern begannen und ich merkte, dass beide zusammen noch viel größer sind.

    Hörerfahrung. Im Prinzip funktioniert das so auch jenseits des Jazz: Vom Singer-/Songwriter-Pop oder vom Americana-Pop aus führen so viele Spuren zurück in Country, Folk und weiter zu Bluegrass oder was auch immer. Und so kann es passieren, dass Du bei Cat Stevens angefangen hast und über Dylan bei den Stanley Brothers gelandet bist.

    Insofern glaube ich: Wenn jemand sagt, irgendwo sei für ihn Schluss mit der Nachvollziehbarkeit (ob das nun Coltrane sein mag oder George Jones), muss das nicht das letzte Wort sein, vielleicht ist es nur eine aktuelle Momentaufnahme, eine Beschreibung des derzeitigen Hörgrenzverlaufs.

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    #9118403  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    bullschuetzInsofern glaube ich: Wenn jemand sagt, irgendwo sei für ihn Schluss mit der Nachvollziehbarkeit (ob das nun Coltrane sein mag oder George Jones), muss das nicht das letzte Wort sein, vielleicht ist es nur eine aktuelle Momentaufnahme, eine Beschreibung des derzeitigen Hörgrenzverlaufs.

    Das ist zu hoffen! Ich hatte oben auch niemanden von hier im Auge, aber mir begegneten schon da und dort Leute, die quasi zugemacht haben. Bis hierhin und nicht weiter, niemals, keine Chance, das zu hinterdenken oder etwas anderem jemals wieder ein Ohr zu leihen. Das meinte ich, das stimmt mich traurig.

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #163: Neuentdeckungen aus dem Katalog von CTI Records (Teil 2), 13.5., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #9118405  | PERMALINK

    go1
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    Ein spannender Thread mit vielen guten Beiträgen. :-) Danke dafür! Ich will noch einen Kommentar nachtragen zu einem Diskussionsstrang, der eigentlich schon durch ist (in den letzten paar Tagen war ich halt nicht hier, das kommt davon).

    bullschuetzUnd damit wäre Blue Note/Lion ein weiterer Beleg dafür, dass ökonomisches Kalkül, kaufmännischer Verstand oder pragmatische Erdung (oder wie immer man das nennen will) der Kunst nicht unbedingt im Wege stehen muss, sondern manchmal helfen kann, einen Stil zu definieren, oder die Musiker gar dazu zwingt, eine Klangidee auf den Punkt zu bringen (wobei ich, um ehrlich zu sein, Hardbop manchmal nur in Maßen ertragen kann, weil mir das dann tatsächlich bisweilen etwas formatiert vorkommt, relativ nahe am Klischee).

    Jedenfalls darf man solche über ein Label vorgegebenen Korsett-Strukturen nicht nur als die Kunst lähmend, domestizierend, einschränkend verstehen – auch Blue Note ist ja ein Beispiel dafür, dass innerhalb dieser relativ straffen Struktur eine große Dynamik freigesetzt wird, eine gut geölte Aufnahme-Maschine zu schnurren beginnt, da bekommen plötzlich viele Musiker Gelegenheit, oft und unter professionellen Aufnahme- und Vermarktungsbedingungen ihre Arbeit zu machen; so gesehen ist das ein ausgesprochen kunstfreundliches Umfeld.

    Der erste Teil der These („Ökonomisches Kalkül etc. muss der Kunst nicht unbedingt im Wege stehen“) ist so schwach formuliert, dass niemand widersprechen wird, und deshalb als These nicht besonders spannend. Dass es da einen „unbedingten“ Widerspruch gebe, hat noch niemand behauptet. Wer die Kommerzialisierung der Kunstproduktion kritisiert, meint nur, dass ökonomisches Kalkül, Streben nach Gewinn, Marktdruck usw. ein kunstfremder Faktor ist, der das Kunstschaffen erschwert oder behindert – weil er die Beteiligten dazu bringt, auf Marktgängigkeit zu achten statt auf das, worauf es eigentlich ankommen soll in der Kunst (individueller Ausdruck, freies Spiel der Phantasie, die künstlerische Vision oder was auch immer). Der Marktdruck gilt den Kritikern als widriger Umstand. Dass auch unter solchen Umständen gute Kunst geschaffen werden kann, ist dabei mitgedacht, denn Kunst ist immer schon unter widrigen Umständen entstanden – da sind kommerzielle Zwänge nur eine Variante von vielen.

    Wer von seiner Kunst leben will, muss entweder eine „Marktnische“ finden oder braucht einen Mäzen oder ist auf Staatsgelder angewiesen – in allen drei Fällen muss man sich mit Erwartungen auseinandersetzen, die dem eigenen künstlerischen Drang zuwiderlaufen können (nicht müssen, aber es oft genug auch tun – die Schriftstellerin Ursula LeGuin hat in Bezug auf das Streben nach Marktgängigkeit der eigenen Werke vom „Stalin in the soul“ gesprochen, der einen dazu bringt, manche potentiell gute Idee von vornherein zu verwerfen). Und wer nicht von seiner Kunst lebt, ist dadurch gehandicapt, dass der Brotberuf ihn Zeit und Energie kostet. Was da das kleinere Übel ist, lässt sich wohl nicht allgemein beantworten.

    Eine wirklich freie Kunstproduktion kennen wir doch gar nicht. Dass es allen Menschen möglich sei, ihre Kräfte frei als Selbstzweck zu entfalten, ist immer noch Utopie. Dieser utopische Gehalt: die freie Entfaltung des Individuums, ist aber Teil unseres (bürgerlichen, abendländischen) Kunstideals, Teil des kulturellen Erbes – wenn ich mal philosophisch werden darf (ich höre gleich wieder damit auf). So lange es noch genügend Leute gibt, die dieses Ideal auf ihre Fahne schreiben, geht der zweite Teil Deiner These daran zuschanden („Musiker dazu zwingen, eine Klangidee auf den Punkt zu bringen“): Manchen kommt es eben darauf an, ob es wirklich ihre Klangidee ist… Wenn viele dieselbe Klangidee „auf den Punkt bringen“, ist sie bald nur noch ein Klischee, wie Du selbst sagst.

    Aber unabhängig davon, was man allgemein von Deiner These hält, ist Blue Note kein gutes Beispiel dafür. Ja, auch Alfred Lion hat darauf geachtet, dass Geld hereinkommt und genügend Platten auch verkäuflich sind – aber das war keine Eigenart von ihm, sondern Notwendigkeit. Dasselbe gilt für alle anderen Label-Chefs und Jazz-Produzenten, die es seinerzeit gegeben hat, auch. Bei Lion war wahrscheinlich der Idealismus größer und der Bereicherungstrieb geringer als bei den meisten seiner Konkurrenten. Was hat er denn gemacht? Er hat nicht alles veröffentlicht, was seine Künstler aufgenommen haben, um die Nachfrage nicht zu übersättigen (und die Kosten zu begrenzen), er hat nach Stücken wie „The Sidewinder“ Ausschau gehalten und Künstler ermutigt, so etwas auszuprobieren, und von den halbwegs massentauglichen Stücken hat er Single-Edits für die Jukebox machen lassen – viel mehr war es doch nicht, soweit ich das überblicke. Da spielte anderswo das ökonomische Kalkül vermutlich eine größere Rolle.

    Und das Kunstfreundliche an Blue Note waren wohl weniger die vom „Label vorgegebenen Korsett-Strukturen“ („two horns, three rhythm“ als Standardbesetzung und dergleichen), sondern schlicht der Kunstverstand von Lion, Wolff, Ike Quebec und all der anderen und vor allem die bezahlten Proben, die es bei anderen Labels nicht gab (nail75 hat das erwähnt). Bei Prestige sind dem Vernehmen nach die Junkies mal eben schnell ins Studio gegangen und haben ein Album aufgenommen, um sich damit das Geld für den nächsten Schuss zu verdienen. Alfred Lion hat seinen Musikern vorher Proben finanziert, damit sie bei der Aufnahme gut vorbereitet und eingespielt waren. Diese Investition in Qualität hat kurzfristig die Kosten erhöht und sich erst langfristig ausgezahlt, im Laufe von Jahrzehnten (aber langfristig sind wir alle tot). Als Geschäftsmodell war das so la la, aber der Kunst war es förderlich – weil die Spontaneität und Improvisation, auf die es im Jazz ankommt, auf reichlich Üben und Proben beruht. Kostensenkung und Gewinnmaximierung dagegen haben eher selten das Kunstschaffen gefördert.

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    To Hell with Poverty
    #9118407  | PERMALINK

    Anonym
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    Go1Dass es da einen „unbedingten“ Widerspruch gebe, hat noch niemand behauptet. Wer die Kommerzialisierung der Kunstproduktion kritisiert, meint nur, dass ökonomisches Kalkül, Streben nach Gewinn, Marktdruck usw. ein kunstfremder Faktor ist, der das Kunstschaffen erschwert oder behindert – weil er die Beteiligten dazu bringt, auf Marktgängigkeit zu achten statt auf das, worauf es eigentlich ankommen soll in der Kunst (individueller Ausdruck, freies Spiel der Phantasie, die künstlerische Vision oder was auch immer). Der Marktdruck gilt den Kritikern als widriger Umstand.
    […]
    Wer von seiner Kunst leben will, muss entweder eine „Marktnische“ finden oder braucht einen Mäzen oder ist auf Staatsgelder angewiesen – in allen drei Fällen muss man sich mit Erwartungen auseinandersetzen, die dem eigenen künstlerischen Drang zuwiderlaufen können.
    […]
    Eine wirklich freie Kunstproduktion kennen wir doch gar nicht. Dass es allen Menschen möglich sei, ihre Kräfte frei als Selbstzweck zu entfalten, ist immer noch Utopie. Dieser utopische Gehalt: die freie Entfaltung des Individuums, ist aber Teil unseres (bürgerlichen, abendländischen) Kunstideals, Teil des kulturellen Erbes.
    […]
    Aber unabhängig davon, was man allgemein von Deiner These hält, ist Blue Note kein gutes Beispiel dafür.

    Da kann ich mit fast allem leben und vielem zustimmen, insbesondere, dass Blue Note kein gutes Beispiel ist. Ich bin da eigentlich bloß reingerutscht und habe mich von der Spekulationslust aufs Feld meiner Inkompetenz treiben lassen, nail75 hat ja die Brüchigkeiten grausam präzise entlarvt.

    Der radikal spannendere Fall, den ich weiter oben mehrmals anzureißen versucht habe, ist Motown. Denn da scheint es mir so gewesen zu sein, dass (um mit Deinen Worten zu sprechen:) „ökonomisches Kalkül, Streben nach Gewinn, Marktdruck usw. kunstfremde Faktoren waren, die das Kunstschaffen“ … eben nein, gerade nicht „erschwert oder behindert“, sondern in dieser irren Dichte sowohl fulminant erfolgreicher als auch qualitativ phantastischer und teilweise künstlerisch innovativer Aufnahmen überhaupt erst möglich gemacht haben.

    Dass es so sein könnte, wollen wir alle natürlich gar nicht hören, weshalb ich Motown sowohl „faszinierend“ als auch „provozierend“ genannt habe.

    [Ich bitte schonmal um Entschuldigung dafür, dass ich, falls jemand das kommentieren will, heute nicht mehr antworte, bin steinmüde.]

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    #9118409  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Danke für den Post, Go1!

    Was Blue Note und die Differenzen zu anderen Labeln der Zeit betrifft, ich glaube das hatten wir alles schon einige Male. Aber egal, die Sache mit den Proben stärkt wohl erst recht Deine Behauptung (die ich auch ohne weiteres von mir geben würde), dass es Lion nicht um die Bereicherung ging. Der Mann hatte wohl einfach den Plan, ein verdammt gutes (oder auch: das beste) Jazzlabel zu gründen. Und er hatte den Riecher, sich die richtigen Musiker zu holen, es gelang ihm auch, zugkräftige Musiker (na ja, wir reden ja vom Jazz und Miles, Brubeck oder Ellington konnte er sich dann ja doch nicht leisten, aber die wollte er auch gar nicht) wie Art Blakey oder Horace Silver längerfristig zu binden. Zudem war er es, der Jimmy Smith als Plattenkünstler etablierte (die Unterscheidung ist wohl nötig, denn ich denke mal, im chitlin circuit hätte Smith sich auch durchsetzen können, ohne einen solchen Plattenvertrag). In sechs oder sieben Jahren (1956 bis 1962, dem Jahr, in dem Smith zu Verve wechselte und mit „Bashin'“ eine neue Seite aufschlug aber auch ein Kapitel unwiderbringlich beendete – das Kapitel, das ich mit Abstand das tollste und wichtigste finde!) nahm Lion ca. 25 Alben mit Smith auf (die nicht alle sofort erschienen, klar). Lion war es auch, der Monk etablierte, der mit Bud Powell die wichtigsten Sessions aufnahm und ihm später ein paar der besten Alben abrang, der mit Herbie Nichols und Andrew Hill zwei weitere Solitäre bekanntzumachen suchte (bei Nichols ist er ja leider gescheitert … aber auch da, er nahm innert kurzer Zeit Material auf, das – mit ein paar Alternate Takes – drei ganze CDs füllt!).

    Die Parallele zu Gordy ist wohl wirklich nicht sehr strapazierbar … sie beschränkt sich am Ende auf ein paar offensichtliche äusserliche Fakten (beide leiteten ihr Plattenlabel) und die Feststellung, dass sie auf ihre jeweils eigene Art wohl als Visionäre zu betrachten sind.

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    #9118411  | PERMALINK

    go1
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    bullschuetzDer radikal spannendere Fall, den ich weiter oben mehrmals anzureißen versucht habe, ist Motown. Denn da scheint es mir so gewesen zu sein, dass (…) „ökonomisches Kalkül, Streben nach Gewinn, Marktdruck usw. kunstfremde Faktoren waren, die das Kunstschaffen“ … in dieser irren Dichte sowohl fulminant erfolgreicher als auch qualitativ phantastischer und teilweise künstlerisch innovativer Aufnahmen überhaupt erst möglich gemacht haben.

    Dass es so sein könnte, wollen wir alle natürlich gar nicht hören, weshalb ich Motown sowohl „faszinierend“ als auch „provozierend“ genannt habe.

    Wenn „wir“ (Wer?) das „nicht hören wollen“, liegt das vielleicht daran, dass die Behauptung gar nicht stimmt…

    Eigentlich weiß ich zu wenig über Motown, um dieses Beispiel zu diskutieren – ich bin im Unterschied zu Dir kein Motown-Fan. Aber ich will die Antwort nicht schuldig bleiben (obwohl sie nicht hierher gehört) und werfe provisorisch ein paar Antithesen hin:

    Erstens übertreibst Du: Bei aller Begeisterung über die geliebten Motown-Klassiker sollte man nicht vergessen, dass der Output dieser Pop-Manufaktur zu einem Großteil „product“ war – Qualitätsprodukt zwar, weil gute Songschreiber, gute Musiker und gute Produzenten am Werk waren, aber nichts, worüber ich in Verzückung geraten würde. In meinen Ohren klingt da vieles lahm und dated.
    Zweitens ist der großartige Teil der Produktion durch die versammelten Talente und Mühen der beteiligten Musiker möglich gemacht worden und durch nichts anderes. Diese Kombination von Leuten wäre womöglich unter anderen Umständen, ohne Kommerzdruck, noch kreativer (weil freier und abenteuerlustiger) gewesen – wie willst Du das ausschließen? Sie hätten dann jedenfalls weniger Konfektionsware produziert und weniger Zeit mit der Ausbeutung von Erfolgsformeln verschwendet.
    Drittens hat der kommerzielle Zweck des Unternehmens den Rahmen dessen begrenzt, was bei Motown überhaupt möglich war. Die Kreativität der Künstler konnte sich in bestimmten Formen verwirklichen, in anderen aber nicht. Wer aus diesem Rahmen heraustreten wollte, musste darum kämpfen – was Energien gekostet hat, die andernfalls in die Kunst hätten fließen können.
    Viertens ist auch das menschliche Leid nicht zu vergessen, das durch das Reglement und den Drill in der Pop-Manufaktur verursacht wurde (wie ich annehme – aber da müsste ich mich, wie gesagt, erst einlesen; vielleicht stimmt mein Vorurteil da nicht).
    Aus all diesen Gründen halte ich Deine Ehrenrettung des Kommerzes für verfehlt. Freuen wir uns einfach darüber, dass eine beträchtliche Zahl großer Singles produziert worden ist.

    --

    To Hell with Poverty
    #9118413  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    In den frühen Tagen des Amateurfestivals in Zürich (ab 1951) verlief der Graben, wie Bruno Spoerri und Mario Schneeberger (die mit ihrer Band damals jede Woche probten für einen einzigen Auftritt im Jahr: den am Amateurfestival) gerade in der auf 3sat-laufenden Doku „Jazz in der Schweiz“ erzählten, zwischen „Pfahlbauern“ und „Irrenhäuslern“.

    @go1: auch diesmal Zustimmung von meiner Seite (ein paar Aspekte, etwa den des „product“, wurden ein paar Seiten weiter oben auch schon angetönt).

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #163: Neuentdeckungen aus dem Katalog von CTI Records (Teil 2), 13.5., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #9118415  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Ein längerer Auszug aus einem Interview, das Adam Mansbach mit Sonny Fortune geführt hat (die A&M-LPs heissen „Awakening“ und „Waves of Dreams“ – ich kenne sich nicht):
    _____________________

    … I know there have been a few times when you’ve had to deliberately redirect your career, so as to be true to yourself musically. Can you talk about some of those moments?

    Well, the success of the music that Mongo was doing was something I was concerned about—I didn’t want to get locked up in that. Matter of fact, Creed Taylor [of CTI Records] was offering me—that may be stretching it, but he certainly paid for me to come a long distance to do the two recording dates I did with George Benson [Tell It Like It Is and The Other Side of Abbey Road]. We were in Las Vegas, and he paid for me to come to New York for the first date, paid for my hotel room and everything. The other date, we were in Boston, and he paid for me to come to New York.

    So I was kind of like parallel to Grover Washington. I was moving in that direction, but that wasn’t the direction I wanted to go. Even Mongo and them used to get kind of pissed at me, because I used to take all my records and my record player on the road, and my records were not about them at all. It was about Eric [Dolphy] and Trane and Miles, and that’s what I wanted to do. That’s what I came to New York for.

    By the time I worked with Miles, things were jumping for me pretty much. My first major label recording was on A&M Horizon (1975), and people even now are talking to me about that record. It got a lot of response, a lot of exposure for me. And then I did another record with A&M Horizon called (1976).

    And then you jumped to Atlantic, a real powerhouse of a label, and did Serengeti Minstrel in ‘77, Infinity Is in ‘78, and With Sound Reason in ’79.

    The last two albums were commercial albums and that was when I started getting very frustrated because the music business was changing and the jazz musician was being asked to delve into the fusion. Those records, especially the last record I did, With Sound Reason—which is where the name of my label, Sound Reason, comes from—it’s like a one-over-one smooth jazz recording. One of the problems with the business of music is that the artistry of music has to weave its way through that—that business—if it’s going to survive.

    Especially as the commercial expectations for jazz began to really rise in the mid-to-late seventies.

    Fusion was coming in. Jazz musicians were being forced to consider another point of view, and a point of view that was more appealing to the masses. All of us, with very few exceptions, those who weren’t established and those who were established. Miles was one of them, Cannonball was another one, I won’t say Ramsey Lewis because he was kind of established as a commercial artist already, but Herbie Hancock—everybody delved into this fusion, trying to find this common ground, so if you were trying to get known, such was the case with me, trying to branch out on your own, sooner or later it had to knock on your door.

    That’s what happened with Atlantic. I was making great money. I had a whole lot of money in the bank, but man, it was the most wasteful time in my whole career. I was so frustrated. I couldn’t write a note. The last two dates, the last day I didn’t even write a composition. I felt like anything that I wrote wouldn’t contribute to where I was going and I started being concerned about money and then I found it to be a very, very, very weird kind of place. But it came from the fact that I was kind of elevating in the business. So I made a move.

    How did that go down?

    I just ran into [keyboardist] Larry Willis in Europe a couple of weeks ago and I reminded him of this story, because it all came to a head over a tune he wrote. He wasn’t on the record, but he was the guy I went to to help me with this concept of fusing jazz and commercial. He had worked with Blood, Sweat and Tears, so I wanted the jazz guy who’d played with the rock band to give me something I could grab ahold of. There’s a couple of tunes we did—I play them now, but I don’t play them the way we recorded them. The irony is that when I recorded these tunes, I omitted a lot of the tune because of the endeavor that we were pursuing—if I had played all of the tune it wouldn’t have worked as a commercial tune, so we took a section of the tune to make it more commercial.

    So there was a great tune that Larry had written on With Sound Reason, but the guy at Atlantic—not the producer, but my boss, the guy who was overseer of me and the music—told me he heard vocals on the tune—he wanted to add vocals. I said “man I don’t hear no vocals.” And that was the end of me. I was so frustrated that I went there prepared to make that statement.

    You were looking for a way out?

    I wasn’t looking for a way out—but like I told some guys at the record company, I ultimately gotta live with what I’m doing. I’m trying to sell records just like you are trying to sell records, but I’ve got to feel comfortable about this whole endeavor here. I don’t want to go all the way over there to sell records. So that’s what changed my whole career.

    […]

    Tell me a little bit about Miles’ band. What years were you there?

    I was with the band in ‘74 , and I did about four albums with Miles. [Agartha, Pangea, Big Fun and Get Up With It.] I’d turned down an offer from Miles earlier, when I was with McCoy, but by 1974 I was ready to do something exciting and new.

    Was fusion a pressure thing with him, or was it where his vision was taking him?

    That’s a good question. I don’t know. My personal opinion—that I foresee is worth about a hill of beans, or a quarter of a hill—is as far as I’m concerned, when Coltrane died everybody said “whew!” As far as the jazz world, that’s what I believe. Because when Trane was alive, those who were in the front, at the vanguard, were busy pursuing music. When John stepped out it went in a lot of different directions, including Miles. I may get a lot of heat for even making that statement, but that’s how I feel about it.

    Was Miles pressured? I don’t know. Miles said he wanted the crowds Hendrix and those cats had—twenty thousand people and whatnot. And probably somewhere in Miles’ psyche he was saying “How in the world can those cats be drawing those crowds when this music here is as bad as it is?” Because there was no doubt that jazz was stepping into some incredible frontiers. Whatever you could think of was being played. But like art in general, it got swallowed up in the business. But the business may be the result of the people. People get caught up in an easier way. Nobody wants to do geometry or trigonometry—maybe a little adding and subtracting. I don’t know if that’s a good analogy.
    _____________________

    http://www.adammansbach.com/other/fortune.html

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #163: Neuentdeckungen aus dem Katalog von CTI Records (Teil 2), 13.5., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #9118417  | PERMALINK

    Anonym
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    Go1Ich will die Antwort nicht schuldig bleiben (obwohl sie nicht hierher gehört) und werfe provisorisch ein paar Antithesen hin.

    Danke dafür – und Du hast recht: Der Thread ist, sein Kernthema betreffend, zu interessant, um ihn mit einer Paralleldiskussion zu belasten (dafür ein „Entschuldigung“ in die Runde). Vielleicht mal an anderer Stelle oder in einem eigenen Motown-Thread mehr zu Deinen Antithesen, die ich für durchweg bedenkenswert halte, wenn ich auch den Punkten 1 und 2 in einer ausführlicher begründeten Antwort widersprechen und bei Punkt 3 mindestens für Differenzierung werben wollte.

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    #9118419  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    bullschuetzDanke dafür – und Du hast recht: Der Thread ist, sein Kernthema betreffend, zu interessant, um ihn mit einer Paralleldiskussion zu belasten (dafür ein „Entschuldigung“ in die Runde). Vielleicht mal an anderer Stelle oder in einem eigenen Motown-Thread mehr zu Deinen Antithesen, die ich für durchweg bedenkenswert halte, wenn ich auch den Punkten 1 und 2 in einer ausführlicher begründeten Antwort widersprechen und bei Punkt 3 mindestens für Differenzierung werben wollte.

    Was es bei Punkt 2 zu widersprechen gibt, begreife ich nicht – wenigstens nicht am ersten, von mir gefetteten Satz:

    Go1Zweitens ist der großartige Teil der Produktion durch die versammelten Talente und Mühen der beteiligten Musiker möglich gemacht worden und durch nichts anderes. Diese Kombination von Leuten wäre womöglich unter anderen Umständen, ohne Kommerzdruck, noch kreativer (weil freier und abenteuerlustiger) gewesen – wie willst Du das ausschließen? Sie hätten dann jedenfalls weniger Konfektionsware produziert und weniger Zeit mit der Ausbeutung von Erfolgsformeln verschwendet.

    Die Diskussion mit den äusseren Umständen, dem Druck und ihrem Einfluss auf die Kreativität muss man – wie so manches – im Einzelfall führen (den jungen Marvin Gaye hat das vermutlich ziemlich fertig gemacht, irgendwann hatte er … was denn, Marktmacht? genug und zeigte er Gordy den Finger … aber irgendwelchen Girl-Groups – das soll jetzt nicht abschätzig klingen, ich kenne mich da einfach viel zu wenig aus, um spezifischer zu werden -, die quasi für das bereits laufende, geölte System gecastet wurden, tat der Enge Rahmen möglicherweise gut, ja ermöglichte überhaupt erst, dass sie als Teil von gelungenen Produktionen mitwirken konnten … es ist ja doch etwas anderes, ob man immer schon in der Kirche gesungen hat oder so (und dann irgendwann den „break“ erleben durfte, entdeckt wurde, vor eine fertig orchestrierte Maschinerie gesetzt wurde und Erfolg hatte), oder ob man Jahrelang mit Big Bands durch die Lande tingelte oder sich in R & B- oder Blues-Bands verdingte, um den steinigen Weg des Jazzmusikers einzuschlagen (bei dem man abgesehen von Momenten im Studio stets selbst die vollständige Verantwortung in künstlerischen – und geschäftlichen – Belangen übernahm, ob man nun wollte oder nicht). Auch da greift der Vergleich nicht … dennoch, die Frage, ob Druck, Zwänge, vorgegebene Rahmenbedingungen einen Musiker anspornen oder behindern, ist eine interessante, die durchaus in die vorliegende Diskussion passt. Aber ich bin wie gesagt der Ansicht, dass sich dafür keine eindeutigen Antworten finden lassen. Um nochmal ECM zu nennen: das Art Ensemble of Chicago kam mit dem Label offenbar klar … Lester Bowie und Roscoe Mitchell nahmen auch eigene Alben für Eicher auf (Mitchell tut das immer noch bzw. tat es zuletzt vor wenigen Jahren) … Dewey Redman oder Sam Rivers wiederum kamen damit offensichtlich nicht klar, ihre jeweils einzigen Alben bleiben auch beide etwas unter den Erwartungen, gerade Rivers hat in derselben Zeit anderswo erfolgreichere (künstlerisch – und klar ist das Geschmacksache, aber hey!) Alben aufgenommen – aber dafür nicht von der Publizität profiziert, die er mit ein paar ECM-Produktionen hätte erreichen können. Warum es bei den beiden nicht zu weigeren Alben kam, weiss ich nicht … vielleicht waren die beiden eingespielten auch einfach nicht gut genug, verkauften sich nicht oder was weiss ich, Redman war als Sideman von Keith Jarrett auch sonst im Dunstkreis von ECM unterwegs damals … aber es sollte halt nicht sein (schöner gewesen wäre es sowieso, wenn die guten Leute von Enja oder auch die von Black Saint ihm etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätten, beide verfolgten eine „schwärzere“ Ästhetik, in die er besser passte, und wenigstens mit dem Duo-Album mit Ed Blackwell, „Red and Black“ auf Black Saint resultierte da auch ein wirklich gutes Album).

    Im Licht der ganzen Diskussion – in Sachen Leidensdruck usw. – finde ich die Aussagen von Sonny Fortune jedenfalls sehr interessant. Klar, auch das ist nur eine Meinung unter vielen, Fortune bezeichnet sich anderswo im Interview auch als „crazy“ und sagt in anderen Worten und lachend, dass er wohl kompromissloser als manch anderer gewesen sei … dennoch, der Mann war in den Siebzigern einer der allerbesten Saxophonisten, wie man auf einigen Aufnahmen hören kann, die er als Sideman gemacht hat. Aber ist irgendwas von ihm als Leader wirklich bekannt, was auch richtig gut ist, bzw. was seine eigene Auffassung des Jazz widerspiegelt? Fehlanzeige. Aber mehr Handy-Dandy-Männer und Grover Washingtons brauchte die Welt auch nicht … es gibt aus der Zeit natürlich auch faszinierende Entdeckungen zu machen heute, man findet auf Blogs manch ein Album, auf dem ein paar Perlen versteckt sind – aber auch zahllose, auf dem Stimmen zu hören sind, die im Umfeld der Produktion völlig verloren und verschenkt sind … dass einige Jahre später ein Backlash einsetzte, der akustische Jazz im Gefolge des Aufstiegs von Wynton Marsalis sich zurückmeldete, überrascht so gesehen kaum. Bloss verrannte man sich da bald auch wieder in eine Sackgasse – oder das war von Anbeginn eine Sackgasse, was weiss ich … heute ist die Szene ja zum Glück vielseitiger, seit den Neunzigern wird auch an elektrische Spielweisen angeknüpft auf eine Art und Weise, in der die Musik fortgesponnen wird … wobei die stilistische Zersplitterung sich auch auf dem Markt widerspiegelt – es gibt eine unüberschaubare Menge an Labeln und Releases, das Produkt ist in dem Sinne entwertet, als dass es oft nur noch als Visitenkarte dient, als Türöffner, um überhaupt in den Clubs und Säälen auftreten zu können – aber als Einnahmequelle taugt das Album heute in den allermeisten Fällen fast gar nichts mehr.

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    nail75

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    Go1Zweitens ist der großartige Teil der Produktion durch die versammelten Talente und Mühen der beteiligten Musiker möglich gemacht worden und durch nichts anderes. Diese Kombination von Leuten wäre womöglich unter anderen Umständen, ohne Kommerzdruck, noch kreativer (weil freier und abenteuerlustiger) gewesen – wie willst Du das ausschließen?

    Will ich nicht, aber deine obige Sichtweise halte ich nicht nur für einseitig, sondern in dieser Absolutheit für falsch. Wenn man sich anhört, was Musiker zustandebringen, die sich keine Produzenten leisten können, dann ist es häufig so, dass die zusätzliche Freiheit ihnen keineswegs immer guttut. Beispielsweise hat der Keyboarder noch ein Solo, das er gerne auf der Aufnahme hätte, was im Sinne der Banddemokratie hilfreich ist, künstlerisch aber nicht. Da würde ihnen ein Produzent helfen, der sagt: „Junge ist ja schön, aber das lassen wir einfach weg.“ Wer ein Label mit einer klaren künstlerischen Linie und einem Produzenten Vorgaben macht, dann ist das keinesfalls schädlich – es kann sogar ausgesprochen nützlich und der künstlerischen Kreativität förderlich sein. Und die allermeisten Musiker hätten ohne das Label nicht zusammengefunden, weil niemand ihre Aufnahmen bezahlt hätte.

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    gypsy-tail-wind
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    nail75Will ich nicht, aber deine obige Sichtweise halte ich nicht nur für einseitig, sondern in dieser Absolutheit für falsch. Wenn man sich anhört, was Musiker zustandebringen, die sich keine Produzenten leisten können, dann ist es häufig so, dass die zusätzliche Freiheit ihnen keineswegs immer guttut. Beispielsweise hat der Keyboarder noch ein Solo, das er gerne auf der Aufnahme hätte, was im Sinne der Banddemokratie hilfreich ist, künstlerisch aber nicht. Da würde ihnen ein Produzent helfen, der sagt: „Junge ist ja schön, aber das lassen wir einfach weg.“ Wer ein Label mit einer klaren künstlerischen Linie und einem Produzenten Vorgaben macht, dann ist das keinesfalls schädlich – es kann sogar ausgesprochen nützlich und der künstlerischen Kreativität förderlich sein. Und die allermeisten Musiker hätten ohne das Label nicht zusammengefunden, weil niemand ihre Aufnahmen bezahlt hätte.

    Popmusik ist ohne Kommerz nicht denkbar. Vergessen wir das nicht.

    Das kann man aber alles so auch nur (falls überhaupt) im Hinblick auf Pop stehen lassen – ansonsten halte ich das, ähm, „nicht nur für einseitig, sondern in dieser Absolutheit für falsch.“ ;-)

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    gypsy tail windWas es bei Punkt 2 zu widersprechen gibt, begreife ich nicht – wenigstens nicht am ersten, von mir gefetteten Satz.

    Kurz und vereinfacht ausgedrückt: Motown hat die Talente verschiedener Musiker zusammengebracht – ohne Motown hätten die Funk Brothers nicht quasi im Nine-to-Five-Modus gearbeitet, sondern hier in einem Club gejazzt, dort mal bei einer mehr oder weniger gut organisierten Aufnahmesession mitgemacht; und diese formidabel funktionierende Backing-Band stand wiederum Acts zur Verfügung, die sonst teilweise wohl niemals an eine derartig gut geölte Maschine rangekommen wären (ich sag nur nochmal: James Jamerson!). Motown suchte für verschiedene Acts die jeweils passenden Songschreiber und Produzenten, schnürte funktionierende Pakete – dieses Teamwork, diese arbeitsteilige Produktionsweise ist ein Wesenszug von Motown, der mir nur sehr unscharf beschrieben scheint, wenn man sagt: Da waren halt Musiker mit Talent, und die haben sich Mühe gegeben.

    Entschuldigung, das war jetzt aber wirklich nicht meine Schuld, dass wir schon wieder bei Motown landen.

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    #9118427  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Ich glaube bloss, der zentrale Punkt ist weiterhin: trotz all den Bemühungen von Label-, Produzenten-, A&R-, Songwriter-Seite: ohne talentierte Musiker wäre nichts draus geworden. Das ist die Basis und ich denke das war es auch, worauf Go1 hinaus wollte.

    @nail: nochmal, es geht hier ja v.a. um Jazz, und die Formationen, die im Studio Platten einspielten waren ja in der Tat oft extra für die Sessions zusammengestellt …. aber dass die sonst nicht zusammen gespielt haben, nie hätten (wenn es das ist, was Du mit „zusammenfinden“ meinst), stimmt dennoch in sehr vielen Fällen schlichtweg nicht.

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    #9118429  | PERMALINK

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    gypsy tail windDas kann man aber alles so auch nur (falls überhaupt) im Hinblick auf Pop stehen lassen – ansonsten halte ich das, ähm, „nicht nur für einseitig, sondern in dieser Absolutheit für falsch.“ ;-)

    Dennoch finde ich, dass nails Kommentar zum Kern führt. Motown ermöglichte es, ganz grob gesagt, Gesangs- und Performer-Talenten, auf allen Ebenen mit professionellen Sidekicks arbeiten zu können: Songwriter, Produzenten, Backingband, Tanz- und Gesangslehrer, PR-Abteilung etc pp. Manche sind in diesem einerseits extrem fördernden, andererseits natürlich auch rigiden, teilweise auch einschränkenden Betrieb gereift und konnten sich freischwimmen (Marvin Gaye, Stevie Wonder), andere dürften daran zerbrochen sein (die Supremes-Mädchen, die im Schatten von Diana Ross untergingen, etwa). Man kann den Motown-Produktionsmodus durchaus ambivalent sehen, menschlich wie künstlerisch, Go1 hat das ja getan. Es ergibt aus meiner Sicht aber keinen Sinn, das Gute den Künstlern zuzuweisen, die Talent hatten und sich Mühe gaben, und das Schlechte dem musikapitalistischen Produktionsapparat.

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